Alles, was wir träumten -  Karen Foxlee

Alles, was wir träumten (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
352 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-75569-8 (ISBN)
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Lenny Spink ist die Schwester eines Giganten. Ihr kleiner Bruder Davey ist erst sieben, aber schon fast so groß wie ein erwachsener Mann. Das monatliche Abo eines Lexikons lässt die Geschwister wunderbar träumen: Lenny liest alles über Blattkäfer und will Insektenforscherin werden. Davey möchte seit K wie Kanada am liebsten auswandern und zeichnet Blockhütten... Doch je mehr Daveys Krankheit fortschreitet, desto schwieriger wird es für die beiden, die Realität auszublenden. Ein bewegender Roman über Trauer und Hoffnung, beeindruckend und einfühlsam erzählt.

Karen Foxlee, geb. 1971 in Queensland/Australien, arbeitete viele Jahre als Krankenschwester, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte und Creative Writing studierte. Sie lebt als freie Autorin in Gympie/Queensland in Australien. Bei Beltz & Gelberg erschien bereits ihr deutschsprachiges Debüt 'Das nachtblaue Kleid' und 'Ophelia und das Geheimnis des magischen Museums'.

ABSOLUT NORMAL


3,2 KG 51 CM JULI 1969

Unsere Mutter hatte eine dunkle Ahnung in ihrem Herzen. Sie war so groß wie der Himmel, der in einen Fingerhut passt. Wie dunkle Ahnungen eben so sind. Sie haben riesige Ausmaße, können sich aber in den winzigsten Ecken verstecken. Man kann sie blitzschnell runterschlucken und in sich herumtragen, sodass niemand sie bemerkt.

»Irgendwas ist nicht in Ordnung«, sagte sie, als sie mit Baby Davey aus dem Krankenhaus kam.

Sie rieb sich mit den Fingern über die Brust und betrachtete ihn, wie er in ihrer Armbeuge schlief.

»Ich hab da so ein Gefühl«, sagte sie.

Sie war gut darin, das Nicht-in-Ordnung-Sein von Dingen zu erkennen, Kümmernisse und Krankheiten, und im Park entdeckte sie immer die eine hinkende Taube.

Sie wusste, wann Mrs Gaspars Lunge wieder pfeifen würde, bevor sie tatsächlich pfiff. Sie wusste, dass irgendein unerkanntes Leiden der Grund für mein dünnes Haar sein musste.

Manche Tage waren weniger in Ordnung als andere. Und manche waren überhaupt nicht in Ordnung. Und zwar von der Sekunde an, in der sie die Augen aufschlug: »Irgendwas ist nicht in Ordnung«, sagte sie.

»Tut es weh?«, fragte ich sie. Ich musterte meinen neuen kleinen Bruder, und er war so perfekt wie eine Walnuss in ihrer Schale.

»Nein, weh tut es nicht«, sagte sie, nahm meine kleine, dreijährige Hand und legte sie auf ihr Herz. Ich spürte ihre Rippen unter dem Nachthemd. »Das ist kein Schmerzgefühl. Nur ein Irgendwas-wird-passieren-Gefühl.«

»Etwas Gutes oder etwas Schlechtes?«, fragte ich.

»Gut oder schlecht oder irgendwas dazwischen«, sagte sie. »Das wird sich zeigen.«

Sechs Tage vor Daveys Geburt hatte Neil Armstrong seinen berühmten Schritt getan und alle waren noch im Mondlandungsfieber. Mutter erzählte immer gern Geschichten, wenn sie in der Sofa-liege-Laune war. In der Die-Haare-offen-tragen-Laune. In der Kraul-mir-die-Füße-dann-erzähl-ich’s-dir-Laune. Wir kannten ihre Geschichten alle auswendig, Wort für Wort, sodass wir sie, wenn nötig, auch selber hätten erzählen können. Die Geschichte von dem Tag, als ihr Vater nach dem Auspusten seiner Geburtstagskerzen einen Herzinfarkt bekam und starb. Die Geschichte von ihrem Freund Louis Martin, der vom Blitz getroffen wurde, als er im Gewitter von der Schule nach Hause ging. Die Geschichte von dem Fluss, in dem sie mit sieben Jahren fast ertrunken wäre, von dem allerersten selbst genähten Kleid, das ihre Mutter ihr aber zu tragen verbot, weil es kirschrot war. Die Geschichte von dem UFO, das sie neben dem Highway gesehen hatte, als sie mit Peter Lenard Spink durchgebrannt war.

»Du bist an einem perfekten Sommertag auf die Welt gekommen.« So fing Daveys Geschichte immer an.

Sie konnte diese Perfektion nur durchs Busfenster bemerkt haben, denn ein Taxi war zu teuer: die in der Hitze schimmernde und flimmernde Second Street, die trägen Schönwetterwolken, deren Schatten über die in der Sonne brutzelnden Autos hinwegglitten, die Ringelblumen im Park, die Eis essenden Kinder.

Mich hatte sie bei Mrs Gaspar in Nummer 17 gelassen. Mrs Gaspar hatte zwei rotblonde Zwergspitze, die Karl und Karla hießen. Die ganze Wohnung roch nach ihnen und nach den Aschenbechern voller weißer Zigarettenfilter, alle mit einem Ring aus pfirsichfarbenem Lippenstift verziert. Mrs Gaspars Wohnung war ein Kaleidoskop aus hellbraunen Häkeldeckchen und kürbisfarbenen Teppichen, und selbst ihre orange Turmfrisur, die immer ein bisschen Schlagseite hatte, passte farblich zur Einrichtung. Ihre selbst gestrickten Pullis ribbelten überall auf und ihre Plüschpantoffeln mit den Bommeln waren so ramponiert, als habe sie sie aus dem Müll gefischt. Mrs Gaspar segnete mich immer gern, wenn meine Mutter nicht hinsah, malte ein Kreuz auf meine kleine Stirn und flüsterte irgendetwas auf Ungarisch.

»Ja, der Tag war wirklich perfekt«, sagte Mutter. »Und ich wusste, dass du kommen würdest. Ich wusste es einfach, obwohl ich noch gar keine Wehe gehabt hatte. Keine einzige. Aber irgendetwas sagte mir, dass ich ins Krankenhaus fahren sollte. Irgendetwas flüsterte, Cynthia Spink, du fährst jetzt sofort ins Krankenhaus

»Was war das für ein Etwas?«, fragte ich.

»Still jetzt«, sagte sie.

Aber ich wollte es gern wissen. Sie war mager vor Sorge, unsere Mutter. Sie fuhr sich mit den Fingern durch ihr langes, blondes Haar und schloss die Augen. Sie bestand fast ausschließlich aus Sorgen und Magie.

»Eine Stimme?« Wenn es eine Stimme gewesen war, hatte sie sich bestimmt wie trockenes Laub angehört.

»Ich hab gesagt, du sollst still sein, Lenny, das ist meine Geschichte. Ich hab dich zu Mrs Gaspar gegenüber gebracht und dann die Linie 24 genommen. Die Stimme hat nämlich gesagt, Nimm die 24, Cynthia, die macht nicht den Schlenker am Supermarkt vorbei, sondern fährt direkt die Second Street hinunter, nur fünf Stationen

Ich stellte mir eine Stimme wie raschelndes Laub vor, die all das sagt. Ich schaute zu Davey rüber und verdrehte die Augen, aber er ging nicht darauf ein, weil er die Geschichte seiner plötzlichen Ankunft so gerne hörte.

»Du warst schon eine Woche überfällig. Was habe ich geschwitzt in diesem Bus. Literweise muss ich geschwitzt haben. Vorm Krankenhaus bin ich dann ausgestiegen, und ob du’s glaubst oder nicht, ich stand noch nicht ganz auf dem Fußweg, da hatte ich eine so starke Wehe, dass ich mich zusammenkrümmen musste, und keine Minute später die nächste. Und dann noch zwei, und dann hab ich es nicht mal mehr ins Krankenhaus geschafft, Davey. Von allen Seiten rannten Leute auf mich zu, und dann bist du auch schon gekommen, auf den Stufen direkt vorm Eingang, wo ständig jemand vorbeiging.«

»Heiliger Batman«, sagte Davey.

Aber wir hörten die Geschichte ja nicht zum ersten Mal. Er wusste, dass da noch was kam.

»Aber das Verrückteste war«, sagte sie, »als du dann da warst, haben sie mir erzählt, du hättest einen Knoten in der Nabelschnur gehabt. Einen richtigen Knoten, ganz festgezogen, und dass du deshalb so schnell rausgekommen bist, weil mein Körper und dein Körper wussten, dass du sonst zu wenig Blut und Sauerstoff bekommst.«

Blut und Sauerstoff. Den Teil habe ich immer in Gedanken wiederholt. Blut und Sauerstoff.

»Ach herrje«, sagte Davey.

»Um ein Haar hätte es dich nie gegeben«, sagte Mutter.

»Ein Glück, dass du die 24 genommen hast«, sagte Davey.

»Du warst so ein hübsches Baby«, sagte Mutter.

»Ja?«, fragte Davey.

»Wunderhübsch«, sagte Mutter.

Aber von ihren dunklen Ahnungen erzählte sie ihm nichts, nie, kein einziges Mal. Das blieb unser Geheimnis. Tauchte nicht auf in der Geschichte.

Und sie erzählte ihm auch nie, wie sie Dr. Leopold gefragt hatte, ob wirklich alles in Ordnung war.

»Aber sicher, putzmunter, das Kerlchen«, sagte Dr. Leopold.

»Sind Sie sicher?«

»Aber ja, er ist absolut normal«, sagte Dr. Leopold an diesem perfekten Sommertag.

Also hat sie gelächelt und genickt.

»Name des Vaters?«, fragte der Arzt. Er füllte gerade den Geburtsschein aus.

»Peter Lenard Spink«, sagte Mutter. »L-e-n-a-r-d.«

»Und kommt Mr Spink denn morgen mal vorbei, um sich seinen Sohn anzusehen?«, fragte der Arzt.

»Ja«, sagte Mutter. »Ja, das macht er.«

*

Als ich älter war, habe ich seinen Namen abends im Bett vor mich hingesagt. Peter Lenard Spink. Peter Lenard Spink. Peter Lenard Spink. Sein Name holperte mir über die Zunge wie ein platter Reifen. Ich flüsterte ihn so lange vor mich hin, bis Davey sagte, ich soll still sein. Aber es war ein Name, der ausgesprochen werden musste.

Er kam weder am nächsten noch am übernächsten Tag. Ganze Wochen vergingen. Davey schlief und meine Mutter machte sich Sorgen, weil er so viel schlief. Weil er so wenig aß. Weil er ein Junge war. Weil so viele Rechnungen kamen, die sie nicht bezahlen konnte, und weil sie nicht wusste, wer auf uns aufpassen sollte, wenn sie wieder arbeiten ging.

Die Wochen waren sonnig, aber voller Sorgen. Mrs Gaspar kam jeden Tag zu uns herüber, kümmerte sich um Davey und sang ihm traurige Wiegenlieder vor. Jeden Nachmittag gab es ein Gewitter, das die Straßen von Schmutz und Staub befreite, aber nichts konnte unsere Mutter von Peter Lenard Spink befreien.

Bis sich eines Nachts der Schlüssel im Schloss drehte und Peter Lenard Spink erschien. Er blieb ganz still stehen,...

Erscheint lt. Verlag 12.2.2020
Übersetzer Annette von der Weppen
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch
ISBN-10 3-407-75569-4 / 3407755694
ISBN-13 978-3-407-75569-8 / 9783407755698
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