Die Sache mit der Angst (eBook)

Und wie ich lernte, damit zu leben
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2023 | 1. Auflage
384 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61341-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Sache mit der Angst -  Daan Heerma van Voss
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»Du hast zu viel Angst vor dem Leben.« Als der Autor Daan Heerma van Voss mit dieser Begründung von seiner Freundin verlassen wird, reist er von Amsterdam über Jakarta nach San Francisco, um die Ursachen seiner Angststörung endlich tiefer zu ergründen. Was ist Angst? Woher kommt sie? Und welche Rolle spielen unsere Gene? Dieses Buch hilft, einen Weg zu finden, Angstgefühle, Panik und Phobien zu verstehen und ihnen etwas entgegenzuhalten.

Daan Heerma van Voss, geboren 1986, ist Autor, Journalist und Historiker und gilt in den Niederlanden als eine der wichtigsten Stimmen seiner Generation. Er schreibt regelmäßig für internationale Publikationen wie ?The New York Times?, ?Pen International?, ?Haaretz? und ?Svenska Dagbladet?. Seine journalistischen Texte wurden mit dem renommierten De Tegel-Preis ausgezeichnet. ?Die Sache mit der Angst? ist sein erstes Sachbuch.

Daan Heerma van Voss, geboren 1986, ist Autor, Journalist und Historiker und gilt in den Niederlanden als eine der wichtigsten Stimmen seiner Generation. Er schreibt regelmäßig für internationale Publikationen wie ›The New York Times‹, ›Pen International‹, ›Haaretz‹ und ›Svenska Dagbladet‹. Seine journalistischen Texte wurden mit dem renommierten De Tegel-Preis ausgezeichnet. ›Die Sache mit der Angst‹ ist sein erstes Sachbuch.


Es lebt etwas in mir, das mich nicht in Ruhe lässt. Das wird mir wieder einmal bewusst, als ich von meiner Blockhütte aus auf friedliche, monochrome, französische Weiden schaue und mich nicht eine Sekunde an die Stille gewöhnen kann. Hier im Vallée de Misère, zu Besuch bei meinem Freund, ziehen die Unheilsszenarien weiter im Geiste an mir vorbei. Ich grüble viel und schlafe schlecht. Schaudernd und verwirrt klammere ich mich an die einzige Regel, die ich mir auferlegt habe: sie nicht anzurufen. Denn was ich empfinde, hat nicht ausschließlich mit ihr zu tun; es ist viel älter. Solange ich mich erinnern kann, ist eine diffuse, allgemeine Ängstlichkeit tief in mir verankert. Ich gehe damit zu Bett und stehe damit auf. Wie ich festgestellt habe, bin ich sowohl einer von vielen als auch ein merkwürdiger Fall.

Vor Kurzem habe ich zweimal meinen Cortisolspiegel messen lassen, um herauszufinden, wie viel von diesem Stresshormon in meinem Hirn herumgeistert. Am zuverlässigsten lässt sich das anhand einer Haarprobe ermitteln. Man gibt eine Haarsträhne ab, die dann in einem Labor untersucht wird. In meinem Fall erledigte dies das Medizinzentrum Amsterdam, in Zusammenarbeit mit dem Medizinischen Zentrum Erasmus. Das durchschnittliche Angstlevel der Niederländer beträgt 2,7 Picogramm Cortisol pro Milligramm Haar. Menschen mit langwierigen psychischen Problemen kommen höchstens auf 15 Picogramm. Meine Tests zeigten ein anderes Profil.

Der erste Test, mit dem mein Cortisolspiegel über einen Zeitraum von drei Monaten gemessen wurde, ergab 34,4 Picogramm, etwa das 13-Fache des Durchschnittswerts. Schon da waren die Ärzte überaus erstaunt. Beim zweiten Test wurde monatlich gemessen: Diesen Monat waren es 74 Picogramm, im Monat davor 87, davor 132 und noch einen Monat früher über 200 Picogramm, das 74-Fache des landesweiten Durchschnitts. Nein, es lag nicht am Test. Aus Neugier hatte die leitende Ärztin eine Haarprobe von sich mit ins Labor geschickt. Ihr Resultat: 0,8. Die Ärzte waren sprachlos, ein Ergebnis wie meins war ihnen noch nicht begegnet. Sie äußerten die Vermutung, dass ich an einer seltenen Krankheit litt, an einem Tumor, der bewirkte, dass meine Drüsen zu viel Cortisol abgaben. Diese Diagnose hielt ich für ausgeschlossen, ich hatte keinen Tumor. Dem stimmte man schließlich zu, da sich keine weiteren tumorspezifischen Symptome nachweisen ließen und ich die Tests aus Neugier veranlasst hatte. Daraufhin versuchten die Ärzte mich zu beruhigen: Dieses Ergebnis sei so bizarr, dass ich es am besten vergessen sollte. Bestimmt sei irgendwas schiefgelaufen. Dann wollten sie das Ganze weiter untersuchen, was ich nicht für notwendig hielt. »74-mal so viel?«, fragte ich sicherheitshalber noch einmal. »74-mal«, erwiderten die Ärzte.

Obwohl das Ergebnis seltsam war, änderte sich für mich wenig. Die Angst war seit jeher da gewesen. Mein Körper hatte sich darauf eingestellt. Es kann mir lange Zeit gut gehen. Dann mache ich Reisen. Dann bin ich meinen Freunden ein guter Freund und meinen Geliebten ein guter Liebender. Mir ist nichts anzumerken. Durch irgendein ›bedrohliches‹ Ereignis von außen kann sich die Intensität meiner Angst jedoch plötzlich ändern; sie wird schärfer und konkreter, und sie spitzt sich auf einen einzigen Gedanken zu, ein Katastrophenszenario, das allen Raum und allen Sauerstoff‌ beansprucht. Ich komme an einen Wendepunkt, überschreite eine Grenze. Und dann stecke ich mittendrin.

Wenn ich mittendrin stecke, löst alles, was ich sehe und höre, Panik in mir aus. Straßen mit hohen Bäumen, die das Licht abhalten, meide ich lieber. Niemand in meiner Umgebung versteht, was mit solchen Straßen nicht in Ordnung ist. Ich ziehe mich in meine Gedanken zurück, meine Welt wird immer kleiner. Die Zeit verliert ihren üblichen Rhythmus, die Uhren bleiben stehen. Ich kann nicht mehr schlafen. Die Stunden ziehen sich in die Länge, und wenn wieder ein Monat vergangen ist, kann ich mich an keinen einzelnen Tag erinnern. Andere, sowohl Vertraute als auch Fremde, sehen sofort, wenn ich mittendrin stecke. Ich bin blass und zittrig, im Sitzen beuge ich den Oberkörper vor, meine Schultern und Finger sind verkrampft.

Da das Denken und Analysieren schwieriger wird, sobald die Angst da ist, hat es Jahre gedauert, bis ich lernte, die ›Bedrohung‹ von den unmittelbaren körperlichen Reaktionen darauf zu unterscheiden. Eigentlich ist das Wort ›Reaktion‹ irreführend, denn Auslöser und Reaktion treten fast gleichzeitig auf. Oft habe ich gedacht: Vielleicht ist der Rückschlag, der Misserfolg, der die Kettenreaktion in Gang gesetzt hat, vollkommen willkürlich. Vielleicht würde ich sonst so lange weitersuchen, bis ich eine andere passende Ursache für meine Angstgefühle gefunden hätte.

Seltsamerweise reagiere ich in Momenten, in denen ich tatsächlich in Gefahr bin, meist entschlossen und furchtlos. 2015 berichtete ich als Journalist bei den niederländischen UN-Soldaten in Mali über den Kriegsverlauf. Mitten in der Nacht gab es Luftalarm, rund um das Lager schlugen Bomben ein, dumpfe, aber heftige Explosionen. Die Gefahr war klar und konkret und damit leicht zu akzeptieren. Als ich mein Zelt öffnete, sah ich Soldaten zu den Unterständen laufen. Ich zog in aller Ruhe meine Slipper an und lief zähneputzend hinter ihnen her. Man könnte mein Gefühl mit der Erleichterung eines Hypochonders vergleichen, bei dem tatsächlich eine Krankheit diagnostiziert wurde. Natürlich, ihm droht Gefahr, aber er muss zumindest nicht mehr denken, er sei verrückt. Etwas Ähnliches geschah zu Beginn der Coronakrise. Während jener postapokalyptischen Wochen und Monate, in denen Angst und Panik mit einem Mal zu einem kollektiven Daseinszustand wurden, war ich merkwürdig ruhig. Ich tat, was ich tun musste, und stand anderen bei, eine seltsame Konzentration erfüllte mich, Angst bereitete mir nahezu keine Probleme. Das Gegenteil war der Fall: Die Welt schien sich meinem Krisenmodus angepasst zu haben.

 

Die erste Panikattacke, an die ich mich erinnern kann, hatte ich im Alter von sechs oder sieben Jahren. Der Auslöser: das Brett, über das ich gehen musste, um zum Ferienhaus meiner Mutter zu gelangen. Die Planke war etwa einen Meter breit, anderthalb Meter lang und lag über einem Bach, dessen Wasser so schwarz war, dass ich seine Tiefe nicht einschätzen konnte. Herbstblätter, aus den nahe gelegenen Wäldern herbeigeweht, hatten sich in den schimmeligen Ritzen gesammelt, stellenweise faulte das Holz. An besagtem Tag ächzte das Brett, als ich meinen Fuß darauf setzte. Ich sprang ans andere Ufer. Gerade noch rechtzeitig, dachte ich. In den Stunden danach vergaß ich meine Angst.

Doch am Abend, als ich im Bett lag, begann mein Herz wieder schneller zu klopfen. Ich fing an zu keuchen, zu würgen. Ich wühlte mich unter meiner Ikea-Dinosaurierdecke hervor, kletterte aus dem Etagenbett und lief ins eiskalte Badezimmer. Die Tränen in meinen Augen ließen die Gegenstände verschwimmen, ich sah einen fragmentierten Wasserhahn, bruchstückhafte blasse Fliesen, Fetzen eines alten, schmuddeligen Duschvorhangs und Einzelteile eines Rasenmähers, den meine Mutter in die Dusche stellte, damit er nicht draußen im Regen rostete. Sie klopf‌te besorgt an die Tür, zweimal, dreimal, und fragte, ob es mir gut gehe. Ich bejahte dies kurzatmig, begriff jedoch nicht, was mit mir geschah.

Atemnot und Angst waren für mich stets eng miteinander verbunden.

Während meiner ersten Lebensjahre sorgten Atemprobleme dafür, dass ich zunächst in einem Brutkasten und später wiederholt im Krankenhaus landete. Ich litt an Asthma, Pseudokrupp, Kehlkopfentzündung, ganz gleich welches respiratorische Leiden – ich hatte es. Nachts wachte ich oft angsterfüllt und keuchend auf. Dann drehte meine Mutter den Wasserhahn auf, heißes Wasser, bis das Badezimmer voller Dampf war. In diesem Nebel normalisierte sich meine Atmung wieder. Doch dieser schwierige Start ins Leben reicht als Erklärung für meine Ängste nicht aus. Wer litt als Kind auch oft unter Atemnot? David Blaine, der »furchtlose Mann«. Im Laufe seiner Karriere als Illusionist und Stuntman hat der Houdini-Verehrer Blaine sich nicht nur lebendig begraben lassen. Er verbrachte auch rund 60 Stunden in einem Eiskokon und schloss sich 44 Tage ohne Nahrung in einer über der Themse hängenden, durchsichtigen Kabine ein. Der Grund, warum er eines Tages mit seinen Stunts begann: Er war fest entschlossen, seine Atemnot zu besiegen. Übrigens hat selbst der furchtlose Mann inzwischen vor etwas große Angst: dass seine offenbar ebenso unerschrockene kleine Tochter nicht in der Lage ist, Gefahr zu erkennen.

Der enge Zusammenhang zwischen Atemnot und Angst findet sich auch in der Sprache wieder. Das Wort ›Angst‹ (von dem es im Niederländischen, Dänischen, Schwedischen und Norwegischen Varianten gibt) stammt ebenso wie das Wort anxiety (von dem es Varianten in fast allen romanischen Sprachen gibt) von der indogermanischen Wurzel angh ab, die ›einengen‹ oder ›schnüren‹ bedeutet. Das griechische Wort anchein, ›würgen‹, ist hiervon abgeleitet. Und auch im lateinischen angor, das ›Zusammenschnürung‹ oder ›Verengung‹ bedeutet, ist das Urwort für Angst erkennbar.

Um mich selbst besser zu verstehen, habe ich in den vergangenen Jahren sehr viel über Angst gelesen. Die...

Erscheint lt. Verlag 22.3.2023
Übersetzer Gregor Seferens
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie
Schlagworte 21. Jahrhundert • Angststörung • Angsttherapie • Depression • depressive Verstimmung • Familiengeschichte • Genetik • Kindheitstrauma • Kreativität • Liebesgeschichte • Narzissmus • Panik • Panikattacke • Philosophie • Psychische Störung • Psychologie • Sigmund Freud • soziale Angst • Soziale Phobie • Therapie • Wege zu sich selbst
ISBN-10 3-257-61341-5 / 3257613415
ISBN-13 978-3-257-61341-4 / 9783257613414
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