Mentalisieren mit Kindern und Jugendlichen (Mentalisieren in Klinik und Praxis, Bd. 3) (eBook)

eBook Download: EPUB
2018 | 2. Auflage
235 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11089-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mentalisieren mit Kindern und Jugendlichen (Mentalisieren in Klinik und Praxis, Bd. 3) -  Maria Teresa Diez Grieser,  Roland Müller
Systemvoraussetzungen
27,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Das Buch stellt die praktisch-therapeutischen Formen der Mentalisierungsförderung in der Behandlung von Kindern und Jugendlichen vor. Es gewährt einen Überblick über verschiedene Felder der mentalisierungsbasierten Arbeit mit jungen Menschen und ihren Bezugssystemen. Dabei vermittelt es spezifische Haltungen, Interventionen und Forschungsergebnisse in therapeutischen Settings und stellt niederschwellige mentalisierungsbasierte Konzepte und Angebote vor. Kinder, die ungünstige Beziehungserfahrungen, emotionale Vernachlässigung, Gewalt oder sogar sexuelle Misshandlung erlebt haben, sind in der Regel in ihrer Mentalisierungsfähigkeit beeinträchtigt. Sie sind ungenügend auf ihre gegenwärtigen und auch alle zukünftigen Sozialbeziehungen vorbereitet und dadurch im weiteren Leben anfällig für traumatisierende Beziehungs- und Bindungserfahrungen. Mentalisierungsbasierte Psychotherapien mit Kindern und Jugendlichen, ihren Eltern und Familien sowie frühzeitige niederschwellige Angebote stellen nachweislich einen hilfreichen Weg zur (Nach-)Entwicklung von Selbstwirksamkeit und der Schlüsselqualifikation des Mentalisierens dar. Junge Menschen können also quasi nachlernen, was in ihrem natürlichen Beziehungsumfeld auf der Strecke geblieben ist.

Maria Teresa Diez Grieser, Dr. phil., Fachpsychologin für Psychotherapie FSP, Psychoanalytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin EFPP. Nach langjähriger Tätigkeit im klinischen Bereich und in der Präventionsforschung ist sie als psychoanalytische Psychotherapeutin und Supervisorin in eigener Praxis in Zürich tätig. Seit 2016 leitet sie den Forschungsbereich und die Angebotsentwicklung in den Kinder- und Jugendpsychiatrischen Diensten St. Gallen.

Maria Teresa Diez Grieser, Dr. phil., Fachpsychologin für Psychotherapie FSP, Psychoanalytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin EFPP. Nach langjähriger Tätigkeit im klinischen Bereich und in der Präventionsforschung ist sie als psychoanalytische Psychotherapeutin und Supervisorin in eigener Praxis in Zürich tätig. Seit 2016 leitet sie den Forschungsbereich und die Angebotsentwicklung in den Kinder- und Jugendpsychiatrischen Diensten St. Gallen. Roland Müller, Dr. phil., Fachpsychologe für Psychotherapie FSP. Er ist seit langem als Psychotherapie- Supervisor in der Erwachsenen-, Kinder- und Jugendpsychiatrie tätig und war Gründungs- und Leitungsmitglied des Psychoanalytischen Seminars Luzern und des Instituts für Kinder-, Jugendlichen- und Familientherapie Luzern. Er arbeitet dort in eigener Praxis als psychoanalytischer Psychotherapeut. Ulrich Schultz-Venrath, Prof. Dr. med., ist Arzt für Psychosomatik und Psychotherapie (DGPM) und Nervenheilkunde (DGN), Psychoanalytiker (DPV, DGPT, IPA) und Gruppenlehranalytiker (D3G, EFPP, GASI) in eigener Praxis in Köln. Er ist Professor für Psychosomatik an der Uni­versität Witten/Herdecke. Bis 2019 war er Chef­arzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des EVK Bergisch Gladbach. Des Weiteren ist er Sprecher der Herausgeber der Zeitschrift »Gruppenpsychothera­pie und Gruppendynamik – Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gruppenanalyse« und Sprecher des Beirats für Wissenschaft und Forschung der Deutschen Gesellschaft für Gruppenpsychotherapie und Gruppenanalyse (D3G). Herausgeber der Reihe »Mentalisieren in Klinik und Praxis«.

Kapitel 3

Mentalisieren als zentrale elterliche Fähigkeit


Der Mensch entwickelt sich in Beziehungen. Nach Dornes (2000) ist der Säugling das, was die primären Bezugspersonen in ihm sehen können. Winnicott (1960) hatte seinerseits schon entdeckt, dass es den Säugling als solchen nicht gibt: »There is no such a thing as an infant«. Dies bedeutet, dass das Beziehungsangebot der primären Bezugspersonen die Basis für eine gesunde kindliche Entwicklung legt.

Primäre Bezugspersonen der Kinder sind in unserer Gesellschaft trotz gesellschaftlichem Wandel meistens die Eltern oder Ersatzbezugspersonen wie z. B. Pflegeeltern oder professionelle Bezugspersonen in familienergänzenden Betreuungseinrichtungen. In den verschiedenen Kontexten, die den Alltag der Kinder prägen, sind die Fähigkeiten der Bezugspersonen, auf kindliche Bedürfnisse und Signale prompt und feinfühlig zu reagieren, Voraussetzung für die Bindungs- und Selbstentwicklung.

3.1 Übergang zur Elternschaft


Wird ein Kind geboren, werden gleichzeitig Mutter und Vater geboren. Der Übergang zur Elternschaft geht stets mit einer Lockerung innerpsychischer Strukturen einher, was sowohl eine erhöhte Gefährdung für krisenhafte Zuspitzungen als auch eine Chance für Weiterentwicklung darstellt (Diez Grieser 2001). Der Übergang zur Elternschaft wird als eine normative Krise betrachtet, die Veränderungs- und Lernprozesse seitens der Eltern bedarf.

Mit der Geburt eines Kindes wird aus der Dyade, die das Paar gebildet hat, eine Triade. Ob der für die gesunde kindliche Entwicklung notwendige trianguläre Beziehungsraum entsteht, ist in hohem Maß abhängig von der triadischen Kompetenz der Eltern, welche die Beziehungsregulation in einem Dreieck real anwesender Personen ermöglicht (Lebovici 1993). Dabei sind Triangulierungskonflikte im Übergang zur Elternschaft ein häufiges Phänomen.

Das elterliche Beziehungsangebot wird zunächst weitgehend durch die eigenen Erfahrungen bestimmt. Zusätzlich haben sich bereits in der pränatalen Phase unbewusste Phantasien über das ungeborene, imaginäre Kind entwickelt. Diese Phantasien müssen im Laufe der Schwangerschaft und insbesondere nach der Geburt des realen Kindes überarbeitet und angepasst werden (Schon 1995, S. 27). Wenn dieser Prozess ausbleibt, kann das imaginierte Kind die Beziehungsentwicklung zum realen Kind beeinträchtigen. Bei genügender Flexibilität und Reflexivität der Eltern werden hingegen die Interaktionen mit dem realen Kind als neue Erfahrungen in Form von Objekt- bzw. Selbstrepräsentationen verinnerlicht. Die Geburt des Kindes führt bei der Mutter zum Aufbau einer psychischen Organisation, die Daniel Stern »Mutterschaftskonstellation« nannte. Diese aktiviert die Auseinandersetzung mit der eigenen Mutter, mit sich selbst und mit dem Säugling, was eine weitere Triade entstehen lässt: Mutter der Mutter – Mutter – Baby (Stern 1998, S. 209). Das Neugeborene konfrontiert die Mutter mit hoher Schutzbedürftigkeit und Abhängigkeit, was gleichzeitig den persönlichen Autonomie- Abhängigkeits-Konflikt mit der eigenen Mutter reaktiviert (Pedrina 2006, S. 153). Die frühen Bemutterungserfahrungen und die alten Beziehungsschemata mit der eigenen Mutter beeinflussen die Gefühle und die Beziehung zum eigenen Kind (Stern 1998, S. 223).

Die empirische entwicklungspsychologische Forschung konnte in den letzten 15 Jahren zeigen, dass es zwischen Bindung, Selbstentwicklung und der Fähigkeit zu mentalisieren komplexe Wirkzusammenhänge gibt (Fonagy et al. 2002; Gergely & Unoka 2008). Es ist deutlich geworden, dass nicht nur eine sichere Bindung, sondern auch die elterliche Fähigkeit zu mentalisieren einen der wesentlichen protektiven Faktoren für die psychische Gesundheit und gelingende Entwicklung eines Kindes darstellt (Bateman & Fonagy 2012). Neugeborene sind nicht in der Lage, ihre emotionalen Zustände zu regulieren, weshalb sie auf die Regulation von außen angewiesen sind. Unter genügend guten Bedingungen können Eltern das Erregungsniveau und die emotionale Befindlichkeit ihrer Kinder wahrnehmen und durch passende Reaktionen regulieren (Howe 2005). So beginnt das Kind eine Vorstellung über innere und äußere Realität und eine Bindungsrepräsentation zu entwickeln. Die entstehende sichere Bindung sowie die mit der Entwicklung zunehmende Fähigkeit des Kindes, über die eigenen mentalen Zustände sowie diejenigen der anderen nachdenken zu können, ermöglicht dem Kind die Entwicklung von Selbstwirksamkeit, ein klares Selbstgefühl sowie die Erfahrung, sich selbst zu regulieren (Fonagy & Allison 2014).

Aus einer bindungstheoretischen Perspektive bedeutet Elternschaft eine intensive Entwicklungserfahrung. Indem die Eltern in einen für sie neuen Beziehungsprozess »einsteigen«, der durch eine mentalisierende Position charakterisiert ist und den Aufbau einer vertrauensvollen Atmosphäre ermöglicht, entstehen gemeinsame Konstruktionen des Zusammenseins.

Die fruchtbare Entwicklung der Mentalisierungstheorie und -praxis der letzten Jahre hat weiterhin dazu geführt, dass Phänomene der Bindungstheorie und Säuglingsforschung miteinander verbunden werden und die kindliche Entwicklung als ein Prozess, der sich in Wechselwirkung mit den primären Bezugspersonen vollzieht, besser verstehbar wird. In Kapitel 2 lag das Augenmerk auf der Entwicklung der Kinder. Im dritten Kapitel soll der elterliche Beitrag zur gelingenden Entwicklung des Kindes im Zentrum stehen, wobei eine integrative Perspektive eingenommen wird, die sowohl die relationale als auch die transaktionale Sichtweise berücksichtigt. Das Transaktionsmodell von Sameroff (2009) beschreibt das Zusammenspiel zwischen elterlichen und kindlichen Faktoren als dynamisch und voneinander abhängig. In dem Modell wird hervorgehoben, dass sich die Faktoren aufgrund ihres gegenseitigen Einflusses verändern können. Dieser zunächst offensichtlich erscheinende Wirkmechanismus muss im Einzelfall mit hoher Denkdisziplin und systemischer Haltung bedacht und beschrieben werden. Im folgenden Beispiel wird dies näher illustriert.

Beispiel: Die 35-jährige Patientin, die seit knapp einem halben Jahr wegen Infertilität in psychotherapeutischer Behandlung ist, berichtet, dass sie nun endlich schwanger geworden sei. Sie sei sehr froh, dass sie doch keine In-Vitro-Fertilisation habe machen müssen. Sie wisse, dass das Kind sich eben den richtigen Moment ausgesucht habe, und dieser sei eindeutig jetzt, da sie gerade ihre Stelle gekündigt habe. Im Laufe der nächsten Monate führt die intensive Beschäftigung mit dem imaginierten, noch ungeborenen Kind bei der Mutter zu dem konkreten Bild eines selbstgenügsamen Kindes, welches sich ohne Probleme in ihren Alltag einpassen können wird. Die Patientin möchte auch nach der Geburt ihr reges soziales Leben sowie ihre persönlichen Interessen pflegen und phantasiert, dass das Kind – idealerweise ein Mädchen – auch gerne mit ihr unterwegs sei. Die Patientin ist als Mädchen mit drei Brüdern aufgewachsen und sehnt sich seit je her nach einer Schwester, mit der sie alles teilen kann. Versuche der Therapeutin, die sehr konkreten und ausgesprochen narzisstischen Vorstellungen der werdenden Mutter zu bearbeiten, werden von dieser abgewehrt. Schließlich bricht sie zwei Monate vor der Geburt ihres Kindes die Behandlung ab. Zweieinhalb Jahre später meldet sie sich erneut, da sie an Ängsten leide und sich zunehmend hoffnungslos und traurig fühle. Im ersten Gespräch berichtet die Patientin von der schwierigen Geburt ihres Sohnes sowie über ein anstrengendes erstes Jahr, da der Säugling viel geschrien und wenig geschlafen habe. Sie habe in der Zeit häufig an unsere Gespräche denken müssen. Es sei ihr zunächst sehr schwer gefallen, sich von ihrem »phantasierten Mädchen« zu verabschieden und sich auf ihren Sohn einzulassen. Sie habe lernen müssen, dass es für ihn besser sei, wenn sie nicht zu viel unternehme und es genügend Ruhe und Rückzugsmöglichkeiten im Alltag gebe. Dies habe sich nun gut eingespielt. Er besuche seit kurzem eine Waldspielgruppe, habe dort jedoch Mühe, seinen Platz zu finden und sich einzugewöhnen. Er verhalte sich eher »weiblich«, möge den Schmutz nicht, könne sich – obwohl er gut entwickelt und körperlich groß sei – nicht gegen die anderen Jungen durchsetzen. Sie habe Schwierigkeiten, ihn gehen zu lassen, und werde von Ängsten überfallen, dass ihm etwas zustoßen könnte.

Dieses Beispiel veranschaulicht...

Erscheint lt. Verlag 28.8.2018
Reihe/Serie Mentalisieren in Klinik und Praxis
Mitarbeit Herausgeber (Serie): Ulrich Schultz-Venrath
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie Allgemeine Psychologie
Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Psychiatrie / Psychotherapie
Schlagworte emotionale Vernachlässigung • Entwicklungspsychologie • Fonagy • Jugendhilfe • Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie • Kinder- und Jugendpsychiatrie • Klinische Psychologie • Klinische Psychotherapie • MBT • Mentalisation • Mentalisierung • Mentalisierungsbasierte Therapie • mentalisierungsgestützte Therapie • Mentalisierungsstörung • Mentalisierungstheorie • Nervenheilkunde • Pädagogik • Prävention • Psychoanalyse • Psychodynamische Therapie • Psychologie • Psychologische Beratung • Psychosomatik • Psychosomatische Medizin • Psychosomatische Therapie • Psychotherapeutische Medizin • Psychotherapie • Ressourcen • Schultz-Venrath • Seelsorge • Sexuelle Gewalt • Sexueller Missbrauch • sichere Bindungserfahrung • Soziale Kompetenz • Supervision • Trauma • Traumastörung • Traumatisierung
ISBN-10 3-608-11089-5 / 3608110895
ISBN-13 978-3-608-11089-0 / 9783608110890
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Psychotherapien wirksam gestalten

von Ulrich Schultz-Venrath

eBook Download (2014)
Klett-Cotta (Verlag)
38,99
Basiswissen für Therapie, Beratung und Pädagogik

von Lydia Hantke; Hans-Joachim Görges

eBook Download (2023)
Junfermann Verlag
51,99