Ich bin, wie Gott mich schuf -  Sabine Estner,  Claudia Heuermann

Ich bin, wie Gott mich schuf (eBook)

Eine Transfrau erzählt ihre Geschichte
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
240 Seiten
Verlag Herder GmbH
978-3-451-83217-8 (ISBN)
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55 Jahre lang hat Sabine Estner im Körper eines Mannes und in der Gemeinschaft der Kirche gelebt, 14 Jahre davon als Mönch. Dabei fühlte sie sich von klein auf als Mädchen. Der Vater versuchte, das aus ihr herauszuprügeln. Ohne den Glauben, sagt sie, hätte sie nicht überlebt. Wie ist das, wenn jemand zutiefst an Gott und Jesus Christus glaubt, die Institution, die diese repräsentiert, allerdings versucht, diese Identität auszulöschen? Wie schafft man es, dem massiven Druck von außen standzuhalten und trotzdem den eigenen Glauben nicht zu verlieren? Indem man die Kraft findet, kirchliche Dogmen zu überwinden und zu dem Gott zu finden, der einen liebt, wie man ist. In 'Ich bin, wie Gott mich schuf' erzählt Sabine von ihrem schweren Weg als Transperson im Schoße der Kirche und in einer Gesellschaft, die (noch) nicht gewillt war, über das Modell Mann/Frau hinauszudenken.

Sabine Estner ist Diplom-Ingenieurin für Elektrotechnik. 14 Jahre lebte sie als Mönch in einem Kloster. Auf Grund der Transidentität wurde sie sehr traumatisiert und erkrankte schwer. Auf ihrem Weg hat sie ihr Glaube an Jesus getragen.

Sabine Estner ist Diplom-Ingenieurin für Elektrotechnik. 14 Jahre lebte sie als Mönch in einem Kloster. Auf Grund der Transidentität wurde sie sehr traumatisiert und erkrankte schwer. Auf ihrem Weg hat sie ihr Glaube an Jesus getragen. Claudia Heuermann studierte an der Kölner Kunsthochschule für Medien und ist Regisseurin und Autorin mehrerer preisgekrönter Filme. Nach der Geburt ihrer Söhne zog sie in die amerikanische Wildnis, worüber sie ihr erstes Buch schrieb. Heute lebt und arbeitet sie in München.

Kapitel 1


Wer den Zorn reizt


Es begann schon früh, oder vielleicht begann es gar nicht, sondern war schon immer da, aber bereits als Kind fühlte ich mich nicht wie der Junge Simon, der ich laut meiner Geburtsurkunde aus dem Jahr 1966 war. »Mama, wie nähst du diesen Saum um?«, fragte ich zum Beispiel und ließ mir von meiner Mutter an der alten Singer-Nähmaschine erklären, wie man Hosen kürzt oder den Saum auslässt oder Borten an die Hosenbeine näht. Wenn die zerschlissenen Knie meiner Jeans mit Bügelflicken versehen werden mussten, wählte ich lieber die roten als die blauen Motive, und ich suchte mir Erdbeeren, Sonnenblumen oder Schmetterlinge aus. »Ist das nicht eher was für Mädchen?«, fragte meine Mutter einmal, »willst du nicht lieber eine Rakete oder einen Planeten wie dein Bruder?« – »Zeigst du mir, wie das Aufbügeln geht?«, fragte ich, statt ihr zu antworten, und sie zeigte es mir.

Mädchenfarben, Mädchenspielzeug und Mädchenkleider gefielen mir schon immer besser, ebenso wie die Tätigkeiten, denen meine Mutter nachging: Ich sah ihr lieber zu als meinem Vater, half ihr lieber beim Backen, Bügeln und Wäschefalten, als mich mit »Männerdingen«, wie wir sie damals nannten, zu beschäftigen.

Dabei lebte ich, wie ich mich fühlte, und machte mir keine Gedanken darüber, wie ein Junge oder wie ein Mädchen zu sein hatten. Ich war ich und niemand sonst, und genauso benahm ich mich eben.

Und so folgte ich auch schlicht meinen Gefühlen an jenem Tag in den Sommerferien des Jahres 1976: Ich war gerade zehn geworden, und wie so oft half ich meiner Mutter mit der Wäsche – gerade hatten wir die trockenen Sachen von der Leine genommen, und nun standen wir nebeneinander vor dem Kleiderschrank im Flur und verstauten die fertig gefalteten Kleidungsstücke. Dabei fiel mir dieser wundervolle gelb geblümte Sommerrock meiner Mutter ins Auge, der ganz oben auf ihrem Stapel lag. Ich beobachtete, wie sie den Rock auf einen Bügel und diesen dann an die Kleiderstange hängte. Ich griff nach dem Stoff und befühlte ihn, er war ganz dünn, leicht und weich. Ich war mir sicher, den Rock noch nie zuvor gesehen zu haben, er musste neu sein, und ich konnte meine Augen nicht von ihm abwenden.

Sobald meine Mutter in der Küche verschwunden war, nahm ich ihn von seinem Bügel und schwenkte ihn hin und her, sodass die Blumen darauf wie im Wind wehten. Ich hielt mir den Bund vor den Bauch, dann vor die Brust, damit die Länge stimmte, dann drehte ich mich um mich selbst, und die gelben Blüten wirbelten um mich herum und umschlossen mich.

Als Nächstes stülpte ich mir den Stoff über den Kopf, und nun roch ich die Blumen sogar, doch als ich schon halb in den Rock hineingeschlüpft war, vernahm ich ein Geräusch aus dem Wohnzimmer: Es war mein Vater, ich hörte, wie er sich räusperte. Vielleicht hatte er Schulklausuren korrigiert oder in seinen Musikpartituren geschrieben, jedenfalls klang es jetzt so, als wäre er aufgestanden, denn ich hörte seine Schritte. Und nur eine Sekunde später, bevor ich den Rock wieder ausziehen konnte, stand er in der Tür und blickte mich an. Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Er hatte einen seltsamen Ausdruck auf seinem sonst oft strengen Gesicht, fast so, als würde ihm übel werden, denn er wurde ganz weiß, doch als sein Gesicht dann blutrot anlief, ahnte ich, dass er sehr wütend war. Er sah aus, als würde er gleich platzen. Aber warum? Weil ich mir ungefragt etwas genommen hatte, was mir nicht gehörte? Meine Mutter hätte bestimmt nichts dagegen gehabt, und es war schließlich ihr Rock. Schmutzig gemacht hatte ich ihn auch nicht, ich wusch mir vor dem Wäschefalten immer die Hände, und ganz sicher hatte ich nichts kaputt gemacht.

Während ich mich noch wunderte, spürte ich, wie mich die Hand meines Vaters derb im Nacken packte. Ich verlor den Boden unter den Füßen und wurde gewaltsam ins Wohnzimmer geschleift, vorbei am Steinway-Flügel und den Violinen an der Wand darüber, vorbei am Panoramafenster, durch das man die Alpen bei Föhnwind sehen konnte, bis zur erstbesten Sitzgelegenheit: einem unserer antiken, golddurchwirkten Polsterstühle. Ich war starr vor Angst. In diesem Zimmer, das ich wegen seines barocken Flairs so liebte, ließ sich mein Vater nun auf den prunkvollen Sessel fallen, warf mich brutal über sein Knie und begann, mir die Seele aus dem Leib zu prügeln: »Guter Gott! Du benimmst dich wie ein Mädchen!«, schrie er dabei, und mit voller Wucht sauste seine kräftige Hand auf mich nieder. »Das werd ich dir schon austreiben!« Die Hiebe kamen schneller und fester. »In Gottes Namen! Du bist ein Junge! DU WIRST EIN MANN!«

Und während die Schläge auf mich niederprasselten und ich nur noch aus Angst und Schmerz zu bestehen schien, geschah etwas Seltsames: Ich merkte, wie ich meinen Körper verließ. Ich trat aus mir heraus, betrachtete die Szene für einen Moment von außen, sah diesen wütenden Mann, der mit aller Kraft auf sein Kind einschlug, dann zog sich meine Seele in mein Kinderzimmer zurück, brachte sich in Sicherheit und entkam der Brutalität meines Vaters – etwas, das mein Körper nicht konnte.

Als ich wieder zu mir kam, sah ich geradewegs in die besorgten Augen meiner Mutter. Mit der linken Hand hielt sie meinen Oberkörper, mit der rechten tätschelte sie mein Gesicht. Ich merkte, wie Tränen meine Wangen hinunterliefen. Ein unbeschreiblicher Schmerz zog durch meinen Rücken und durch meine Beine, und ich hatte das Gefühl, mich übergeben zu müssen.

»Du warst weg!«, sagte meine Mutter, dabei strich sie mir die Haare aus der Stirn, die verschwitzt über meinen Augen und an meinen Schläfen klebten. »Dein Vater hat mich gerufen, weil du dich nicht mehr bewegt hast. Ich war draußen im Garten, hab erst gar nichts gehört, meine Güte, er dachte, du seist tot! Aber du warst nur weg. Ich habe dich zurückgeholt.«

Meine Seele war in meinen Körper zurückgekehrt. »Was ist passiert?«, stotterte ich schluchzend, während mein Vater wortlos den Raum verließ. Ich konnte mich an die schmerzhaften Schläge erinnern, doch was genau ich nun eigentlich falsch gemacht hatte, das verstand ich immer noch nicht. Auch während der folgenden Tage, die ich humpelnd, mit geschwollenem Gesäß und tiefblauen Flecken auf dem Rücken zubrachte, war ich mir nicht sicher. Ganz bestimmt wusste ich nur, dass es volle zwei Wochen dauerte, bis ich wieder richtig sitzen, rennen und unbeschwert draußen spielen konnte.

»Da kommt sie«, hörte ich eines Nachmittags kurze Zeit später meinen Freund Udo rufen. Seine Stimme schallte durch den Wald, und als ich ihn und die anderen Kinder erreichte, schmetterte seine Stimme abermals: »Na endlich, sie ist da!«

Die Ferien neigten sich dem Ende entgegen, und wie gewohnt trafen wir uns zum Spielen draußen hinter den Häusern, tobten, bauten an unserem Staudamm am Bach, kletterten und spielten Fangen. »Gut, dass du da bist, du bist dran!« Ich spürte Udos Hand auf meiner Schulter. »Sie ist jetzt dran!«, rief er in die Runde, den anderen beiden Mädchen und den zwei Jungs zu, unserer Clique, und obwohl mich das »sie« ein wenig irritierte und ich nicht wusste, wie er das meinte, schien es die anderen überhaupt nicht zu stören: Als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, setzten sie das Spiel fort – und ich spielte mit.

Ich benahm mich, wie ich mich fühlte, und ich spielte, wie ich mich fühlte – auch wenn ich zu dieser Zeit bereits ahnte, dass ich kein normaler Junge war, dass da etwas in mir war, dieses Weibliche, was dort offensichtlich nicht hingehörte. Meine Eltern hatten es bemerkt. Udo hatte es bemerkt. Ich selbst war nun auch darauf aufmerksam geworden, obwohl ich nicht wusste, was genau das nun eigentlich zu bedeuten hatte, was es für mich bedeutete. Doch ich hatte mitbekommen, dass mein Vater es aus mir herausschlagen wollte, also musste es etwas Schlechtes sein.

Die Selbstverständlichkeit, mit der Udo mich als Mädchen ansprach, zeigte mir außerdem, dass es immer noch in mir drin war – und das versetzte mich in Angst.

Was sollte ich jetzt tun? Wie sollte ich sein? Wie meinem Vater fortan gegenübertreten? Diese Fragen wirbelten für den Rest der Ferien in meinem Kopf herum, bis ich beschloss, mich zu fügen. Ich musste versuchen, genauso zu sein, wie er es wünschte, damit ich nie wieder so geschlagen würde wie an jenem Tag – und ich wusste nun, wie er, mein strenggläubiger Vater, mich haben wollte: »Enthalte einem Knaben die Züchtigung nicht vor; denn wenn du ihn mit der Rute schlägst, wird er nicht sterben. Schlägst du ihn mit der Rute, so wirst du seine Seele von der Hölle retten.«2 Ich hatte gehört, wie er das einmal laut aus seiner alten Bibel las – und er schien das wörtlich zu nehmen. Und weil es ihm nicht gelungen war, mir diese Unart, mein augenscheinlich verkehrtes Sein auszutreiben, musste ich nun selbst alles tun, um es loszuwerden, es zu unterdrücken oder zumindest zu verstecken – auch wenn ich in der Bibelstunde im Kommunionsunterricht noch etwas anderes gelernt hatte: »Ihr Väter! Reizet eure Kinder nicht zum Zorne, damit sie nicht mutlos werden.«3 Das waren Paulus’ Worte an die Christen in Kolossä.

Und Paulus hatte recht, denn genauso war es nun geschehen: Ich war angstvoll und mutlos geworden. Und obwohl mein Vater schon zu etlichen früheren Gelegenheiten die Rute oder den Teppichklopfer hervorgeholt hatte, um mich und meinen Bruder zu bestrafen, so hatten die Prügel an jenem Tag doch etwas mit mir gemacht, was so noch nie geschehen war: Obwohl meine Knochen heil geblieben waren, fühlte ich mich zerbrochen – und lebte fortan in abgrundtiefer Angst vor meinem Vater, lebte in ständiger Panik, etwas falsch zu machen. Die Angst erdrückte mich fast und war kaum auszuhalten,...

Erscheint lt. Verlag 13.5.2024
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Religion / Theologie Christentum
Schlagworte Biografie • Glaube • Leben • Lebensgeschichte • LGBTQIA* • Memoir • Queer • Sexuelle Identität • Spiritueller Missbrauch • Transsexualität
ISBN-10 3-451-83217-8 / 3451832178
ISBN-13 978-3-451-83217-8 / 9783451832178
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