Tragödie, Textil und Moderne (eBook)

Entbindungskünste bei Ibsen, Wedekind und Hofmannsthal
eBook Download: EPUB
2023
344 Seiten
De Gruyter (Verlag)
978-3-11-115390-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Tragödie, Textil und Moderne - Tamara Madeline Fröhler
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1 Tragödie, Textil und Moderne – Auftakt


„Es ist schon längst gesagt, daß so dumm wie

die Helden der Tragödie selten ein Mensch ist.“1

(Alfred Döblin: Der deutsche Maskenball von Linke Poot)

Erscheint ein starres Gattungssystem zum Ende des 19. Jahrhunderts ohnehin zweifelhaft, ist es jedoch besonders die Tragödie,2 die den Widerwillen der Zeitgenossen3 aufruft. Bereits um 1900 erklären Kritiker und Autoren die Gattung für zum „Untergange geweiht[]“4 und schlichtweg unvereinbar mit ihrer Gegenwart. Ausgang nimmt diese Position bei Hegel, dessen ‚Gerücht‘ vom Ende der Kunst5 besonders im Kontext der Tragödie wirksam wird: Das Ausbleiben zweier in Opposition zueinander tretender substantieller Zwecke bildet dabei die problematische Grundkonstellation, die die Tragödie in der Moderne6 ihrer Gattungsprämisse beraubt. Um 1900 schließlich hat sich diese Situation weiter radikalisiert: Sprachkrise, die Unrettbarkeit des autonomen Subjekts wie auch der „Ausfall aller Eschatologie“7 bündeln sich im Verfallsdispositiv der Jahrhundertwende und intensivieren die Substanzkrise des 19. Jahrhunderts. Ohne nahtlose Identifikation mit einem abstrakten Zweck – seien es Staat, göttliche Ordnung oder auch Familienpflicht – verlieren der tragische Konflikt und dessen Heldinnen und Helden ihre Plausibilität.

Die zeitgenössische Reaktion zeigt sich in einem umfassenden Abgesang auf die Gattung. Was sich im 19. Jahrhundert schon in der Selbstinszenierung von Tragödiendichtern als unrettbare Epigonen bemerkbar macht, wird nun zur umfassenden Krisenerzählung ausgearbeitet. Unter dem Schlagwort der „tragische[n] Krisis der Tragödie“8 wird ein unausweichliches Ende der Gattung beschworen und ihre Unwiederbringlichkeit im Angesicht der Moderne konstatiert. Dass heldenhafte Selbstopferung, heroische Gesten und tragische Schuld um 1900 keinen gesellschaftlichen Resonanzraum mehr finden oder sogar als grotesk oder lächerlich angesehen werden, bündelt Peter Szondi schließlich im bis heute geltenden Urteil von der sinnlos gewordenen dramatischen Form der Tragödie in der Moderne.9 Der Säkularisierungsschub des 19. Jahrhunderts etabliert einen Widerstand gegen eine „Metaphysik der Tragödie“ und erklärt deren Dichter zu „dogmatische[n] Idealist[en]“10. Wenn die Form der Tragödie auf dem Konflikt zweier diametral gegenüberliegender Interessen basiert und ihre Leitposition – so Szondi – das ‚Zwischen‘ ist, die Moderne diese Interessen jedoch nicht mehr realisieren kann, dann ist die Tragödie nicht nur nicht mehr plausibilisierbar, sondern schlichtweg unmöglich; die Verbindung von Tragödie und Moderne wird zum Paradox.11

Es ist unter anderem dieser Anachronismusverdacht, der auch in der nachfolgenden Forschung dazu geführt hat, der Tragödie des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts eine eher limitierte Aufmerksamkeit zu schenken. Unter dem Stichwort vom ‚Tod der Tragödie‘ findet die Unvereinbarkeit von Tragödie und Moderne bis in die gegenwärtige Forschung ein Echo:12 Die letzten Überbleibsel der Gattung erscheinen dabei wie konservative Rudimente in einer Zeit des Aufbruchs, Umschwungs und Neubeginns – kaum von Bedeutung für die Konstitution der Moderne um 1900 und vernachlässigbar in ihrer Wirkungskraft. Das geringe Interesse der Forschung an der Tragödie der Jahrhundertwende wiederholt somit die Absage, mit der die Zeitgenossen der Gattung begegnen. Die nahezu ungebrochene Selbstverständlichkeit, mit der die Literaturwissenschaft dieses Urteil fortgeschrieben hat, überdeckt dabei – so möchte ich zeigen – eine brisante Überlagerung von Moderne- und Tragödienformation um 1900, die das gängige Verhältnis zwischen Gattung und epochaler Zäsur herausfordert. Dass diese Relation nämlich nicht nahtlos in Hegels Unvereinbarkeitsdogma, Szondis Urteil vom Gattungsniedergang oder Steiners Schlagwort des „Death of Tragedy“13 aufgeht, sondern einen zentralen, wenn nicht sogar den entscheidenden Versuchsraum frühmoderner Programmatik bildet, ist die literar- und rezeptionshistorische Basisthese dieser Arbeit, die nicht nur eine andere Geschichte der Tragödie um 1900 schreiben möchte, sondern gleichzeitig einen alternativen Blick auf die frühe Moderne der 1890er-Jahre wagt. Ausgangspunkt liefert dabei die textile Grundierung von Tragödie und Moderne.

1.1 Textile Enden. Ausgangspunkt


Die Grundspannung zwischen Tragödie und Moderne findet sich auch in der dramatischen Produktion wieder: Eine Vielzahl von Texten inszeniert sich zwar als Tragödie, aber diskutiert vornehmlich ihr eigenes gattungsformales Scheitern im Angesicht der Moderne. Die dramatischen Texturen sind dabei übersät von zerrissenen Fäden, unlösbaren Knoten und misslungenen Bindungen, die ihre dramenästhetische Unzulänglichkeit ausstellen; entlang verschiedener dysfunktionaler und beunruhigender Textilien rufen die Texte um 1900 die tragödienformalen Beschreibungssysteme des Bindens und Fesselns, der Netze und Knoten auf und lassen an diesen metapoetischen Rudimenten das Scheitern sichtbar werden. Zurückgegriffen wird in diesem Rahmen auf eine metaphernhistorische Kontinuität, die mit der aristotelischen Poetik einsetzt und sich mit deren Rezeption verselbstständigt.14 Das Textgefüge der Tragödie wird dabei als eine textile Struktur verstanden, die sich in Anfang, Mitte und Ende gliedert und durch das anfängliche Binden und finale Lösen von Knoten und Windungen konstituiert. Mit der Aristotelesrezeption prägt sich diese textile Metaphorik und ihre Perspektivierung dem Tragödienkurs auf – und wird besonders an markanten Stellen des gattungshistorischen Wandels laut: Dort, wo sich Risse, Brüche und Differenzen in der Gattungsästhetik zeigen, bildet die Textilmetaphorik eine Darstellungsfläche für die dramenformalen Problemstellen.15

Dass sich diese Beschreibungssprache im Drama des 19. Jahrhunderts also nun noch einmal bündelt und verdichtet, erscheint angesichts der Gattungskrise nicht erstaunlich – interessant ist jedoch die Art und Weise, wie diese eingesetzt wird. Es dominieren unlösbare Knoten, Dauerschleifen und metastasierende Schürzungen ohne Gegengewicht, die von den dramatischen Texturen um 1900 permanent ausgeformt werden; weniger die Kunst des Bindens als vielmehr des Entbindens und Lösens stellen die dramatischen Texte auf diese Weise zur Schau.16 Folgt man der aristotelisch-textilen Dramensyntax, gerät somit besonders das dramatische Ende in den Fokus, ist dieses dramenchronologisch schließlich aufs Engste mit der Auflösung verbunden. Dies bewahrheitet sich mit Blick in die dramatischen Texte, die textilen Problemstellen nämlich finden ihr Echo in der formalen Gestaltung der Dramen: Enden werden ausgespart, multiplizieren sich oder geraten zum obsessiven Dauerthema der dramatischen Handlung. So muss das Ende in Ibsens Hedda Gabler beispielsweise hinter die Bühne verlegt werden, Wedekinds Lulu-Stücke verlieren sich in einer exzessiven Abfolge von nichtendenwollenden Szenen und Hofmannsthals Der Tor und der Tod verwandelt den Einakter in ein einziges Endspiel. Sind die Anlagen dieser Texte auch verschieden – was sie miteinander verbindet, ist das Ende als dramatisches Problem: unzeigbar, undurchführbar, uneingeschränkt. Die labile Balance von Binden und Lösen, die die dramatische Struktur stabilisiert, gerät ins Wanken und kippt unausweichlich in Richtung des Endes.17 Indiziert wird diese strukturelle Unausgeglichenheit entlang textiler Momente: Hutschleifen markieren eine Auflösbarkeit, wo keine ist, theatrale Vorhänge versperren die Sicht, die Knoten am Korsett werden unauflösbar und bedrohliche Schürzungen bringen das dramatische Personal in Gefahr. Die Inszenierung textiler Auflösepraktiken und ihres Scheiterns korrespondiert mit der dramenformalen Problematisierung des Endes; verhandelt wird das Finalproblem des Dramas im textilmetaphorischen Bildbestand.

Mit dem Ende des Dramas ist um 1900 folglich eine doppelte Problemstelle adressiert: Einerseits wird das proklamierte Gattungsende in dramatischen Texten als Störmoment sichtbar, andererseits zeigt sich die Tragödienliteratur durchsetzt von einem Scheitern dramatischer Finalisierungspraktiken. Dabei scheint es sich auf den ersten Blick um zwei voneinander losgelöste Phänomene zu handeln: Gattungshistorisches und strukturelles Ende können gleichermaßen als Herausforderungen für die Dramatik des ausgehenden 19. Jahrhundert gelten. Das Verhältnis verkompliziert sich jedoch an den Stellen, an denen beide Finalprobleme gleichermaßen Bestandteil der dramatischen Textur werden. So operieren Hedda Gabler, die Lulu-Stücke und Der Tor und der Tod nicht nur am formalen Ende, sondern verhandeln offensiv und produktiv – so eine meiner Grundannahmen für die dramatischen Texte – auch das gattungshistorische Ende der Tragödie.18 Sie bilden formale Kondensationspunkte, an denen die dramatische Umsetzung der gattungsästhetischen Problemlage sichtbar wird. Gleichzeitig richten sich die Texte radikal auf ihr formales Ende aus und ziehen dazu textilmetaphorische...

Erscheint lt. Verlag 7.8.2023
Reihe/Serie Hermaea. Neue Folge
ISSN
Zusatzinfo 2 b/w ill.
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Germanistik
Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Literaturwissenschaft
Schlagworte Hofmannsthal • Moderne • Modernity • Tragedy • Tragödie • Wedekind
ISBN-10 3-11-115390-8 / 3111153908
ISBN-13 978-3-11-115390-2 / 9783111153902
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