Dimensionen der Mittäterschaft (eBook)

Die europäische Kollaboration mit dem Dritten Reich
eBook Download: EPUB
2019 | 2. Auflage
666 Seiten
Böhlau Verlag
978-3-205-20876-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Dimensionen der Mittäterschaft -  Klaus Kellmann
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Dass zum europäischen Faschismus und Nationalsozialismus, der wohl am meisten durchforschten Epoche der Weltgeschichte, fast 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bislang noch keine Gesamtdarstellung der europäischen Kollaboration mit dem Dritten Reich vorlag, kann mit Fug und Recht als großes, vielleicht sogar größtes Desiderat zu diesem historischen Problemkomplex angesehen werden. Klaus Kellmann hat sich der sensiblen Aufgabe gestellt, und er beschränkt sich nicht auf die Einzelanalysen aller 24 Staaten, die bis 1944/45 der deutschen Terrorherrschaft unterworfen waren. Im Schlusskapitel 'Europäisches Gedächtnis und europäische Identität' bringt er seine Forschungsergebnisse in die Gestaltung des Europa von Morgen ein: Ohne schonungslose Aufarbeitung und Vergewisserung der Kollaboration mit dem Dritten Reich wird es kein gemeinsames europäisches Narrativ und keine gemeinsame europäische Erinnerungskultur geben - jenes große Projekt, mit dem die Geschichtswissenschaft auf dem Alten Kontinent in den nächsten Jahren und Jahrzehnten zentral und entscheidend befasst sein wird.

Österreich

Wann wurde Österreich zu Österreich? Wann wurden aus den österreichischen Deutschen deutsche Österreicher? Wann wurde aus der Kultur- und Staatsnation eine ethnisch eigenständige, autochthone Nation Österreich? Und vor allem: Wann begann und wann endete dieser Prozess?

Wenn es tatsächlich stimmt, und der diesbezügliche Konsens verbreitert sich in der europäischen Geschichtswissenschaft von Tag zu Tag, dass der eigentliche Moment der eigentlichen österreichischen Nationswerdung just in dem Zeitraum liegt, in dem dieses Land nicht an der Seite, sondern zusammen mit Hitlerdeutschland mehrheitlich gewollt und begeistert in den größten Rassen- und Vernichtungskrieg der Weltgeschichte eingetreten ist, dann haben wir es hier gleichzeitig mit einer der größten Paradoxien der Weltgeschichte zu tun: Österreich, die Kollaborationsnation schlechthin, findet im Moment des geplanten und unbegrenzten Mittuns zu sich selbst. Um Derartiges zu verstehen, ist ein Blick in die Geschichte vonnöten.

„Über die Frage, ab wann vom Einsetzen einer nationalen Sonderentwicklung der Österreicher gesprochen werden könne, gehen die Meinungen um mehr als ein Jahrtausend auseinander.“1 Der Name Ostarrîchi als Bezeichnung für die „Ostmärker“ im Rahmen der deutschen Ostkolonisation taucht 966 zum ersten Mal auf. Das berühmte „privilegium minus“, mit dem Friedrich Barbarossa 1156 die Ostmark von Bayern abtrennte, musste ganzen Historikergenerationen als Beginn angeblicher österreichischer Eigenständigkeit herhalten, in Wirklichkeit ist mit ihm die Zugehörigkeit zum deutschen Königreich nie in Frage gestellt worden, auch nicht unter den ab 1440 herrschenden Habsburgern. Der Savoyer Prinz Eugen, der einen Zweifrontenkrieg gegen die Türken wie auch gegen das Frankreich Ludwigs XIV. erfolgreich überstand und deshalb für einige bereits zum „Erschaffer“ Österreichs avancierte, wird ausgerechnet von Hugo von Hofmannsthal als „deutscher Nationalheld“ deklariert. Maria Theresias Sohn Joseph erhob das Wiener Burgtheater 1776 zum deutschen Nationaltheater. Im 1815 „auf ewige Zeiten“ geschlossenen Deutschen Bund ist Wien und nicht Berlin die Führungsposition eingeräumt, aber die „ewigen Zeiten“ währen nur 41 Jahre. Es ist Österreich, das dem abtrünnigen Preußen 1866 den Krieg erklärt, mit dem ausdrücklichen Ziel der Wiederherstellung des Deutschen Bundes in seiner alten Struktur. Die Niederlage von Königgrätz ist die erste Weggabelung, Österreich wird mit Waffengewalt aus dem staatsrechtlichen Zusammenhang mit dem übrigen Deutschland herausgedrängt, aber der Impuls kam von außen, nicht von innen. Kaiser Franz Joseph erklärt ausdrücklich: „Ich bin vor allem Österreicher, aber entschieden deutsch und wünsche den innigsten Anschluss an Deutschland“2, und schließt 1879 mit Bismarck den Zweibund, eine „Beziehung besonderer Art“. Bürgermeister Karl Lueger lässt 1900 im Gemeindestatut Wiens für die Verleihung der Bürgerrechte das Gelöbnis verankern, „den deutschen Charakter der Stadt“ nach Kräften zu fördern. Dennoch saß die Demütigung von 1866 tief. Im beschaulichen Gänserndorf, vor den Toren von Wien, hatte der preußische Kapellmeister Johann Gottfried Piefke unmittelbar nach dem Sieg seinen „Königgrätzer Marsch“ erklingen lassen. Der Name des Mannes wird zur Chiffre eines zunächst allerdings noch schleichenden und latenten Absonderungsprozesses.

In den Ersten Weltkrieg ging es bereits wieder mit Blankoscheck, Waffenbrüderschaft und Nibelungentreue. Im Verein mit den Hohenzollern hielten sich die Habsburger für unbesiegbar, und außerdem war dies der beste Weg, 1866 zu vergessen. Doch das Bündnis sah sich bald erheblichen Spannungen ausgesetzt. Die Kampfmoral der k.u.k. Truppen ließ mehr und mehr zu wünschen übrig, Desertionen und Flucht an ihren Frontabschnitten häuften sich. Die Klagen der deutschen Generalität über die lasche Disziplin des „Kameraden Schnürschuh“ wurden immer lauter, man empfand die „schlappen Österreicher“3 zusehends als Klotz am Bein. Spätestens Ende 1917 klafften im Zweibund derartige Risse, dass von einem gemeinsamen militärischen und politischen Vorgehen kaum noch die Rede sein konnte. Die „Sixtus-Affäre“, geheime französische Friedensfühler in Richtung des österreichischen Kaisers Karl I., kettete diesen nach ihrem Bekanntwerden und Scheitern nur noch enger an Wilhelm II., seinen Nibelungenfreund in Berlin, und unterwarf die Armeen der Doppelmonarchie de facto dem preußisch-deutschen Oberkommando. Dieses aber traute den unsicheren Kantonisten im Süden so wenig, dass sehr wohl gefechtsbereite österreichische Divisionen nicht zur Entscheidungsschlacht an die Westfront transferiert, sondern in der Reserve belassen wurden – im Urteil der jüngeren Militärgeschichtsschreibung eine gravierende Ursache für die Niederlage der Mittelmächte im Spätherbst 1918.4

Doch als die Waffen schwiegen, war das Zerwürfnis vergessen, sowohl in der großen Politik wie auch im Volk. Im Gegenteil: der Anschluss an Deutschland wurde als die einzig realistische Zukunftsperspektive gesehen, und die treibende Kraft waren hier die Linksparteien. Der Sozialist Victor Adler reagiert auf die Proklamation der Weimarer Republik am 9. November 1918 mit den Worten: „Wir haben die Pflicht, gegenüber diesem Ereignis sofort, schon in unserer Eigenschaft als Deutsche, Stellung zu nehmen.“5 Sogar die Kommunisten hatten sich sechs Tage zuvor ausdrücklich als „Kommunistische Partei Deutschösterreichs“ konstituiert. Am 12. November wird im Wiener Parlament die Republik „Deutschösterreich“ ausgerufen und im selben Atemzug zum „Bestandteil der Deutschen Republik“ erklärt. Man wollte also keinen unabhängigen Staat, sondern den Zusammenschluss aller von Deutschen bewohnten Gebiete des verblichenen Habsburgerreiches mit dem ausdrücklichen Ziel der Vereinigung dieses Territoriums mit dem Deutschen Reich – der Unterlegene forderte einen Machtkoloss in der Mitte Europas, der von Tirol bis Tilsit und von Flensburg bis vor die Tore Pressburgs gereicht hätte, denn die Sudetendeutschen hatten in Reichenberg bereits eine deutsch-böhmische Landesregierung gebildet. Die „Innsbrucker Nachrichten“ veranstalteten eine Umfrage, wie der eigene, in die Riesenrepublik einzubringende Teil benannt werden sollte. Die eingereichten Vorschläge lauteten „Hochdeutschland“, „Deutsches Bergreich“, „Treuland“ oder „Donau-Germanien“, nur ein Name tauchte nicht auf: Österreich.6 Bereits in den ersten Tagen seines Amtierens beschloss der Kabinettsrat der neuen Wiener Regierung die Entlassung nichtdeutscher Personen aus dem Staatsdienst. In einem am 2. März 1919 vereinbarten Geheimprotokoll zwischen Otto Bauer, dem Staatssekretär für Auswärtige Angelegenheiten, und dem Reichsaußenminister Graf Brockdorff-Rantzau wird „eine Art Vorvertrag über den zukünftigen Zusammenschluss“7 vereinbart. Über Staatsrecht, Handelspolitik, Währung und Verkehr sollte gemeinsam befunden werden, der Sitz des Reichspräsidenten sollte zwischen Berlin und Wien alternieren.8 Bauer war der führende Theoretiker des Austromarxismus und von 1918 bis 1934 stellvertretender Vorsitzender der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs (SDAP), jener Partei, aus der die Persönlichkeit kam, für die das Zusammengehören von Deutschen und Österreichern innerhalb eines Volkes schlichtweg einer Schicksalsgemeinschaft glich: Karl Renner, der erste Staatskanzler der Ersten und der erste Bundespräsident der Zweiten Republik.

Karl Matthias Renner wurde 1870 als achtzehntes Kind einer völlig verarmten Bauernfamilie im Südmährischen geboren. Er besteht die Aufnahmeprüfung für das Gymnasium, muss aber, um es zu erreichen, täglich einen dreistündigen Fußweg zurücklegen. Die Versteigerung des Elternhauses wird zu seinem politischen Erweckungserlebnis. „Das Leben und Leiden des Proletariats waren fortan mein eigenes.“9 Seine Gattin Luise verbat sich noch nach 1945, als „Frau Bundespräsident“ angesprochen zu werden. Von 1907 an ist er Reichs-, von 1920 bis 1934 Nationalratsabgeordneter. 1945 ist er maßgeblich an der Wiederbegründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei als Sozialistische Partei Österreichs (SPÖ) beteiligt. Maßgebliche Historiker sind sich darin einig, dass Renner bis zu seinem letzten Atemzug am Silvesterabend des Jahres 1950 die Existenz einer eigenständigen österreichischen Nation bestritten hat. Seine späten, scheinbar in diese Richtung gehenden Bekenntnisse seien vielmehr taktisch-opportunistischer Natur, „vielleicht sogar auch bloß vorläufig formuliert“10 gewesen, und sein ganzes Misstrauen, wenn nicht seine Verachtung galten jener Nation, die die „Heimkehr des lange abwesenden Verwandten in die gemeinsame Familie“11 nach dem Ersten Weltkrieg mit aller Macht verhindert hatte, nämlich Frankreich.

„Der Rest heißt Österreich“, mit diesem lapidar-zynischen Satz beendete der französische Ministerpräsident Georges Clemenceau am 2. September 1919 in St.Germain bei Paris die Auflösung, genauer: die Zerstückelung des untergegangenen Vielvölkerstaates an der Donau, „eine der verhängnisvollsten Amputationen des 20. Jahrhunderts“12. Der neue, von außen erzwungene Staat musste das Wort „deutsch“ aus seinem Namen streichen und bekam das kategorische Anschlussverbot auferlegt. Das war angesichts des ein Jahr vorher von dem amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson im Rahmen seiner berühmten „vierzehn Punkte“ verkündeten Selbstbestimmungsrechts der Völker ein bemerkenswerter Vorgang; denn den Polen, Rumänen, Südslawen und Italienern, die unter der Herrschaft Wiens gestanden...

Erscheint lt. Verlag 21.1.2019
Verlagsort Göttingen
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Allgemeine Geschichte 1918 bis 1945
Schlagworte Drittes Reich /Allg. Geschichte • Erinnerungskultur • Europa • Faschismus • Identität • kollektive Erinnerung • Nationalsozialismus • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-205-20876-5 / 3205208765
ISBN-13 978-3-205-20876-1 / 9783205208761
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