Stumme Schreie (eBook)

Seelische Leiden durch Migration. Plädoyer eines Psychiaters
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
192 Seiten
Echter Verlag
978-3-429-06540-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Stumme Schreie -  Martin Flesch
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Weltweit 80 Millionen Geflüchtete und Migrationssuchende stellen uns nicht nur vor die Bewältigung einer gewaltigen strukturellen Aufgabe. Sie sind auch Nährboden für die Entstehung von seelischen Leiden mit schweren Verlaufsformen bei den Geflüchteten, basierend auf ihren traumatischen Erfahrungen, die sie nicht zuletzt auch im Zielland erleiden. Mit viel Empathie für die Betroffenen analysiert Martin Flesch die Ursachen und Hintergründe der existenziellen Notsituationen der Geflüchteten. Er berichtet von seinen eigenen Erfahrungen im Rahmen seiner mehrjährigen psychiatrischen Versorgung, Behandlung und psychiatrischen Begutachtung von Migranten. Dabei schlägt er auch immer wieder Brücken zu christlich-religiösen und philosophischen Bezugspunkten der Migrationsproblematik. Aus diesen Erfahrungen heraus fordert er eine alternative und dem jeweiligen Einzelfall gerechter werdende Asylpolitik- vor allem aber verleiht er dem Phänomen des Seelischen Leidens bei Geflüchteten eine konkrete Stimme. Eine Konfrontation mit den vielen Facetten seelischen Leidens vor, während und nach einer Flucht

Dr. med. Martin Flesch, ist selbstständiger Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie mit dem Schwerpunkt Forensische Psychiatrie in eigener Gutachterpraxis. 2014 gliederte er eine Sozialpsychiatrische Migrationsambulanz seinen Praxisräumen an.

Dr. med. Martin Flesch, ist selbstständiger Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie mit dem Schwerpunkt Forensische Psychiatrie in eigener Gutachterpraxis. 2014 gliederte er eine Sozialpsychiatrische Migrationsambulanz seinen Praxisräumen an.

II.Kasuistik 1: Im Sinkflug (Alik & Nure) – Ukraine


„Das gebeugte Knie
und die
hingehaltenen Hände
sind die beiden Urgebärden
des freien Menschen!“

Alfred Delp6

Über Kiew erhob sich ein strahlender, eisiger Februarmorgen. Die Maschine aus München befand sich im Sinkflug, der Himmel bescherte keine Wolke, die Sicht auf die Stadt blieb tadellos.

Alik saß an einem Fenster einer Maschine aus Deutschland und sah voller Verzweiflung auf die näher rückenden Gebäude, neben ihm seine Ehefrau Nure, auf der anderen Seite des Ganges die zwei Kinder. In wenigen Minuten wird die Maschine auf der Landebahn aufsetzen, die Familie wird nach neun Jahren wieder ukrainischen Boden unter ihren Füßen verspüren. In Kiew wird sie niemand erwarten, niemand abholen und niemand wird die vierköpfige Familie in seine Arme schließen. Alik blickt in diesen für ihn und seine Ehefrau fürchterlichen Augenblicken der völligen Ungewissheit in eine für ihn dunkle Zukunft. Die Familie befindet sich nicht freiwillig in dieser Maschine. Es handelt sich um einen Abschiebeflug aus Deutschland, in diesem Winter.

Hinter Alik und seiner Familie liegen neun Jahre Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland, Jahre der Hoffnung, der Ablehnung, des Kampfes, der Verzweiflung, der Auflehnung, wiederum der Hoffnung und schließlich der Resignation.

Bis zur endgültigen Landung und dem Ausstieg bleiben ihm noch wenige Minuten eines mehrstündigen Zwischenlebens, eines Lebens zwischen Deutschland und der Ukraine, die letztlich sämtliche Hoffnungen, Träume und Pläne zunichte machen werden …

Die Ehe zwischen Alik und Nure entspringt einer jahrelangen Jugendliebe. Beide entstammen sie mit ihren Herkunftsfamilien dem Volk der Kurden und gehören der Glaubensgemeinschaft der Jesiden an. Diese Glaubensgemeinschaft kennt verschiedene Kasten, Alik gehört der Kaste der Muriden an, Nure jedoch einer anderen Kaste. Eine Heirat zwischen verschiedenen Kasten ist nach den Vorschriften der Jesiden nicht zulässig. Die Liebe war stärker, geheiratet haben sie im Jahr 2011 dennoch. Er ist zu diesem Zeitpunkt 19, Nure 18 Jahre alt.

Nachdem Alik den Wehrdienst aus gesundheitlichen Gründen nicht ableisten musste, fand er – noch ohne abgeschlossene Berufsausbildung – Arbeit als Schreiner, in der Nähe von Slaviansk, denn die Probleme in ihren Heimatdörfern waren im Grunde vorgezeichnet. Konkrete Übergriffe gab es nicht, aber Drohungen wegen der unerlaubten Eheschließung.

Alik wird später – im Jahr 2014 erst – dem ihn untersuchenden Psychiater berichten, dass er als junger Ehemann die Angst kennengelernt habe. Seit der Eheschließung habe sich die beständige Angst wie eine Geschwulst in seinen Körper gefressen. Die junge Ehe ist schon bedroht, bevor sie überhaupt erst begonnen hat. Das Heimatdorf der Ehefrau haben sie zwischenzeitlich verlassen. Zurück lässt Alik seine Eltern, einen noch minderjährigen Bruder und mehrere Verwandte mütterlicherseits.

Nure erklärt später in der ärztlichen Sprechstunde, dass mögliche Übergriffe ihrer Familie stets im Raum gestanden hätten. Es sei durchaus nichts Ungewöhnliches, dass Frauen in einer aus religiösen Gründen unerlaubt geschlossenen Ehe von Mitgliedern ihrer eigenen Familie oder aber von Mitgliedern der jesidischen Gemeinde getötet würden.

Die erste Zeit des Zusammenlebens funktioniert leidlich. Auch in der Nähe von Slaviansk ist die Bedrohung noch greifbar. Dennoch schauen beide in die Zukunft, gründen eine Familie. 2013 wird der älteste Sohn Timur geboren. Bis zum Frühjahr 2014 kann sich die junge Familie über Wasser halten. Weitere Kinder sind geplant. Zu diesem Zeitpunkt nimmt der einigermaßen stabile Verlauf des Lebens ein jähes Ende.

In der Ostukraine herrscht seit dem Frühjahr 2014 in den Oblasten Donezk und Luhansk ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, in dem schwer bewaffnete prorussiche Separatisten gegen die offiziellen ukrainischen Sicherheitskräfte kämpfen. Die Separatisten haben sich in Teilen der beiden Oblaste in den nicht anerkannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk konstituiert7.

Nach den Angaben der United Nations Human Rights Monitoring Mission in Ukraine (HRMMU) gab es seit Beginn des Konfliktes von Mitte April 2014 bis zum 15.11.2015 im Konfliktgebiet der Ostukraine mindestens 29.830 zivile und militärische Opfer (9098 Tote und 20.732 Verletzte).

Von diesen Entwicklungen ahnen Alik und Nure zu diesem Zeitpunkt noch wenig, wohl aber von der ihnen im Frühjahr 2014 zuteil werdenden Bedrohung – sie verändert von jetzt auf gleich ihren gesamten Lebensentwurf.

An einem Dienstagmorgen befindet sich Alik in seinem Haus, kurz vor Aufnahme seines Arbeitsweges zur Schreinerei, als er auf der zum Anwesen führenden Straße Schüsse vernimmt, kurz darauf auch Einschläge an der Front des Hauses. Als er, noch eben geistesgegenwärtig, auf die Straße späht, sieht er fünf vermummte und bewaffnete Männer auf die Haustür zukommen. Auf Kommando öffnet er, die Männer geben ihre Identität nicht preis, fordern ihn jedoch auf, mit ihnen zu kommen und sich militärisch zu engagieren. Er verweist auf seine Untauglichkeit, gibt an, keinerlei militärische Grundausbildung erfahren zu haben. Das sei unerheblich, teilt man ihm mit, die Ukraine benötige Männer, die für die neuen Republiken kämpften. Angstbesetzt kann er kaum reden, die Stille wird unaushaltbar. Die Bewaffneten verlassen das Grundstück.

Nure, die zu diesem Zeitpunkt nicht im Hause weilt, berichtet er zunächst nichts von dem Vorfall, will sie von Belastungen und weiteren Ängsten fernhalten. Fortan leidet Alik unter erheblichen Ein- und Durchschlafstörungen, erleidet Zitteranfälle der Arme und Hände, Schweißausbrüche und Angstattacken, fürchtet erneut um sein Leben.

Zwei Tage später wiederholt sich die annähernd gleiche Prozedur, die Vermummten kündigen an, ab jetzt regelmäßig erscheinen zu wollen. Beim zweiten Mal tragen die Männer Uniformen, die er nicht kennt und nicht identifizieren kann. Nunmehr weiht Alik Nure in die Vorgänge ein. Das Paar verbringt Tage und Nächte der Angst, Alik will und kann seine Arbeitsstelle nicht verlieren. Nure ist wieder schwanger.

Das Szenario wird bedrohlicher. Alik teilt den in regelmäßigen Abständen vorsprechenden Soldaten mit, dass er als Jeside nicht kämpfen wird. Daraufhin wird er das erste Mal geschlagen. Weitere Schläge werden folgen. Nachdem die Männer einmal seine Frau unsanft zur Seite stoßen und ihren schwangeren Zustand missachten, dann auch das Kleinkind Timur bedrohen, fällt die folgenschwere Entscheidung.

Da sich die Hoffnung auf ein Ende der Bedrängnis nicht erfüllt, beschließen beide im Mai 2014 ihre Ausreise. Innerhalb der Ukraine wollen sie nicht bleiben. Sie kennen die Berichte ihrer Verwandten, dass Jesiden auch in anderen Teilen der Ukraine benachteiligt würden, von Ausgrenzung und Abwertungen, von Arbeitslosigkeit und Inakzeptanz bedroht.

Noch im Mai 2014 begeben sie sich in die Hauptstadt der Ukraine und finanzieren sich mit dem letzten zurückgelegten Ersparten und einem von der Familie von Alik genährten Geldbetrag den Flug nach Deutschland.

Nach ihrer Ankunft in Deutschland werden sie der Erstaufnahmeeinrichtung zugewiesen. Erstmals leben sie auf engem Raum mit Angehörigen zahlreicher Nationen. Die Räumlichkeiten sind beengend, Konflikte sind vorprogrammiert, alles scheint zu zerfließen, die Hoffnung, das Leben, die Zukunft. Alik verliert die Kontrolle, den Boden unter den Füßen, wird von Angstattacken überrollt. Erste medizinische Hilfe muss in Anspruch genommen werden.

Schließlich werden sie umverteilt, in eine Gemeinschaftsunterkunft mit weiteren 600 Asylsuchenden, es gibt Häuser für Männer, Frauen und Familien. Die Familie stellt einen Asylantrag.

Vorerst am Zielort, erfährt Alik von den Möglichkeiten der ärztlichen Versorgung in der Unterkunft. Er meldet sich zur psychiatrischen Sprechstunde, der Psychiater kommt 14-tägig zu festen Sprechstundenzeiten in die Einrichtung.

Endlich kann er sich öffnen, kann mit dem Arzt vertrauensvoll reden, über seine Ängste, seine Schlafstörungen, seine Zitteranfälle, seine Gewichtsabnahme, seine sich kontinuierlich entwickelnde Depression. Nure begleitet ihn manchmal zu den Sprechstunden, wenn sie das Kind versorgt weiß.

Das wöchentliche Gespräch in der Medizinischen Abteilung wird nun für Alik ein lebensspendender Begleiter. Oft wiederholt sich der gleiche Ablauf. Wird er nach seinem psychischen Befinden befragt, kann er die ersten Minuten stets nur angeben:

„Ich habe solche Angst … bitte, Herr Doktor, ich habe solche Angst …...

Erscheint lt. Verlag 1.9.2021
Verlagsort Würzburg
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie
Schlagworte Asylsuchende • Flucht • Flüchtlinge • Geflüchtete • Gewalt • Migranten • Migration • Trauma • Vertreibung
ISBN-10 3-429-06540-2 / 3429065402
ISBN-13 978-3-429-06540-9 / 9783429065409
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