Alles im Grünen oder Wie ich die Kette der Beschissenheit durchbrach (eBook)

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2024 | 1. Auflage
224 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01577-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Alles im Grünen oder Wie ich die Kette der Beschissenheit durchbrach -  Filiz Penzkofer
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«Beeindruckend, wie es Filiz Penzkofer gelingt, eine völlig abgedrehte Story zu entwerfen und gleichzeitig voller Empathie und mit großer Ernsthaftigkeit über Einsamkeit, Angst und Tod zu erzählen. Dieser Roman ist überraschend und wild!» Sarah Jäger In einer unfreiwilligen Berliner WG des «Betreuten Wohnen e. V. Hermannplatz» wohnen: a) Rabea, die bei ihren häufigen Panikattacken gern Vogelstimmen nachahmt, vorzugsweise Kraniche, b) Queen Tiger, selbst ernannte Ebay-Voodoo-Hexe, die in der Wohnung Liebeszauber mithilfe von abgenagten Hühnerknochen ausübt, und c) Musti, ein syrischer Geflüchteter, der seine Deutschkenntnisse mit (knapp danebengegriffenen) Redewendungen aufpeppen will. Die drei haben wirklich nichts gemeinsam, bis die grantige Hauseigentümerin vermeintlich stirbt. Und sie davon überzeugt sind, die Leiche samt ihrem Mops beiseiteschaffen zu müssen. Dass dabei alles schiefgeht, was schiefgehen kann, ist vorprogrammiert. Warum die drei trotz allem schließlich als Held und Heldinnen der Stadt gefeiert werden, wissen sie selbst nicht so genau. Aber dass sie von nun an nichts mehr auseinanderbringen kann, schon.

Filiz Penzkofer, 1985 in München geboren, studierte Germanistik, Kommunikationswissenschaften und Turkologie in Bamberg und Ankara. Sie lebt in Berlin, wo sie als freie Autorin und Journalistin tätig ist. Zuvor war sie viele Jahre als Radio-Kolumnistin im Bayerischen Rundfunk zu hören, hat Theaterkurse für Kinder geleitet, Filme mit Jugendlichen gedreht und Deutsch unterrichtet.

Filiz Penzkofer, 1985 in München geboren, studierte Germanistik, Kommunikationswissenschaften und Turkologie in Bamberg und Ankara. Sie lebt in Berlin, wo sie als freie Autorin und Journalistin tätig ist. Zuvor war sie viele Jahre als Radio-Kolumnistin im Bayerischen Rundfunk zu hören, hat Theaterkurse für Kinder geleitet, Filme mit Jugendlichen gedreht und Deutsch unterrichtet.

Queen Tigers okkulter Gesang aus dem Nebenraum klingt wie der Soundtrack zu einem Psychothriller. Durch die andere Zimmerwand höre ich, wie Musti Allahu akbar murmelt. Wirklich die perfekte Umgebung für eine Angstpatientin wie mich! Hektisch drücke ich die Schnellwahltaste meines Handys.

«Jugendnotdienst Berlin.» Maya, meine Betreuerin, klingt lässig wie immer. Keine Ahnung, wie man in einer Welt wie dieser so klingen kann.

«Ich muss hier raus!», sage ich.

«Das hatten wir doch gestern schon, Rabea», antwortet Maya. Sie kommt immer montags, dienstags und donnerstags für Einzelgespräche zu uns ins Betreute Wohnen am Hermannplatz. Heute ist Freitag, und ich bin immer noch hier.

«Wie gesagt! Ich will einfach nur in eine Einrichtung mit ganz NORMALEN psychisch Kranken!»

Maya erinnert mich daran, dass ich Vogelgeräusche mache, wenn ich mich aufrege. So normal sei das ja wohl auch nicht. Geht’s noch?! Als ob das vergleichbar wäre mit dem Programm, das meine Mitbewohner hier fahren.

«Queen Tiger spricht gerade das Vaterunser rückwärts! Sie hat wieder eine ihrer Sessions», versuche ich, Maya zu überzeugen, natürlich maximal leise, damit mich die Hexe nicht durch die Wand hören kann.

«Du wohnst jetzt seit fast einem Monat dort.» Maya klingt unbeeindruckt. «Meinst du nicht, du solltest deinen Mitbewohnern mal langsam eine Chance geben?»

Ich sage nichts.

«Alle Einrichtungen sind voll, es gibt Wartelisten. Du hast riesiges Glück, dass du da untergekommen bist.»

Unter riesigem Glück stelle ich mir etwas anderes vor, als mit einer Satanistin und einem Salafisten zusammenzuleben. Seitdem ich hier wohne, versuche ich, außerhalb meines Zimmers kein Haar und keine Hautschuppe zu verlieren, damit Queen Tiger daraus keinen Voodoo-Zauber basteln kann.

«Mach dich mal locker», sagt Maya. «Die sind doch nett.»

Nett. Ja genau. Sagt das Rottweilerherrchen am Kinderspielplatz.

 

Über Musti weiß ich so gut wie nichts. Nur, dass er aus Syrien geflüchtet ist und vor dem Betreuten Wohnen in einer überfüllten Turnhalle in Kreuzberg gewohnt hat. Das hat mir Maya erzählt. Manchmal stelle ich mir vor, dass auch hier ein Krieg ausbricht. Dass irgendwelche fanatischen Killer durch die Straßen laufen, die niemand aufhalten wird.

Meine Therapeutin sagt, dass es nicht möglich ist, ununterbrochen Angst zu haben. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sich meine Therapeutin täuscht. Eigentlich ist Angst mein Grundzustand. Und dann gibt es kurze Momente der Entspannung, in denen habe ich dann zwar auch Angst, aber weniger: Wenn es Tag ist, meine Mitbewohner nicht zu Hause sind, das Fenster gekippt ist, ich die Marktgeräusche vom Hermannplatz höre, die mir suggerieren, dass draußen alles okay ist, und ich leise – um bloß keine sich anbahnende Katastrophe zu verpassen – eine Doku über Vögel sehe. In diesen seltenen Augenblicken versuche ich, ganz bewusst meine Schultern nach unten zu drücken und meine Zahnreihen voneinander zu lösen. «Brrrrrr», mache ich dann und schnaube wie ein Pferd. Das soll die Kiefer entspannen. Und wenn die Kiefer entspannt sind, normalisiert sich auch die Atmung, sagt meine Therapeutin. Eigentlich sollte ich das während einer Panikattacke machen, aber da habe ich wirklich anderes zu tun, als Pferde zu imitieren.

Wenn ich schon Angst habe, obwohl doch von außen betrachtet eigentlich alles normal ist, hier, wo ich lebe, wie schlimm muss es dann sein, in einem Krieg zu sein? Oder auf der Flucht? Das Abwägen, wo die Überlebenschancen höher sind. Aber ich kann mir nicht helfen, alles an Musti lässt mich zittern. Sein Salafistenbart, sein finsterer Blick … sogar die Simpsons-T-Shirts, die er trägt und die bei anderen einfach nur maximal peinlich wirken würden, machen mir Angst. Sie sind mir zu auffällig unauffällig. Genauso wie seine Brille, die wahrscheinlich aus Fensterglas ist und ihm einen harmlosen Streberstyle verleihen soll. Bei meinem Glück hat Maya den einzigen Islamisten aus der Notunterkunft gerettet, und den habe ich jetzt an der Backe.

Jeden Tag beobachte ich ihn durch die Fensterscheibe, wie er zum U-Bahn-Eingang am Hermannplatz läuft, einen mächtigen Rucksack auf den Schultern. Dass mich Rucksäcke in Verbindung mit U-Bahn-Stationen triggern, muss ich wohl nicht extra erwähnen. Punkt halb neun verlässt er das Haus, gegen 12.45 Uhr kommt er zurück. Keine Ahnung, wo er sich in der Zwischenzeit rumtreibt. In einer der Hasspredigermoscheen in der Umgebung, nehme ich an. Ganz genau weiß ich das natürlich nicht. Ich bin keine Stalkerin. Auch wenn ich mir schon überlegt habe, ihm heimlich zu folgen.

Letztendlich habe ich mich dagegen entschieden. Niemals würde ich freiwillig in eine U-Bahn steigen, und vor allem nicht dann, wenn Musti drin ist.

Dabei muss ich wissen, mit wem ich es zu tun habe.

Ich beobachte die ganze Zeit, um im Ernstfall sofort reagieren zu können. «Habachtstellung» nennt meine Therapeutin das, ich nenne es Überlebensstrategie. Am Tag meines Einzugs hat Maya ein Vorstellungstreffen organisiert. Sie hat Sahneschnitten und eine große Flasche Cola mitgebracht, zu dritt saßen wir um den Küchentisch und sollten unter Mayas Aufsicht miteinander reden. Es war Juli und heiß, Queen Tiger trug ihren weißen Pelzmantel und starrte mich mit tödlichen Augen an. Da, wo andere das Augenweiß haben, ist bei ihr alles schwarz. «Kunstblut!», sagte Maya schnell. Ich blickte zu Musti. Der strich sich langsam über den Bart. «Die Karten werden neu gemischt!», sagte er. Es klang wie eine Drohung. Ich exte mein Glas, murmelte etwas wie «Na denn, schön, euch alle kennenzulernen» und verschwand in mein Zimmer. Das war die längste Zeit, die ich mit meinen Mitbewohnern verbracht habe. Einmal hat Musti danach noch an meine Tür geklopft. Ich habe die Luft angehalten und nicht geantwortet. Zu meiner Erleichterung hat er sich irgendwann zurück in sein Zimmer verzogen. Queen Tiger hat mich bisher Gott sei Dank in Ruhe gelassen. Wenn sie in der Küche steht und Hühnerköpfe abkocht, gehe ich nicht raus. Einmal musste ich das Ende einer Wasserflasche abschneiden und hineinpinkeln.

Am Anfang habe ich mich noch gewundert, warum sie, die offensichtlich Menschen hasst, so viel Besuch bekommt. Dann habe ich ihr Inserat auf eBay-Kleinanzeigen gefunden. Schwarze Magie von ausgewählter Voodoo-Priesterin stand darin. Darunter war so eine Art Leistungskatalog aufgelistet: «Partnerinnenrückführung, Verfluchungen 1. bis 3. Grades, Rachezauber, Schwarze Magie, Treuetestungen, Zukunftsprognose mit schamanischem Hühnerknochenwurf, Bekämpfung der Nebenbuhlerin».

Die Klientin, die heute bei Queen Tiger ist, hat einen Treuetest mit anschließender Partnerrückführung gebucht, was anscheinend ein 2-in-1-Angebot war. Wenn ich ein Glas gegen die Wand halte und mein Ohr daraufpresse, kann ich auch leise gesprochene Worte verstehen. Vorhin ging es um einen Martin, der kaum noch zu Hause ist. Manchmal bleibt er über Nacht weg. Die Klientin hat sogar einen schwarzen Seidenstrumpf in seiner Jackentasche gefunden, der definitiv nicht von ihr ist.

Ich will Maya gerade von meinen Herzproblemen erzählen, die ich ganz bestimmt habe, denn es kann ja nicht gesund sein, dass mein Puls mit einer Mindestgeschwindigkeit von 160 rast, jedes Mal, wenn ich messe, und dass ich deswegen Ruhe brauche, die in dieser Wohnung ganz sicher nicht zu finden ist, als mir plötzlich ein grauenhaftes Quieken durch Mark und Bein fährt. Es ist der qualvolle, lang gezogene Schrei eines Tieres: Wiiiiiiik! Dann ist es mit einem Mal ganz still.

«Ich glaube, die schlachten gerade Meerschweinchen!», flüstere ich mit stockendem Herzen ins Telefon.

Maya lacht auf. «Du hast wirklich eine herrliche Fantasie, Rabea. Schon mal überlegt, Schauerromane zu schreiben?» Im nächsten Moment hat sie aufgelegt.

«Allahu akbar!», ruft der Araber.

 

Angstvergleich nenne ich das. Mein Gehirn ist 24/7 damit beschäftigt. In wahrscheinlich unendlich langen mathematischen Formeln rechnet es in Lichtgeschwindigkeit aus, was exakt in diesem Moment am allergefährlichsten für mich ist. Es sammelt alles, was es über eine Sache weiß, überprüft Fluchtwege, Überlebenschancen und so weiter. Mein Gehirnapparat ruckelt, brummt, hüpft und spuckt mir das Ergebnis aus: Queen Tiger ist gefährlicher als Musti. Denn: Ganz sicher rentiert es sich nicht, sich für nur zwei Opfer in die Luft zu sprengen. Er müsste ja nur rüber zur Postfiliale in den Karstadt gehen, wo es mit nur einem Knopfdruck Hunderte Opfer geben würde. Oder an die Schlange von MediaMarkt. Außerdem ist es wahrscheinlicher, von einem Blitz erschlagen zu werden, als Opfer eines islamistischen Anschlags zu werden. Das weiß mein Gehirn von meiner Therapeutin, die hat das heute in unserer Sitzung gesagt.

Überhaupt hat sie heute ziemlich viel gesagt: Ich soll keine Sachen mehr googeln, die in diese Richtung gehen. Also in die Richtung Terror, Dschihad, Islamismus. Auch keine Flugzeugabstürze, Explosionen und Menschen, die an Pilzvergiftungen sterben. Überhaupt soll ich weniger googeln. Aber das ist leichter gesagt als getan. Was bitte soll man sonst machen, wenn man Angst davor hat, die Wohnung zu verlassen. Nägelmaniküre ist jedenfalls nicht mein Ding. Außerdem ist Nagellack bestimmt krebserregend. Filme gucken und googeln, so viel anderes bleibt da nicht. Ich verbringe mehr Zeit vor meinem Laptop als alle anderen Menschen. Wäre das, was ich online lese, in Papierform, würde es einen Hektar Regenwald pro Tag killen und unsere Erdtemperatur innerhalb weniger Wochen um...

Erscheint lt. Verlag 30.1.2024
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte Angststörung • Berlin • Bücher für Jugendliche • Coming of Age • Freundschaftsgeschichte • Freundschaftsroman • Geflüchteter • Geschenk für Tochter • Helden • Jugendbücher • jugendbuch mädchen ab 14 • Jugendbuch psychische Probleme • Jugendliteratur • Junge Erwachsene Romane • Krankenhaus • lustiges Jugendbuch 9. Klasse • lustiges Jugendbuch ab 14 • Mädchenbücher ab 14 • Mariana Leky • Mops • Musti • Nach von nach Süden • Queen Tiger • Rabea • Redewendungen • Vincent will Meer • Vogelstimmen • WG
ISBN-10 3-644-01577-5 / 3644015775
ISBN-13 978-3-644-01577-7 / 9783644015777
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