Lil (eBook)

Roman
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2024 | 1. Auflage
238 Seiten
Verlag C.H.Beck
978-3-406-81376-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Lil -  Markus Gasser
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Die brillante Unternehmerin Lillian Cutting ist so erfolgreich und unabhängig, wie es eine Frau um 1880 nur sein kann. Auf ihrem eigensinnigen Weg nach oben hat sie gegen alle gesellschaftlichen Konventionen verstoßen und ganz New York gegen sich aufgebracht. Dort ist man sich einig: Diese Frau muss verschwinden. Ein für alle Mal. Koste es, was es wolle. Dabei hätten alle damit rechnen können, dass Lil ihre Freiheit, ihre Würde und ihr Vermögen niemals opfern würde. Und als es so weit kommt, dass es um ihr nacktes Überleben geht, dreht 'Lil the Kill' den Spieß um. Sie ist eine Ausnahmeerscheinung im New York um 1880, nicht nur unter den herrschenden Familien der Stadt, den Belmorals und Vandermeers: Lange Zeit hat die Eisenbahnmagnatin Lillian Cutting, an der Seite ihres loyalen Mannes Chev, mit ihrem exzentrischen Führungsstil noch die kühnsten Spekulanten überflügelt. Und sich mächtige Feinde gemacht. So scheint es ihrem Sohn Robert nach Chevs Tod ein Leichtes, Lillian mit Hilfe eines sendungsbewussten Psychiaters zu entmündigen und in eine geschlossene Anstalt wegsperren zu lassen. Aber Lil nimmt den Kampf auf - gegen eine Gesellschaft, die Eigensinn als Krankheit denunziert. Rasant, komisch und unerschrocken schildert Markus Gasser, wie eine furchtlose Frau an ihren hochmütigen Peinigern fantasievoll Rache nimmt. «Lil» ist eine universelle Geschichte voller Zorn und Trost über die Jagd nach dem großen Geld, listige Söhne und unversöhnliche Töchter, das Recht auf den eigenen Lebensentwurf und über Machtkämpfe, wie wir sie heute noch führen - erzählt von Lils Nachfahrin Sarah, die mit den verfänglichen Methoden der Psychiatrie noch eine ganz persönliche Rechnung offen hat.

Markus Gasser ist Essayist, Autor zahlreicher Bücher, Universitätsdozent und Schöpfer des beliebten YouTube-Kanals "Literatur Ist Alles". <br>

1

Die Frau aus Chicago


ICH DENKE NICHT MEHR AN SELBSTMORD seit jenem Morgen, an dem mich mein Chefredakteur Torri del Benaco um zehn Uhr siebzehn mit der Nachricht weckte: «Sarah! Sie haben ihn.»

«Ah ja? Wen denn?», fragte ich, mürrisch und kraftlos, «Jack the Ripper? Donald Trump?»

In jenem Sommer 2017 war ich, nach Operation und Strahlentherapie, von meinem Job als Journalistin beim Wall Street Journal beurlaubt. Ich lag mit Fieber zu Hause in meinem Apartment im Greenwich Village, ein Kühlkissen auf meine brennenden Augen gepresst, trottete vom Schlafzimmer zur Toilette und wieder zurück, wünschte mir keinen nächsten Sommer und wurde nie wirklich wach.

Jetzt war ich es: Das Krankenhaus der Cutting Foundation im Norden Manhattans − einst eine Nervenklinik − sollte in ein Luxushotel verwandelt werden, und beim Ausräumen des Hauptgebäudes hatte ein Arbeiter im Bauschutt der tiefen Keller, zwischen verfaulten Matratzen und zerbrochenen Aktenschränken, jenen Brief Lillian Cuttings gefunden, der im April 1880 an die Anwältin Colby Sandberg adressiert, dann aber nicht abgeschickt worden war.

Warum nicht? Das wusste ich.

Der gehetzte Torri, der sogar nachts durch Dutzende Telefonate schlingert, sagte nur noch: «Sarah, fahr sofort rauf … wenn du das schaffst. Vielleicht hilft es dir.»

Es half. Lange hatte eine meiner Tanten die Briefe, Tagebücher, Prozessakten der Cuttings und Sandbergs unter Verschluss gehalten, weil sie einen weiteren Skandal fürchtete, so als wären jene Briefe, Tagebücher, Aktenbündel ein böses Familiengeheimnis − was sie natürlich auch sind. Nach dem Bankrott jener Tante, die mit ihren achtundachtzig ebenso verzagt durch die Welt wankt wie in den achtundachtzig Jahren zuvor, gingen die Briefe, Tagebücher, Akten endlich in meinen Besitz über. Aber dieser eine Brief Lil Cuttings an Colby Sandberg, ein schief beschriebenes Blatt voller Angst und Zorn, war das letzte, erschütternde Dokument, das mir zu dieser Geschichte gefehlt hatte.

Jetzt bin ich sie uns schuldig.

«Sie ist ja auch verdammt typisch für euch Menschen», meint Miss Brontë.

Und sie hat recht. Es ist nur aus Zufall die Geschichte meiner Familie, der Cuttings, die Leute tragen darin nur zufällig englische Namen, sie hätte sich ebenso gut in Berlin oder Baden, Paris oder Prag, Wien oder Warschau zutragen können. Doch tut sie mir weh. Ich grabe sie aus, um sie für mich zu begraben. Ich blicke zurück, um nicht nach vorne blicken zu müssen. Danach muss ich weit, weit weg, wie Chev Cutting, der nach einem Streit mit Robert oft zu seiner Lil sagte: «Es wird Zeit für unsere Inseln.»

Die Affäre um das Ehepaar Chev und Lillian Cutting und ihren Sohn Robert kann noch heute, in unserem an Skandalen ja nicht gerade armen Jahrhundert, jeden fröhlichen Abend vermasseln. Wir debattieren über korrupte Banken, schamanische Fernheilung, Frauen in Chefetagen und ob es eine gute Sache sei, reich und berühmt zu werden, indem man ohne Kompromiss tut, was man tun will.

Bis unweigerlich der Name Cutting fällt.

«Die macht sich wichtig wie Lillian Cutting», sagen die einen − «Also für mich ist Lillian Cutting eine Heldin», die anderen.

«Das meinst du nicht ernst! Die hatte keine Ideale, bloß Aktien. Die war doch krank. Wer bitte ruiniert seinen eigenen Sohn?»

«Wäre Lil ein Mann gewesen, würdest du in deiner Wortwahl vorsichtiger sein.»

«Jetzt geht das wieder los.»

«Was bitte ist ‹das›?»

Und schon ist der Abend im Eimer.

Doch sie alle erinnern sich der Familie Cutting nur im Groben, mit Schaudern, Bewunderung und Amüsement. Wie entsetzt wären sie, wenn man ihnen die ganze Geschichte servieren würde. Sie brächten für eine Weile kein Wort mehr heraus.

Allgemein bekannt ist, dass die Millionenerbin Lillian Cutting um 1880 mit ihren exzentrischen Investitionen ganz New York in besorgtes Erstaunen versetzte. Sie mehrte ihr Vermögen nach einer Logik, die den Experten verrückt und selbst dem Börsenprofi John D. Rockefeller wie Schwarze Magie vorkam − zum Trost ließ sie ihn beim Billard, gekonnt unauffällig, jedes Mal gewinnen. Nach einem ihrer Big Deals folgte ihr eine ganze Entourage von Fotografen bei Windstärke neun auf die Fähre nach Brooklyn Heights, mit ihren schweren, vom Flugwasser salzfleckig gewordenen Kameras. Lillian Cutting wäre lieber mit Kieseln in jedem Schuh von einer Vorstandssitzung zur nächsten gehumpelt, als ein verlängertes Wochenende in einem Strandhotel zu verbringen, die nackten Zehen im warmen Sand. Sie konnte fast jeden umstimmen, mit einer Gefälligkeit hier, einer gezielt verhaltenen Drohgebärde dort.

So weit die Legende über Lillian Cutting, meine Großmutter mit vierfachem «Ur-» vorneweg, und da ist, wie bei allen Legenden, natürlich etwas dran. Doch sie verschweigt, dass es in den meisten Kreisen der obersten Ränge New Yorks als äußerst unfein galt, auch nur Lils Namen zu nennen. Sie beleidige, sagte man dort, jeden Sinn für Proportion, Anstand, Geschmack, und jene obersten Ränge meinten damit, dass sich Lillian Cutting ein Leben anmaßte, das ihr als Frau nicht zustand. Sie weigerte sich auch ganz offen, zu ihnen zu gehören, zu den Erlauchten Vierhundert, die bei allen wirklich wichtigen Fragen den Ton angaben − bei der richtigen Anreihung des Tafelsilbers für ein Bankett, der richtigen Speisenfolge (den Fisch mit Gurken bitte-sehr vor der gebratenen Ente an Brombeergelee, nicht andersherum), der richtigen Sitzordnung bei Direktorenkonferenzen: Fragen, die Lillian Cutting schlicht idiotisch fand, und sie sprach es auch offen aus. Sie war ein Mensch, den man nicht so leicht einschüchtern und mürbe machen konnte.

Bis man es konnte.

Lil war «Lillian Billion», «Lil the Kill» und «Cutting Lil». Die Erlauchten Vierhundert rühmten sich, in Chev Cutting den brillantesten Augenarzt des Landes zu besitzen, und sie konsultierten ihn alle. Dennoch, und obwohl er bis ins hohe Alter verknallt in Lil war wie ein Teenager, blieb sie immer «das geniale Miststück», das irgendwie jeder weghaben wollte. So überraschte es selbst die ahnungslosesten Schoßhündchen nicht, als ihre Herrchen und Frauchen Lillian Cutting mit offener Schadenfreude niedermachten, kaum dass Chev gestorben war und sich ihnen der Stoff dafür bot.

Wären die Erlauchten Vierhundert damals nicht derart aus der Fassung geraten − wie viel Elend und Peinlichkeit hätten sie sich erspart. Mancher wäre nicht vom Balkon gestürzt oder spurlos verschwunden, manch anderer hätte sich nicht die Pulsadern geöffnet, und niemand wäre, ganz zuletzt, in New Mexico lebendig begraben worden. Aber schlauer ist man im Nachhinein immer. Niemand weiß das besser als ich. Die Narbe an meinem Kopf erinnert mich täglich daran.

Mit knapp vierzig Jahren bin ich in den Augen meiner kleinen Nichten bereits «ein altes Reptil». Das hat was: Meist fühle ich mich wie achtzigeinhalb. Mir ist oft schwummrig, es flimmert mir vor den Augen, ich werde schwach und schwer und fürchte dann, es geht wieder los. Es gibt Tage, da dusche ich bis zu dreimal für den Fall, dass ich plötzlich tot umfalle: Wer würde sich gern verschwitzt und schmutzig von einem Leichenwäscher begrapschen lassen wie von diesem Typen aus dem Nobelbestattungsinstitut nebenan mit seinem «Dich-krieg-ich-auch-noch»-Lächeln? Ich schlafe wenig und dann schlecht. Aber statt wie früher in ein Rotweinglas zu heulen, habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, lange vor Anbruch des Tages durch die Stadt zu streifen, ganz altmodisch zu Fuß und bei jeder Witterung. Dabei male ich mir aus, was die Leute vor vielen Jahrzehnten in den Straßen New Yorks umgetrieben haben mag, auch sie zu Fuß und bei jeder Witterung. Und ich stelle mir vor, wie die Wölfe in einer Winternacht zurückkehren werden wie damals, als sich ein Rudel aus Kanada im Central Park niederließ, 1880, in Lils ärgstem Jahr.

So treibe ich mir die Panik aus.

Der letzte Mülltruck faucht um die Ecke wie ein uralter Drache, der sich endlich schlafen legen will. Hin und wieder weicht mir einer dieser heldenhaften Wall-Street-Jogger aus und grüßt nicht zurück − offenbar existiere ich gar nicht mehr. Hin und wieder hebe ich behutsam eine Raupe auf, die sich über die Asphaltritzen müht, und setze sie auf das Blatt eines Zitronenbaums − bald wird sie sich als Roter Admiral entpuppen, der bei starken Winden in großen Höhen bis nach Island fliegt. Hin und wieder begehe ich einen verzeihlichen kleinen Mord an einem Taxifahrer, dessen einziger Lebenssinn darin besteht, fast den Bordstein zu...

Erscheint lt. Verlag 25.1.2024
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur
Kunst / Musik / Theater Malerei / Plastik
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Schlagworte 19. Jahrhundert • Belletristik • Eisenbahnmagnatin • Entmündigung • Familie • Geld • Geschlossene Anstalt • Lebensentwurf • Lil • Literatur • Machtkämpfe • Markus Gasser • New York • Psychiatrie • Rache • Reichtum • Roman • Sohn • Tochter • Trost • Zorn
ISBN-10 3-406-81376-3 / 3406813763
ISBN-13 978-3-406-81376-4 / 9783406813764
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