Familiäre Rehabilitation? (eBook)

Eine Alltagsgeschichte ostdeutscher Haushalte mit behinderten Kindern (1945-1990)
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
498 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45417-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Familiäre Rehabilitation? -  Pia Schmüser
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Vor welchen Herausforderungen standen Familien mit behinderten Kindern in der SBZ und DDR zwischen 1945 und 1990 bei der Gestaltung ihres Alltags? Wie suchten sie diese sowohl familienintern als auch im Austausch mit familienexternen Instanzen zu bewältigen? Anhand von Egodokumenten und Korrespondenzen lässt Pia Schmüser in dieser Studie umfänglich die Familienmitglieder selbst zu Wort kommen und beleuchtet so ihre Handlungsmacht, ihr Engagement und ihre Gestaltungsspielräume im Umfeld eines sozialistischen Systems.

Pia Schmüser promovierte an der Universität Kiel im Fach Mittlere und Neuere Geschichte.

Pia Schmüser promovierte an der Universität Kiel im Fach Mittlere und Neuere Geschichte.

1.Einleitung


»Es ist ein großes Herzeleid für Eltern, ein behindertes Kind zu haben, eine unsäglich schwere psychische und oft auch physische Last, die sie nicht allein tragen können. Ich hatte das große Glück, immer wieder Menschen zu finden, die mir weiterhalfen und mir die Kraft gaben, immer neue Wege der Rehabilitation für mein Kind zu suchen, die ich allein nie gefunden hätte.«1

Mit diesen Worten leitete Annemarie Lichting, eine Magdeburgerin mit einer nunmehr erwachsenen Tochter mit spastischer Lähmung, im Mai 1990 ihre »Auskünfte einer Mutter« ein (so der Untertitel des Artikels). Ihre hier zitierten Aussagen kolportieren eine Lesart von kindlicher Behinderung, die die Bandbreite an Erfahrungen und Lebenslagen von Eltern mit behinderten Kindern nicht in ihrer Gänze abbildet, sondern sie tendenziell ableistisch verengt auf eine Deutung von Behinderung als dem Wesen nach belastend für sorgegebende Angehörige. Unabhängig von der Frage, ob die Behinderung eines Kindes tatsächlich, essentiell, immer oder ausschließlich zu mentalen und praktischen Alltagshärten in Familien führt, wurde und wird eine kindliche Behinderung und der Umgang mit ihr doch maßgebend auch in den Kategorien von elterlicher Be- und Entlastung verhandelt.

Es mag zunächst verwundern, dass dieser Deutungshorizont Lichtings in der Stütze, dem Periodikum des zu diesem Zeitpunkt gerade einmal einen Monat zuvor gegründeten »Behindertenverbands der DDR e.V.«2, veröffentlicht wurde. Schließlich hatte sich beispielsweise im bundesrepublikanischen Behindertenaktivismus zu diesem Zeitpunkt doch bereits eine selbstadvokatorische Behindertenbewegung teils gerade in Abgrenzung von der als paternalistisch empfundenen Fremdadvokation durch Elternverbände formiert.3 Der erste allgemeine Behindertenverband in der DDR schloss hingegen schon in seinem Gründungsaufruf nicht nur »alle Behinderten der DDR«, sondern auch »alle, die mit ihnen leben, alle, die sie pflegen und betreuen« explizit mit ein.4 Die Herausgeber:innen der Stütze wollten offensichtlich auch solche Elternstimmen im Verbandsorgan abbilden, die kindliche Behinderung maßgeblich im Denkhorizont elterlicher Belastung thematisierten. Verweist dies beispielhaft auf eine Spezifik der ostdeutschen Geschichte von Menschen mit Behinderungen, insbesondere in familiengeschichtlicher Hinsicht?

Die Geschichte von Menschen mit Behinderungen wird seit über einem Jahrzehnt dediziert von Historiker:innen erforscht, jedoch stellen gerade die Lebenslagen von Familien mit behinderten Angehörigen weiterhin ein besonderes Desiderat der Zeitgeschichte dar. Dies überrascht angesichts der Bedeutung des familiären Rahmens für die Alltagsgeschichte behinderter Menschen. In der DDR war mit circa 7,5 Prozent ein signifikanter Anteil der Gesamtbevölkerung behindert,5 speziell für die Bevölkerung im Kindesalter errechnete zum Beispiel das Forschungsprojekt »Defektives Kind« der Rostocker Wilhelm-Pieck-Universität einen Anteil von 7 Prozent, dabei 0,5 Prozent geistig schwerbehindert.6 Doch ergab eine repräsentative Erhebung von 1965, dass mit 71 Prozent der bei weitem größte Anteil aller sogenannten »schulbildungsunfähigen« Kinder und Jugendlichen im Elternhaus lebte.7 Ein nicht zu vernachlässigender Anteil der Gesamtbevölkerung der DDR lebte also mit einer (schweren) Behinderung, verbrachte seinen Alltag aber wesentlich nicht in Pflegeinstitutionen, sondern gerade im Kindes- und Jugendalter im Rahmen der Familie – die Pflege und Betreuung von behinderten Kindern war damit keineswegs ausschließlich ein institutionalisiertes, sondern vorwiegend auch ein familiäres Phänomen.8

Während Raphael Rössel jüngst hier mit seiner Alltagsgeschichte von Familien mit behinderten Kindern in der alten Bundesrepublik für Westdeutschland maßgeblich zum Abbau der geschichtswissenschaftlichen Forschungslücken beigetragen hat,9 möchte diese Arbeit erstmals gezielt die Lebenslagen von Familien mit behinderten Kindern in Ostdeutschland während der deutschen Teilung untersuchen. Sie versteht sich zum einen als Beitrag zur deutschen Disability History aus Warte der Familiengeschichte und der Care History, zum anderen als Beitrag zur DDR-Forschung. Widmeten die deutsche Familien- und Pflegeschichte doch auch dem »anderen Deutschland« bereits ihre Aufmerksamkeit, so stellen ostdeutsche Lebenslagen trotz erster wichtiger Beiträge weiterhin ein Desiderat der deutschen Disability History dar. Die DDR-Forschung ihrerseits widmete sich schon verschiedenen sozialen »Randgruppen«, sparte bisher jedoch Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen und ihren Angehörigen noch weitgehend aus.

Forschungsfelder und Forschungsstand: Disability History


Abseits medizinischer Diagnostik und Behandlung von Behinderungen erfolgte (und erfolgt noch) eine wissenschaftliche Betrachtung von (vor allem auch kindlicher) Behinderung im familiären Kontext vornehmlich in praktisch orientierten Disziplinen der Human- und Bildungswissenschaften wie der Heilpädagogik. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts standen hier die Entwicklung spezifischer Therapiemethoden und die praktische Instruktion von Eltern im Vordergrund, bevor sich mit einem Generationenwechsel seit den 1970er Jahren eine Verschiebung zu einer weniger professionell distanzierten, sondern stärker kooperativ ausgerichteten Sonderpädagogik vollzog. Gerade das Verhältnis von Fachleuten und Eltern wurde und wird unter dem Stichwort »Elternarbeit« speziell theoretisiert und praktiziert. Dabei geht auch die moderne Sonderpädagogik ihrer grundsätzlichen Fachanlage nach vergleichbar einer medizinischen Konzeption weiterhin von Behinderung als einer individuellen und behandlungsbedürftigen körperlichen, sensorischen oder geistigen Beeinträchtigung aus.10

Dieses pathologisierende »medizinische Modell« (auch als »individuelles Modell« bezeichnet) von Behinderung als persönlichem und von Expert:innen zu korrigierendem »Defekt« kritisieren seit ihrer Entstehung im zunächst anglo-amerikanischen aktivistischen Umfeld Ende der 1970er Jahre die sozial- und kulturwissenschaftlichen Disability Studies. Hier entwarf man zunächst ein »soziales Modell« von Behinderung, das individuelle körperliche, sensorische oder kognitive Beeinträchtigungen (impairment) von einer sozialen Benachteiligung durch die gesellschaftliche Umwelt (disability) trennt gemäß dem Motto: »Behindert ist man nicht, behindert wird man.« Seit den 1990er Jahren wurde der theoretische Diskurs um ein »kulturelles Modell« erweitert. Dieses begreift Behinderung als kulturelle, daher historisch kontingente Konstruktion und Zuschreibung von verkörperter Andersartigkeit gegenüber der gleichfalls je historisch kontingent konstruierten »Normalität« und markiert diesen Wechselbezug von Zuschreibungsprozessen mitunter durch die Schreibweise dis/ability.11 In den letzten Jahren hat sich dabei auch eine explizite Betonung des Konstruktionscharakters (maßgeblich durch humanwissenschaftliche Fachliteratur) einer belasteten und gleichsam für sorgegebende Angehörige belastenden »behinderten Kindheit« positioniert.12

Während sich ausgehend von Behindertenbewegungen und Disability Studies im anglo-amerikanischen Raum die spezifische geschichtswissenschaftliche Teildisziplin der Disability History seit Beginn der 2000er Jahre in der Forschungslandschaft etablierte,13 hat sich dieses weniger theoretisch, sondern stärker empirisch ausgerichtete Forschungsfeld im deutschsprachigen Raum vor allem in den letzten zehn Jahren ausgebildet und die lange Zeit auf die Kategorien Class, Race und Gender fokussierte Forschung zur Geschichte sozialer Ungleichheit neben den jünger hinzugetretenen Kategorien Alter und sexuelle Orientierung um die Kategorie Behinderung erweitert.14 International wie im deutschsprachigen Raum wurden von der Disability History (gerade auch im Hinblick auf kindliche Behinderung) zuerst vornehmlich das Mittelalter und die Frühe Neuzeit in den Blick genommen.15 Ein erster Themenschwerpunkt der dediziert zeithistorischen Untersuchung der Geschichte von Menschen mit Behinderungen in Deutschland fand sich...

Erscheint lt. Verlag 11.10.2023
Reihe/Serie Disability History
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Allgemeine Geschichte Zeitgeschichte
Schlagworte Alltagsgeschichte • Behinderte • Behinderte Kinder • Behinderung • Care History • DDR • Disability History • Familie • Familien • Familiengeschichte • Geschichte • Geschichte der DDR • Pflege • Pflegegeschichte • Rehabilitation • Schwerbeschädigte • Zeitgeschichte
ISBN-10 3-593-45417-3 / 3593454173
ISBN-13 978-3-593-45417-7 / 9783593454177
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