Erotischer Humanismus (eBook)

Zur Philosophie der Geschlechterbeziehung
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
240 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60059-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Erotischer Humanismus -  Julian Nida-Rümelin,  Nathalie Weidenfeld
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Diskriminierung im Zeitalter von #MeToo, Catcalling, Manspreading, Sexismus - nur wenige Themen finden gegenwärtig ein solches Maß an Aufmerksamkeit wie diese, wohl auch deswegen, weil vieles im Umbruch ist. Speziell die westlichen Gesellschaften, aber auch ein großer Teil der nicht-westlichen Weltbevölkerung, befindet sich in einer Art Suchbewegung, stellt Althergebrachtes in Frage, ohne genau zu wissen, was an seine Stelle treten soll. Konfrontationen und Verunsicherungen sind die Folge. Dieses Buch diskutiert ethische und philosophische Aspekte der Geschlechterbeziehungen. Es plädiert für einen Erotischen Humanismus, für ein humanes und kooperatives Verhältnis der Geschlechter und eine entspannte Erotik, für gleichen Respekt und gleiche Anerkennung, für das Recht auf Privatheit und Differenz, damit alle Menschen - unabhängig von ihrem Geschlecht und ihrer Lebensform - Autorinnen und Autoren ihres Lebens sein können.

Julian Nida-Rümelin gehört zu den renommiertesten deutschen Philosophen und public intellectuals. Er lehrte Philosophie und politische Theorie in Tübingen, Göttingen, Berlin und München, sowie als Gastprofessor in den USA, Italien und China. Er war Kulturstaatsminister in der ersten rot-grünen Bundesregierung. Er ist Gründungsrektor der Humanistischen Hochschule Berlin, stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Ethikrates und Direktor am bayerischen Forschungsinstitut für digitale Transformation. 

Julian Nida-Rümelin zählt zu den »einflussreichsten Intellektuellen Deutschlands« (Focus). Er lehrt Philosophie in München. Nathalie Weidenfeld studierte amerikanische Kulturwissenschaft. Sie ist Autorin verschiedener Romane und Sachbücher.

1 Hirn auf zwei Beinchen – Entwürdigung


Nehmen wir an, Sie schlagen heute Morgen die Bild-Zeitung auf und lesen folgenden Text:

DR. NATHALIE W. (38) KLAGT AN: GENUG IST GENUG! EIN OFFENER BRIEF

In einer Zeit wie dieser, in der Frauen den Mut finden, sich öffentlich über die erniedrigenden Behandlungen, die ihnen Männer zuteilwerden lassen, auszulassen, fühle ich mich ermutigt, auch mit meiner Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen: Ich, eine attraktive promovierte Kulturwissenschaftlerin im besten Alter, leide seit Jahren an einer diskriminierenden Behandlung, der ich ausgesetzt bin.

Als promovierte Frau hat man es nicht leicht, ständig macht man Bemerkungen über meine Intelligenz, meinen Intellekt und mein Wissen. Warum, frage ich, müssen die Menschen immer nur das eine in mir sehen? Glauben Sie, dass in meinem Umfeld auch nur ein Einziger mal offen Komplimente über meine gute Figur (an der ich, glauben Sie mir, dreimal in der Woche im Fitnessstudio sehr hart arbeite) machen würde? Nur ein einziges Mal traute sich jemand, eine positive Bemerkung über mein Äußeres zu machen. Es war Frau S., eine Nachbarin, und es betraf meinen neuen Haarschnitt. Natürlich haben Männer solche Probleme nicht. Unter Männern ist es üblich, sich über Fortschritte des Muskelaufbaus, Rückgang des Bauchfetts und dergleichen offen auszutauschen und ermutigende Bemerkungen zu machen. Glauben Sie, das würde mal jemand mir gegenüber tun?

Diese Ungerechtigkeit macht mich einfach nur noch wütend. Warum werde ich nur immer wieder auf diesen einen Teil meines Selbst, meinen Intellekt, reduziert. Habe ich nicht auch einen Körper? Beine? Arme? Augen? Einen Mund? Eine schlanke Taille? Einen Busen?

Ich muss Ihnen ein Geständnis machen: Als ich letzte Woche von einem Barbesuch nach Hause kam, fühlte ich mich miserabel: Wieder war ich ausschließlich auf meine Forschungen angesprochen worden, ich hatte den Eindruck, dass meine Antworten, die ich höflich, wie ich bin, gab, niemand verstand, aber die Tatsache, dass ich mir einige Mühe gegeben hatte, unbequeme hochhackige Schuhe und ein körperbetontes Kleid trug, fest entschlossen, einmal etwas mehr Haut zu zeigen, wurde von niemandem bemerkt, oder wenn, dann hielten das alle, ob Männer oder Frauen, vor mir geheim. Auf dem Heimweg ging ich durch die Straßen und spürte meinen Körper nicht mehr, ich hatte das Gefühl, als fleischfarbenes Riesenhirn auf kleinen, dünnen Beinchen durch die Straßen zu gehen. Ich konnte förmlich spüren, wie Passanten mit dem Finger auf mich zeigten und flüsterten: »Schau mal, die da, was für ’n tolles Hirn die hat!«

Nach Jahren des Schweigens, nach Jahren der degradierenden Demütigung, immer nur auf einen Aspekt des Seins reduziert zu werden, bin ich nun bereit, aufzustehen und mein Leid öffentlich zu machen. Genug ist genug! Wir müssen die Reduktion von Akademikerinnen auf ein körperloses Gehirn umgehend beenden. Ich verlange, als ganze Person aus Hirn, Herz und Fleisch Anerkennung zu erfahren und nicht mehr auf meinen Intellekt reduziert zu werden.

 

Wenn Sie diesen Text gelesen haben, werden Sie wahrscheinlich schmunzeln, vielleicht lachen, ihn zumindest recht absurd finden. Jetzt lassen Sie uns das Experiment ausweiten und den folgenden Text lesen:

DR. NATHALIE W. (38) KLAGT AN: GENUG IST GENUG! EIN OFFENER BRIEF

In einer Zeit wie dieser, in der Frauen den Mut finden, sich öffentlich über die erniedrigenden Behandlungen, die ihnen Männer zuteilwerden lassen, auszulassen, fühle ich mich ermutigt, auch mit meiner Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen: Ich, eine attraktive promovierte Kulturwissenschaftlerin im besten Alter, leide seit Jahren an einer diskriminierenden Behandlung, der ich ausgesetzt bin.

Als attraktive Frau hat man es nicht leicht, ständig werde ich auf meinen Körper angesprochen oder das, was ich vermeintlich alles mit meinem Körper machen kann. Warum, frage ich, müssen die Menschen immer nur das eine in mir sehen? Glauben Sie, dass in meinem Umfeld auch nur ein Einziger mal offen Komplimente über meinen Intellekt (mit dem ich, glauben Sie mir, sehr hart arbeite) machen würde? Nur ein einziges Mal traute sich jemand, eine positive Bemerkung über meine Intelligenz zu machen. Es war Frau S., meine einzige Kollegin am Max-Planck-Institut, und es betraf meinen neuen Artikel, den sie gelesen hatte.

Natürlich haben Männer solche Probleme nicht. Unter Männern ist es üblich, sich über ihre neuen Forschungsgebiete und beruflichen Erfolge offen auszutauschen und ermutigende Bemerkungen zu machen. Glauben Sie, das würde mal jemand mir gegenüber tun?

Diese Ungerechtigkeit macht mich einfach nur noch wütend. Warum werde ich nur immer wieder auf diesen einen Teil meines Selbst reduziert? Habe ich nicht auch einen Kopf? Einen Verstand? Eine präzise Sprache?

Ich muss Ihnen ein Geständnis machen: Als ich letzte Woche nach einem Restaurantbesuch nach Hause kam und mich wieder einmal fühlte, als wollte jeder mit mir immer nur entweder über meine Oberweite oder zumindest über meinen neuen Haarschnitt sprechen, bekam ich auf dem Nachhauseweg eine Panikattacke. Ich ging durch die Straßen und spürte meinen Kopf nicht mehr, ich hatte das Gefühl, als hirnloser Körper durch die Straßen zu gehen. Ich konnte förmlich spüren, wie Passanten mit dem Finger auf mich zeigten und flüsterten: »Schau mal, die da, wie geil die aussieht!«

Nach Jahren des Schweigens, nach Jahren der degradierenden Demütigung, immer nur auf einen Aspekt des Seins reduziert zu werden, bin ich nun bereit, aufzustehen und mein Leid öffentlich zu machen. Genug ist genug!«

 

Bestimmt ist Ihnen dieser Text nun weitaus weniger absurd vorgekommen, und das, obwohl inhaltlich lediglich ein Detail verändert wurde. Statt sich über die Erniedrigung aufgrund der Hervorhebung ihrer mentalen Fähigkeiten zu beschweren, hat sich die Icherzählerin über eine Erniedrigung aufgrund der Hervorhebung ihrer physischen Attribute beschwert. Ersteres finden wir absurd, Letzteres nicht. Diese Tatsache sollte uns zu denken geben und Anlass sein, das feministische Leitmotiv, das da lautet, »Männer, die sich bei ihrer Wahrnehmung von Frauen vornehmlich auf deren physische Attribute konzentrieren, entwürdigen sie damit«, kritisch zu hinterfragen.

Der israelische Philosoph Avishai Margalit hat sich intensiv mit einem angemessenen Verständnis menschlicher Würde befasst.[5] Margalit übersetzt das Prinzip der Menschenwürde in das Gebot, niemanden in seiner Selbstachtung existenziell zu beschädigen. Hier stellen sich allerdings zahlreiche Fragen. Manche Menschen fühlen sich zutiefst gekränkt, wenn sie nicht zur Gartenparty des (nicht befreundeten) Nachbarn eingeladen werden. Muss sich der Nachbar deswegen eine Verletzung der Menschenwürde vorwerfen lassen?

Allein die Beachtung körperlicher Merkmale anderer Personen hat als solche noch nichts Kränkendes oder Entwürdigendes an sich. Der menschliche Körper ist als solcher nicht despektierlich. Die Aufmerksamkeit, die Menschen auf körperliche Merkmale richten, ist nicht per se entwürdigend. Entwürdigend kann diese in bestimmten kulturellen Kontexten wirken, zum Beispiel wenn körperliche Merkmale als erotisch aufgeladen empfunden werden und Erotik zugleich als etwas Sündiges gilt, wie in einem katholischen Kloster. Ein christlicher Mönch, der einer christlichen Nonne Komplimente wegen ihrer Oberweite macht, gerät nicht nur in Konflikt mit dem Keuschheitsgelübde, sondern muss damit rechnen, dass er die betreffende Frau kränkt, verletzt oder gar entwürdigt. Der Gang ins Kloster ist für viele verbunden mit einer umfassenden erotischen und sexuellen Entsagung. Als erotisches Wesen adressiert zu werden wird daher Nonnen in vielen Fällen kränken.

Dieselbe Situation in einem Bordell dagegen würde nicht zu einer Kränkung führen. Eine anerkennende Bemerkung eines Bordellkunden gegenüber einer Sexarbeiterin, was ihre Oberweite angeht, wird diese nicht kränken, sondern allenfalls dazu ermuntern, ihm ein konkretes Angebot zu machen. Auch zwei Bodybuilder, die sich...

Erscheint lt. Verlag 10.3.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Ethik
Schlagworte Beziehungskonflikt • Erotik • Erotischer Humanismus • Ethik • Humanismus • Konfliktbewältigung • Konfliktlösung in der Partnerschaft • Liebe • Paarberatung • Paarbeziehung • Philosophie
ISBN-10 3-492-60059-X / 349260059X
ISBN-13 978-3-492-60059-0 / 9783492600590
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