Geruch und Glaube in der Literatur -  Frank Krause

Geruch und Glaube in der Literatur (eBook)

Selbst und Natur in deutschsprachigen Texten von Brockes bis Handke

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
304 Seiten
DÜSSELDORF UNIVERSITY PRESS (Verlag)
978-3-11-111420-0 (ISBN)
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Prof. Dr. Frank Krause, Goldsmiths College, University of London, Großbritannien.

1 Einführung, Überblick und Stand der Forschung


Die Gretchenfrage („Nun sag, wie hast duʼs mit der Religion?“)1 ist für die säkulare Literatur seit der Aufklärung von gewichtiger Bedeutung. Gretchens Ruf nach dem Riechfläschchen („Nachbarin! Euer Fläschchen! –“)2 hat hingegen keine vergleichbare Relevanz; er kämpft gegen die körperliche Entkräftung durch den bösen Geist der religiösen Verzweiflung an,3 während jene Literatur die Lebensgeister häufig mit religiös bedeutsamen Gerüchen der Natur wecken will. Weder die Abwertung und kultische Einhegung des leiblichen Riechens im Christentum noch die Geringschätzung des Geruchssinns in der Philosophie oder das Mitte des 18. Jahrhunderts aufkommende, sozialhygienische Ideal desodorierter Frischluft haben der Literatur diesen Sinn für Gerüche ausgetrieben.4 Die Forschung hat zu Recht die schlagartige Zunahme olfaktorischer Motive in der Literatur seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert betont,5 und sie hat auch die Religiosität der Literatur von der frühen Neuzeit bis zur Moderne seit der Frühromantik herausgearbeitet.6 Die Gerüche der Natur, die seit der Aufklärung im literarhistorischen Wandel der Epochen immer wieder neu religiös bewertet werden, sind bislang jedoch vernachlässigt worden, und auch die literarische Kritik solcher Bewertungen wird kaum gewürdigt.

Mit den Darstellungen eines gläubigen Riechens inszeniert die im Folgenden untersuchte Literatur emotionale Höhepunkte eines ethisch maßgebenden Naturbezugs des Selbst „als einer körperlichen und geistigen Einheit, die räumlich zusammenhängt und zeitlich fortdauert“;7 beim Riechen öffnet sich das Selbst der Umwelt körperlich, und beim bewussten Riechen erlebt es seine Weltbezüge oft mit besonderer Intensität.8 Die Forschung ist einschlägigen Motiven meist in Einzelanalysen nachgegangen und hat gelegentlich auch ihr epochenspezifisches Gewicht betont;9 eine Studie, die den historischen Wandel von literarischen Geruchsmotiven als Mitteln religiös-emotionaler Verständigung über Natur herausarbeitet, steht jedoch noch aus. Die Geschichtlichkeit dieser Motive erschließt sich erst im Kontext jenes Wandels und rechtfertigt einen breit angelegten Überblick; einführend sei skizziert, inwiefern sich diese Motive epochenübergreifend vergleichen lassen. Als Beispiele mögen Motive von Düften der Bohnenblüte dienen, die mit ihrer Nähe zum Küchengarten zur frommen Vergegenwärtigung religiöser Sinngebung scheinbar kaum geeignet ist; jedenfalls ist es kein Zufall, dass Wilhelm Raabes (1831 – 1910) Roman Stopfkuchen (1891)10 (siehe Kap. 13) rote Bohnenblüten mit Stallgeruch kombiniert, um ein Arbeiterviertel ironisch zu auratisieren. Solche möglichen Spannungen zwischen Sinnlichkeit und Religiosität führen aber zum Kern unseres Themas, denn die Aufwertung der diesseitigen Sinnenwelt rückt, wie sich zeigen wird, auch Eindrücke in religiöses Licht, die sich traditionell nicht zur poetisch-kultischen Inszenierung eignen.

Barthold Heinrich Brockesʼ (1680 – 1747) aposteriorischer Gottesbeweis arbeitet sich in der Frühaufklärung unter anderem am Duft der Bohnenblüte ab. Der Geruch ist im Gedicht „Bohnen-Felder“ (1740) fast überwältigend; im Grenzbereich zur Bedrückung wirkt er dennoch belebend, kann im Verein mit anderen Blüten sogar erfrischen, verweist so auf eine zweckmäßig eingerichtete Schöpfung – und entflammt den inhalierenden Betrachter für das andächtige Vernehmen ihres göttlichen Ursprungs:

Dieß sind nun Felder gruͤner Bohnen, die, wenn sie, wie sie jetzo bluͤhn,

Mit so balsamischem Geruch die Luft, durch ihre Menge, fuͤllen;

Daß unser Hirn und unsre Lunge, vor großer Anmuth fast gedruͤckt,

Und durch den fast zu starken Schwall, zugleich gepreßt wird und erquickt.

Zumal, wenn von gemachtem Heu, von bluͤhndem Flieder und Camillen,

Woraus, in solchem berfluß, die Duͤft, itzt aller Orten, quillen,

Die Ambra-reich-und gleichen Theilchen sich mit der Bluͤhte Balsam mischen.

Durch die so suͤß vermengten Duͤnste, fuͤhlt man das hitzige Gebluͤte,

Nicht nur sich gleichsam recht erhohlen, nicht nur sich kuͤhlen und erfrischen,

Es fuͤhlt ein, durch so suͤsse Luft, durch Gott getriebenes Gemuͤthe

Ein innerlich erquickend Feuer, ein fast entzuͤckendes Empfinden,

Und durch den holden Hauch in ihr, einʼ Andacht-Flamme sich entzuͤnden,

Einʼ unausdruͤcklich angenehme, einʼ innigliche suͤsse Lust.

Es oͤffnet sich daher die Nase; es dehnt sich die gewoͤlbte Brust,

In einem widerhohlten Schnaufen, wo moͤglich, immer mehr zu fassen,

Und sucht, was sie einst eingesogen, nicht gerne wieder weg zu lassen.11

Mit seiner überwältigenden Wirkung kann der Bohnenduft indessen auch eine Neigung zur Hingabe begünstigen. Der frühe Johann Gottfried Herder (1744 – 1803) zelebriert in „St. Johans Nachtstraum“ (verf. 1772) das beglückende Eintauchen in die Gerüche einer liebenden All-Natur, in der auch der Bohnenduft seinen Platz findet, dessen emotionale Wirkung zum spannungsarmen Metrum passt:

Ich schwimmʼ in Rosen und blühnden Bohnen

und Blumen und Hecken und Nachtviolen,

in Tausend Düften! […]12

Gottfried August Bürger (1747 – 1794), der als Dichter im Grenzbereich zum Sturm und Drang die Natur ebenfalls als Domäne einer heiligen sinnlichen Liebe feiert, stellt in der Ballade „Des Pfarrers Tochter von Taubenhain“ (1782) die folgenreiche Hingabe der Leonore an einen lügnerischen Junker dar. Sie wird schwanger, der Geliebte verweigert aus Standesgründen die Ehe, der Vater verstößt sie, und in der Not, in der sie weder für sich noch andere sorgen kann, tötet sie ihr Kind. Das Gedicht stellt die ausweglose Zwangslage der Mutter als leidhafte Folge der Ausbeutung ihres sexuellen Verlangens dar:

Er zog sie zur Laube, so düster und still,

Von blühenden Bohnen umdüftet.

Da pochtʼ ihr das Herzchen; da schwoll ihr die Brust;

Da wurde vom glühenden Hauche der Lust

Die Unschuld zu Tode vergiftet. – – –

Bald, als auf duftendem Bohnenbeet

Die rötlichen Blumen verblühten,

Da wurde dem Mädel so übel und weh;

Da bleichten die rosichten Wangen zu Schnee;

Die funkelnden Augen verglühten.13

Der Bohnenblütengeruch verweist auf eine enthemmende Atmosphäre,14 deren Nähe zur Feldarbeit auch Leonores sozialen Abstand zum Junker unterstreicht. In der Idylle Luise (Ausg. l. Hd. 1825) von Johann Heinrich Voß (1751 – 1826) wirkt dieser Duft im Garten eines ländlichen Pfarrhauses deutlich verträglicher; hier ermöglicht die „blühende Bohne“, die „betäubet“,15 ein bürgerliches Behagen des ältlichen Pfarrers am Mittagsschlaf. Auf diese Weise werden Leib und Seele, die zum christlich eingehegten Schwelgen in den Gerüchen von Gottes schöner und auch kulinarisch ansprechender Natur ermächtigt sind, mittelbar erquickt.

In Walter Paters (1839 – 1894) Fin-de-Siècle-Roman Marius the Epicurean (1885) mischt sich bei einem römischen Fruchtbarkeitskult im Freien „the scent of the bean-fields […] pleasantly with the cloud of incense“.16 Im Unterschied zu den übrigen Prozessionsteilnehmern, die in der üppigen olfaktorischen Atmosphäre einem religiösen Schweigegebot fraglos Folge leisten, bringt Marius eine gesunde Lebensfreude in die Zeremonie ein und muss sich auf die äußere Stille in der Introspektion erst aktiv einstellen. Das Ritual ruft Gedanken und Reminiszenzen an seine Kindheit in ihm hervor, die sich mit der Heiligkeit seiner Akte poetisch verbinden. Seine poetisch-kultische Aktivität wird mit dem Wind verglichen, der die Landschaft durchweht und mit der steif-monotonen Erscheinung der Priester auffällig kontrastiert.17

Wilhelm Lehmanns (1982 – 1968) Eintauchen in spätsommerliche Bohnendüfte, die er im Bukolischen Tagebuch aus den Jahren 1927 – 1932 (1948) festhält, verlangsamt das Lebenstempo und hilft so, die Natur als allbeseelte Mitwelt zu erschließen:

Aber wenn man sich Zeit nimmt, unter dem Baum lagert, der Sommerluft hingegeben, in der der Geruch des Weißdorns nur noch eine Erinnerung ist, schwelgend verdrängt von der Woge des Duftes, die vom nahen Felde von den „großen“ Bohnen aufsteigt, entdeckt man ein Stück vom Leben der Krähengemeinschaft.18

Diese Beispiele mögen genügen, um die Heterogenität der literarischen Perspektiven anzudeuten, aus denen Gerüche der Natur im hier untersuchten Zeitraum bedeutsam werden. Brockes stellt sie aus naturkundlich-religiöser Sicht dar, für Herder dienen sie als Medium...

Erscheint lt. Verlag 24.7.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Literaturwissenschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
ISBN-10 3-11-111420-1 / 3111114201
ISBN-13 978-3-11-111420-0 / 9783111114200
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