Die Kunst des klugen Streitgesprächs (eBook)

Wer diskutieren will, sollte diese Regeln kennen - Ein Crashkurs in Vernunft
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2023 | 1. Auflage
160 Seiten
Kösel (Verlag)
978-3-641-30158-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Kunst des klugen Streitgesprächs -  Reto U. Schneider
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»Ich streite nicht, ich erkläre nur, warum ich recht habe.«
Haben wir nicht alle schon mal gedacht, die Welt wäre eine bessere, wenn gewisse Leute ihre Meinung ändern würden? Und waren diese Leute ohne Ausnahme niemals wir selbst?

Dieses Buch erklärt, auf welch zweifelhaften Wegen unsere Meinungen zustande kommen und welchen Denkfehlern wir dabei aufsitzen. Es zeigt, wie sehr Menschen ihr Wissen überschätzen, warum ein Einhorn am Wegesrand ein Problem ist und mit welcher Frage Sie Ihre Gesprächspartner zuverlässig aus dem Tritt bringen.

Sie werden auf altbekannte Kontroversen stoßen: etwa auf die biologischen Unterschiede zwischen Mann und Frau, auf die falschen Erklärungen für Erkältungen und auf Latein als vermeintliche Maßnahme zur Förderung des logischen Denkens. Und schließlich löst dieses Buch das größte Rätsel von allen: Wie kann es überhaupt sein, dass wir unterschiedliche Meinungen haben, wo doch alle behaupten, sie würden bloß die Fakten nüchtern begutachten?

Eine höchst unterhaltsame und kurzweilige Anleitung, um Argumente zu zerlegen, Trugschlüsse aufzudecken und dabei zu den wahren Gründen von Meinungsverschiedenheiten vorzustoßen. Wer weiß, vielleicht finden Sie dabei sogar heraus, dass Sie gar nicht Ihrer Meinung sind.

Reto Schneider ist ausgezeichnet mit dem »Deutschen Reporter:innen-Preis für die beste Wissenschaftsreportage 2022«.

Reto U. Schneider, geboren 1963, ist Redakteur bei NZZ-Folio, dem Magazin der Neuen Zürcher Zeitung, in der auch viele seiner verrückten Experimente als Kolumne erschienen. Der Wissenschaftsjournalist wurde für seine Artikel mehrfach ausgezeichnet. Mit dem ersten Band der 'Verrückten Experimente' landete er einen Bestseller.

2. Das Einhorn am Wegesrand
Der Sagan-Standard


An der Westküste Nordamerikas in den gemäßigten Regenwäldern der Olympic-Halbinsel lebt ein ganz und gar außergewöhnliches Tier: der Pazifische Nordwest-Baumkrake (Octopus paxarbolis). Im Gegensatz zu den meisten anderen Kopffüßern sind Baumkraken amphibisch und verbringen nur ihr frühes Leben und die Zeit der Paarung in ihrer angestammten aquatischen Umgebung. Aufgrund der Feuchtigkeit der Regenwälder und spezieller Hautanpassungen sind sie in der Lage, über längere Zeiträume nicht auszutrocknen und auf Bäumen zu leben. Mit den Saugnäpfen ihrer Tentakel kann ein Baumkrake nach einem Ast greifen, um sich mit einer Fortbewegungsart namens Tentakulation fortzubewegen. Weil das solitär lebende Tier vom Aussterben bedroht ist, hat ein Aktivist bereits 1998 eine Website aufgeschaltet, die auf das Schicksal der gefährdeten Tierart aufmerksam macht. Unter zapatopi.net/treeoctopus gibt es Informationen über die Biologie und den Lebensraum des Baumkraken und Bilder der neusten Sichtungen.

Sollten Sie noch nie vom Baumkraken gehört haben, dann aus gutem Grund: Es gibt ihn gar nicht. Er ist die Erfindung eines Künstlers, der unerkannt unter dem Pseudonym Lyle Zapato agiert. Wenn er die Website nicht derart exzellent gestaltet hätte, wäre sie wohl einer von vielen Internetstreichen geblieben. Aber das beispielhafte Design und der umfangreiche Inhalt – samt Onlineshop mit Oktopus-Kaffeetassen – eröffnete dem Baumkraken eine zweite Karriere in wissenschaftlichen Studien über die kritische Beurteilung von Information.

Im Frühling 2006 unternahm der amerikanische Bildungsforscher Donald Leu ein Experiment mit 53 Kindern. Die 13-jährigen Schülerinnen und Schüler waren ausgewählt worden, weil sie zu den Besten ihrer Schule gehörten, was das Textverständnis und den Umgang mit dem Internet betraf. Diese Kinder erhielten eine E-Mail, in der eine andere Klasse sie bat, die Zuverlässigkeit der Baumkraken-Seite einzuschätzen. Doch die Klasse gab es gar nicht, die Antworten landeten alle bei Leu. Nur sechs Versuchsteilnehmer beurteilten Lyle Zapatos Erfindung als unglaubwürdig – es waren jene sechs, die die Lügengeschichte schon gekannt hatten. Alle übrigen waren sich einig, dass die Seite wertvolle Information über den gefährdeten Baumkraken enthalte, dessen Existenz sie nicht infrage stellten. Den gleichen Test absolvierten in einer späteren Studie angehende Biologiestudenten – mit demselben Resultat. Und Sie? Wann haben Sie gemerkt, dass etwas nicht stimmt? Schon beim Namen Baumkrake? Oder erst bei der Tentakulation? Oder gar nicht? Hätten Sie auf der Website weitergelesen, bis der Sasquatch als der natürliche Fressfeind des Baumkraken auftaucht? Ein Sasquatch ist ein Fabelwesen, eine Art nordamerikanischer Yeti.

*

Vielleicht wären die Schüler – und Sie – nicht auf den Schwindel mit dem Baumkraken hereingefallen, wenn sie den Sagan-Standard gekannt hätten. Er kommt zum Einsatz, wenn Ihr Gesprächspartner Ockham’s Razor zum Trotz auf unnötig komplizierten Erklärungen besteht, wenn Geheimdienste, Freimaurer und Illuminati gemeinsame Sache machen in Szenarien, die so kompliziert sind wie ein Soufflé-Rezept. In solchen Fällen fordert der Sagan-Standard: Außerordentliche Behauptungen erfordern außerordentliche Beweise. Der Sagan-Standard ist nach dem amerikanischen Astronomen Carl Sagan benannt, einem der großen Popularisierer der Wissenschaft des 20. Jahrhunderts. Die Regel wurde in der Öffentlichkeit durch die 13-teilige Dokumentarserie Cosmos aus dem Jahr 1980 bekannt, die er moderierte. Die Folge 12 dreht sich um außerirdisches Leben und Ufo-Sichtungen. Sagan sagt darin: »Es kann sein, dass wir jeden zweiten Dienstag von einer außerirdischen Zivilisation besucht werden, aber es gibt keine Belege für diese verlockende Idee. Die außerordentliche Behauptung wird nicht durch außerordentliche Beweise gestützt.«

Wie bei Ockham’s Razor wurde nie darüber abgestimmt, wie diese Faustregel heißen soll. Früher hieß sie Prinzip von Laplace nach dem französischen Gelehrten Pierre-Simon Laplace, der geschrieben hatte: »Die Last der Beweise muss in einem angemessenen Verhältnis zur Seltsamkeit der Tatsachen stehen.« Doch weil Sagan ein paar Millionen Fernsehzuschauer im Rücken hatte, bekam der Grundsatz seinen Namen aufgedrückt. Sie wenden ihn im Alltag intuitiv an. Wenn Ihnen jemand erzählt, auf dem Weg zur Arbeit ein Einhorn gesehen zu haben, erwarten Sie Bilder, Zeugen und ein Büschel der Mähne. War das Tier hingegen ein Hund, lassen Sie sich ohne weitere Indizien überzeugen. Wer hier einen Fall von Einhorn-Diskriminierung wittert, übersieht, dass der Hund aus gutem Grund bevorzugt wird: Hunde belegen ihre Existenz zum Beispiel damit, dass sie in Berlin pro Jahr ungefähr 500-mal aktenkundig Menschen beißen, wie es in der »Statistik über Hundebissvorfälle« steht. Eine Statistik über Einhornvorfälle gibt es nicht.

*

Erstaunlicherweise griffen früher auch religiöse Würdenträger zum Sagan-Standard. Benjamin Bayly, Pfarrer der St. James Church in Bristol, England, war einer von vielen, die skeptisch reagierten, wenn jemand behauptete, Gott habe ihm den Tag des Weltuntergangs offenbart. Er schrieb 1707: »Da diese Angelegenheiten sehr außerordentlich sind, erfordern sie auch einen außerordentlichen Nachweis.«

Das Zitat zeugt vom Dilemma, in das zeitgenössische Wunder die Geistlichen stürzten. Einerseits konnten sie Wunder nicht durchweg ignorieren, schließlich gründet der christliche Glaube darauf, dass einer auf Wasser ging und Tote erweckte. Andererseits konnten sie nicht jeden Ziegenhirten heiligsprechen, der Maria gesehen haben wollte. Der Ausweg aus diesem Dilemma hätte Sagan nicht gefallen. Die Kirche stellte sich auf den Standpunkt, allein die Tatsache, dass etwas in der Bibel stehe, sei der nötige außerordentliche Beweis dafür. Alle anderen Wunder wurden argwöhnisch untersucht. Damit sind wir beim Problem des Sagan-Standards: Bei wem liegt die Deutungshoheit darüber, was als außerordentliche Behauptung und was als außerordentlicher Beweis gilt?

Für die Kinder im Experiment war der Baumkrake offenbar nicht seltsam genug, um nach besonderen Beweisen für seine Existenz zu suchen. Warum auch? Schließlich hatten sie vor Kurzem erst von riesigen grauen Tieren mit Rüsseln erfahren und von Insekten, die in der Nacht leuchten. Für die Kinder war die perfekt gemachte Website, was für die Kirchenmänner die Bibel: ein Beweis. Tatsächlich bleibt das Urteil darüber, was außerordentlich heißt, subjektiv. Doch völlig willkürlich ist es nicht. Auch wenn sich Außerordentlichkeit nicht in Zahlen fassen lässt, gibt es Indizien für sie: In Ihrem Streitgespräch dürfen Sie außerordentliche Beweise fordern, wenn ein Phänomen noch nie zuvor beobachtet worden ist oder sehr selten auftritt, wenn es sich mit bekanntem Wissen nicht erklären lässt oder grundlegende Gesetzmäßigkeiten verletzt oder wenn es auf eine einzige Quelle zurückgeht.

Der Sagan-Standard kann dazu führen, dass revolutionäre Erkenntnisse erst einmal abgelehnt werden. Das ist der Preis, den wir dafür bezahlen, nicht jedem Scharlatan zu glauben. Der amerikanische Präsident Thomas Jefferson war skeptisch, als er von kleinen Himmelskörpern hörte, die hin und wieder vom Himmel fallen sollen. 1808 schrieb er in einem Brief: »Tausend Phänomene treten täglich auf, die wir nicht erklären können, aber wo Tatsachen angedeutet werden, die mit den uns bekannten Naturgesetzen nicht übereinstimmen, bedarf ihre Wahrhaftigkeit Beweise, die ihrer Besonderheit entsprechen.« Nur langsam häuften die Forscher genügend Indizien an, die belegten, dass es die fallenden Steine tatsächlich gab. Heute wissen wir, dass jedes Jahr etwa 19.000 Meteoriten auf die Erde prasseln.

*

Die Logik des Sagan-Standards leuchtet im Grunde sofort ein. Umso erstaunlicher ist es, dass ihn ein ganzes Volk – oder zumindest die Mehrheit seiner Stimmberechtigten – missachten kann. Im Mai 2009 haben 67 Prozent der Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger der Verfassungsänderung »Zukunft mit Komplementärmedizin« zugestimmt. Seither müssen die Krankenkassen eine Behandlungsmethode bezahlen, die an Seltsamkeit kaum zu überbieten ist. Die Homöopathie wurde Anfang des 19. Jahrhunderts vom deutschen Arzt Samuel Hahnemann begründet. Hahnemann behauptete, seine Arzneien seien umso kräftiger, je stärker sie verdünnt würden. Sie wirkten selbst dann noch, wenn, wie sich später nachrechnen ließ, kein einziges Molekül vom Ursprungsstoff mehr im Mittel sei. Das widerspricht allem, was man über die Biochemie von Medikamenten weiß. Hahnemann selber lieferte weder eine nachvollziehbare Begründung für seine Behauptung noch einen Beweis.

Die Homöopathie ist der Baumkrake der Medizin. Der gesunde Menschenverstand – und Carl Sagan – würden verlangen, besonders gründlich hinzuschauen. Doch die Abstimmung führte gerade zum Gegenteil. Die Zulassungsstelle Swissmedic beschränkt sich bei der Homöopathie darauf, die Qualität der Arzneien zu kontrollieren. Mit anderen Worten: Swissmedic ist zufrieden, wenn sich niemand vergiftet mit dem Zeugs. Von einem objektiven Nachweis der Heilkraft, wie ihn jedes andere Medikament erbringen muss, hat das Schweizervolk die Homöopathie an der Urne dispensiert.

Wie konnte das passieren? Warum verlangen wir Beweise für das Einhorn, aber nicht für ein Medikament ohne Wirkstoff? Von einem der Gründe handelt das nächste Kapitel.

Fazit

Zum Werkzeugkasten des gesunden Menschenverstandes gehört, dass die Beweislast für seltsame Feststellungen höher ist als für...

Erscheint lt. Verlag 28.6.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie
Schlagworte 2023 • Denkfehler • Die Kunst des klaren Denkens • eBooks • Factfulness • Fakten • Gesprächsführung • Kommunikation • Logik • Meinungsbildung • Meinungsverschiedenheit • Miteinander reden • Neuerscheinung • Neuerscheinung 2023 • Neue Zürcher Zeitung • NZZ • Philosophie • Psychologie • Rolf Dobelli • Selbstoptimierung • Soft Skills • Soziale Kompetenz • Weisheit
ISBN-10 3-641-30158-0 / 3641301580
ISBN-13 978-3-641-30158-3 / 9783641301583
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