Portugal - Die unmögliche Revolution? (eBook)
384 Seiten
Edition Nautilus (Verlag)
978-3-96054-351-0 (ISBN)
Phil Mailer (alias Phil Meyler) wurde 1946 in Dublin geboren und lebt in Irland und Portugal. Er war bis 2010 jahrelang Lehrer für benachteiligte Jugendliche in Portugal, den USA und Irland und ist Übersetzer aus dem Portugiesischen. Anke Fusek übersetzt für politische Initiativen aus dem Englischen, insbesondere für den Blog communaut.org. Felix Kurz übersetzt Essays, Sachbücher und wissenschaftliche Literatur aus dem Englischen und Französischen. Felix Kurz übersetzt Essays, Sachbücher und wissenschaftliche Literatur aus dem Englischen und Französischen. Für die Edition Nautilus hat er zuletzt Platz nehmen. Gegen eine Architektur der Verachtung von Mickaël Labbé sowie Göttin der Anarchie. Leben und Zeit von Lucy Parsons von Jacqueline Jones ins Deutsche übertragen.
Phil Mailer (alias Phil Meyler) wurde 1946 in Dublin geboren und lebt in Irland und Portugal. Er war bis 2010 jahrelang Lehrer für benachteiligte Jugendliche in Portugal, den USA und Irland und ist Übersetzer aus dem Portugiesischen. Anke Fusek übersetzt für politische Initiativen aus dem Englischen, insbesondere für den Blog communaut.org. Felix Kurz übersetzt Essays, Sachbücher und wissenschaftliche Literatur aus dem Englischen und Französischen. Felix Kurz übersetzt Essays, Sachbücher und wissenschaftliche Literatur aus dem Englischen und Französischen. Für die Edition Nautilus hat er zuletzt Platz nehmen. Gegen eine Architektur der Verachtung von Mickaël Labbé sowie Göttin der Anarchie. Leben und Zeit von Lucy Parsons von Jacqueline Jones ins Deutsche übertragen.
II DIE ERSTEN DREI MONATE
Einschätzung der Lage
Überall begegnete man doppelzüngigen Aussagen. Am 1. Mai verkündete die Junta noch: »Die Nation unterstützt die Arbeiter.« Jetzt behaupteten sie: »Die Arbeiter unterstützen die Befreiung der Nation.« Eine der Mittelschicht entstammende Gruppe um die Zeitung Expresso gründete eine liberale Partei (sie verortete sich in der linken Mitte). Mário Soares, der sich bereits eigenmächtig als Außenminister betätigte, fuhr zu Besprechungen mit Harold Wilson und der Labour Party nach London. Die Berichterstattung war grauenhaft. Die República titelte: »Die Menschen haben keine Angst mehr.« Das war blanker Unsinn, denn außer den Politikern hatte sich nichts geändert. Wer früher die Angst kannte, ohne Geld oder Essen dazustehen, kannte sie noch immer.
Aber das bisher Unvorstellbare war nun zum Greifen nah – ein Vorbote der künftigen Ereignisse. Eine Frauengruppe demonstrierte vor dem Sitz der Junta. Capital berichtete über ihre Forderungen:
Seit dem 25. April wurden die bislang von Faschisten genutzten Räume politischen Gruppen zur Verfügung gestellt. Da wir Frauen immerhin 52 Prozent der Bevölkerung ausmachen, sollte man meinen, dass auch unsere Gruppen Räume bekommen haben. Wir waren die Hauptopfer der faschistischen Ideologie, die uns in die traditionelle Rolle der Frau zurückdrängen wollte, völlig entfremdet vom Rest der Gesellschaft. Die Entpolitisierung von Frauen und ihre Neigung, rechte Parteien zu wählen, hängen bekanntlich unmittelbar damit zusammen, dass es keinerlei Bewegungen und Organisationen gibt, die sich für ihre Interessen einsetzen. Trotzdem ist die Frauenbewegung für die Junta offenbar nicht von Belang. Warum? Sollen die Frauen schon wieder diskriminiert werden?
Am 28. Mai veröffentlichte der Diário de Lisboa ein Manifest der Prostituierten von Lissabon (die ihrer Arbeit vor allem am Hafen nachgingen). Es stellte fest, dass die Prostituierten »das älteste Gewerbe der Welt noch immer illegal ausüben« müssten und ihr Leben keineswegs so »leicht« sei wie allgemein behauptet, und forderte die Gründung einer Gewerkschaft, in der sie »frei von jeglichem puritanischen Zwang die Probleme ihrer Klasse erörtern« könnten. Ihre Hauptanliegen betrafen die Ausbeutung durch die Zuhälter, den Schutz von Minderjährigen, feste Tarife, Zugang zu einem »freien Gehsteig« (frei von Zuhältern und Polizisten) zwecks »Förderung des Tourismus« sowie die Eindämmung des »skandalösen Verhaltens der konservativen Kolleginnen, die nur in teuren Nachtclubs tätig sind«. Sie erklärten sich zur Unterstützung der MFA bereit und beschlossen ihr Manifest mit dem Angebot, dass »sämtliche Soldaten der Dienstgrade unterhalb eines Leutnants ein Jahr lang nur den halben Preis zahlen müssen«.
Drei Wochen zuvor hatte der Diário de Lisboa bereits ein Manifest der »Bewegung der revolutionären Homosexuellen« veröffentlicht. Unter dem alten Regime waren sie massiv verfolgt worden, ihre Bars und Clubs wurden immer wieder zur Zielscheibe von Razzien und Schließungen.
In Paris wurde das portugiesische Konsulat gestürmt, Kriegsdienstverweigerer, Deserteure und viele ausgewanderte Arbeiter erhielten Pässe. Der Regierung blieb nichts anderes übrig, als eine Teilamnestie zu gewähren: Man konnte zurückkehren, musste sich aber freiwillig zum Dienst melden. In den Arbeiterkneipen entbrannten hitzige Debatten, Fußball interessierte praktisch niemanden mehr. Es herrschten gemischte Gefühle: Stärke und Hoffnung, aber auch das Wissen um die Krise. Nichts war sicher.
Das vielleicht Schönste war das täglich sichtbar wachsende Selbstvertrauen. Für die Arbeiterklasse rund um die Welt bestand größte Sympathie. Menschen diskutierten über die Lage in Frankreich, England, Argentinien und Brasilien, als ob sie ihr Leben lang Politik an der Universität gelehrt hätten. Meine Nachbarin war kaum noch wiederzuerkennen: Verzückt fragte sie sich, ob die Arbeiter gewinnen könnten. Sie sagte, sie verstehe »nicht viel von Politik«, aber nach Monaten voller Schweigen, erzwungenem Anstand und Angst waren ihre unverblümte Freude und Aufregung unglaublich erfrischend.
Umbenennungen standen ganz oben auf der Tagesordnung: Aus dem Estádio Tomás (der alte Präsident) wurde ein »Stadion der Freiheit«, aus der Salazar-Brücke die Brücke des 25. April oder Rote Brücke. Kaum zu glauben, aber der Wechselkurs des Escudo stieg. Agostinho Neto, der Führer der angolanischen Befreiungsbewegung MPLA, schickte eine Grußbotschaft an das portugiesische Volk: »Dies ist ein gemeinsamer Sieg für das portugiesische Volk und die kolonisierten Länder, denn es war offensichtlich, dass die Portugiesen ihre Kolonialkriege nicht gewinnen konnten.«
Am 6. Mai brach im Fischereibetrieb von Matosinhos ein Streik der Fischer aus. Er dauerte vier Tage lang an. Im touristischen Komplex in Troia legten am 9. Mai rund 4.000 Beschäftigte die Arbeit nieder. Die Uhrenfabrik Timex in der Nähe von Lissabon wurde von 1.800 Beschäftigten besetzt; sie forderten höhere Löhne und die Entfernung von sechs PIDE-Beamten aus dem Betrieb. Am 13. Mai blieben 1.600 Arbeiter im Bergbaurevier Panasqueira der Arbeit fern (darunter 400 Kapverdier), um ihrer Forderung nach einem Mindestlohn von 6.000 Escudos im Monat Nachdruck zu verleihen.
In den Armenvierteln von Porto demonstrierten Tausende und forderten menschenwürdige Wohnungen. Die Arbeiter des Reifenproduzenten Firestone besetzten ihre Fabriken in Lissabon, Alcochete, Porto und Coimbra und forderten die Entlassung der ausländischen Geschäftsführer. Am 15. Mai traten 8.400 Arbeiter der Lisnave-Werft in den Streik und besetzten das Gelände, während sich im Norden rund 500 Bergarbeiter in Borralha ihren streikenden Kollegen anschlossen.
Als sich gerade die Erste provisorische Regierung bildete, schlossen sich am 16. Mai auch die Beschäftigten der Universitätskantinen der wachsenden Bewegung an. Die Textilarbeiter in Covilhá, Mira d’Aire und Castanheira de Pera wurden ebenfalls aktiv. Auch in Lissabon waren von den Sacor-Ölraffinerien bis zum Schreibmaschinenhersteller Messa zahllose Arbeiterinnen und Arbeiter im Streik.
Während die linken Zeitungen noch damit beschäftigt waren, sich (neu) zu organisieren, streikten die Fischer von Nazaré und die Beschäftigten des Pharmaunternehmens Bayer. Am 21. Mai demonstrierten 20.000 Metallarbeiter in Lissabon und forderten höhere Löhne. Die erste Ausgabe der maoistischen Tageszeitung Luta Popular konnte über eine Vielzahl von Konflikten berichten, darunter der Streik der Taxifahrer in Lissabon. Am selben Tag regte sich auch die Belegschaft der teilstaatlichen Öltanker-Reederei Soponata: Während die 600 Arbeiter an Land die Büros besetzten, bekundeten die 1.400 Seeleute per Funk von hoher See aus ihre Unterstützung.
Das Ausmaß der Proteste war kaum vorstellbar, überall schien es zu brodeln. Am 27. Mai verweigerten die Busfahrer des Transportunternehmens Carris die Arbeit. Die Gewerkschaften verwiesen auf das Beispiel Chile und verglichen die Auseinandersetzung bei Carris mit dem dortigen rechtsgerichteten Streik der Transportunternehmer. Sie versuchten, die Streikbewegung zu entschärfen, aber ihre Bemühungen waren nur zum Teil erfolgreich, denn die vielen aufgestauten Forderungen der Arbeiter brachen nun offen hervor.
Spίnola hielt in Porto vor mehreren Hunderttausend Menschen eine Rede. Es war das erste Mal, dass er in den Norden fuhr. »Der 25. April hat dem Volk die Freiheit gegeben«, erklärte er. »Diese Freiheit müssen wir bewahren. (…) Und jetzt, nach diesem ersten Monat voller Enthusiasmus, müssen wir anfangen, wie reife Menschen über die Zukunft nachzudenken. Wir müssen unsere Freiheit gegen die reaktionären Kräfte verteidigen, gegen Kräfte, die diese Freiheit einschränken wollen. Nicht durch Anarchie, nicht durch wirtschaftliches Chaos, Unordnung oder Arbeitslosigkeit werden wir das Portugal der Zukunft aufbauen. Das ist der Weg der Reaktionäre, der Konterrevolutionäre. Das Militär und das Volk müssen sich diesem Weg der Zerstörung gemeinsam entgegenstellen.«
Das Militär, namentlich die Junta, war an der Macht. Welchen Einfluss hatte die »Bewegung der Hauptleute«? Das wusste niemand. Offiziere wurden in verschiedene Landesteile geschickt, um zu »organisieren und konsolidieren«. Aber was sollte konsolidiert werden? Eine bürgerliche Demokratie? Eine bonapartistische Regierung? Die Entwicklung zum Staatskapitalismus? Niemand war sich wirklich sicher und kaum...
Erscheint lt. Verlag | 4.3.2024 |
---|---|
Übersetzer | Anke Fusek, Felix Kurz |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Zeitgeschichte ab 1945 |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Schlagworte | 1974 • Arbeiterbewegung • Demokratie • Diktatur • Dokumentation • Erlebnisbericht • Faschismus • Friedliche Revolution • Massenbewegung • Militärputsch • Nelkenrevolution • Putsch • Streik • Tagebuch • Zeitgeschichte |
ISBN-10 | 3-96054-351-4 / 3960543514 |
ISBN-13 | 978-3-96054-351-0 / 9783960543510 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 4,5 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich