Hänschen klein - Andreas Winkelmann

Hänschen klein

Thriller
Buch | Softcover
416 Seiten
2010
Goldmann Verlag
978-3-442-47125-6 (ISBN)
8,95 inkl. MwSt
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Der neue Stern am deutschen Thriller-Himmel

Der junge Anwalt Sebastian Schneider bekommt eines Tages einen seltsamen Brief: die erste Strophe des Liedes 'Hänschen klein' und das innige Versprechen einer Frau, dass sie und ihr Hans bald wieder vereint sein werden. Sebastian glaubt an einen Irrtum. Er ahnt nicht, dass er einen Liebesbrief in den Händen hält, der sein Leben zerstören wird: den Brief einer Mutter, die – totgeschwiegen, totgeglaubt, dem Wahnsinn verfallen – auf der Jagd nach ihrem Sohn ist. Und bereit, für ihr Hänschen klein über mehr als eine Leiche zu gehen …

Andreas Winkelmann, geboren im Dezember 1968, entdeckte schon in jungen Jahren seine Leidenschaft für unheimliche Geschichten. Als Berufener hielt er es in keinem Job lange aus, war unter anderem Soldat, Sportlehrer und Taxifahrer, blieb jedoch nur dem Schreiben treu. Er lebt heute mit seiner Familie nahe Bremen.

Die Ruhe in der Straße war trügerisch, das wusste er. Mochte der Alltag sich auch wie frisch gefallener Schnee über den grauenhaften Vorfall gelegt haben, so war er doch keineswegs vergessen. Weder von ihm selbst noch von den Nachbarn, und das ließen sie ihn jeden Tag aufs Neue spüren. Sie mieden den Kontakt, brachten kaum noch den notwendigen Gruß hervor oder wandten sich sogar ab, wenn er abends heimkam. Und er sah Mitleid in ihren Blicken. Armes Schwein, sagten diese Blicke, er kann ja nichts dafür, was soll er machen, schließlich ist sie seine Frau. Ihr Mitleid machte ihn krank, brannte sogar noch verzehrender in seinem Innern als der Hass, der immer wieder offen zutage trat und seine ehemals guten Nachbarn, vielleicht sogar Freunde, in argwöhnische, gemeine Menschen verwandelt hatte. Zwei Tage nach dem Vorfall hatte jemand in großen roten Lettern "Hexe" auf ihr Garagentor geschmiert. Die zu dick aufgetragene Farbe war von den Buchstaben hinabgelaufen, ganz so, als würden sie bluten. Er hatte das gesamte Tor daraufhin rot lackiert, und auch wenn das böse Wort nun nicht mehr zu lesen war, war dieses rote Tor in einer langen Reihe grauer Tore ein weithin sichtbarer Makel, ein Kainsmal, das sie brandmarkte und zu Aussätzigen machte, auch wenn sie es nicht auf ihrer Haut tragen mussten. Er wandte den Blick ab, als er an der Garage vorbeirollte. Selbst im Dunkeln leuchtete diese Blutfarbe. Er mochte nicht mehr dahinter parken, selbst wenn er am Morgen Eis kratzen musste. Dabei hatte er gefleht und gebettelt, sich bei allen in der Straße, selbst bei denen, die nicht betroffen gewesen waren und nichts mitbekommen hatten, entschuldigt. Er hatte ein unverhältnismäßig hohes Schmerzensgeld an die Baumanns gezahlt, hatte ihr Geheul und Geschrei mit harter Währung verstummen lassen, hatte ihnen eine Erklärung geliefert, die auch noch schlüssig geklungen hatte. Schlüssig? Zumindest in seinen Ohren war das anfangs so gewesen, aber seitdem hatte sich vieles verändert. Doch er weigerte sich hartnäckig, nach einer anderen, wahrlich grausameren Ursache zu forschen. Besser nicht an der Oberfläche kratzen, besser keine Fragen stellen, deren Antworten man sowieso nicht hören wollte. Was man nicht aussprach, war auch nicht. Also blieb es bei der einen, alles entschuldigenden Feststellung: Ellie war schwanger! Mit verheulten, aufgequollenen Augen, zitternder Stimme und einem angetrockneten Rest Tomatensoße vom Mittagessen im Mundwinkel hatte sie es ihm gestanden. Schwanger! Die Entschuldigung für alles. Für ihre Reizbarkeit, für ihre Stimmungsschwankungen, für ihre mitunter unkontrollierbare Fresssucht. Schwanger! Peter Brock versuchte sich zu freuen. Jedes Mal, wenn er das Haus betrat und seine schwangere Frau begrüßte, versuchte er es, doch immer wieder wurde seine Freude getrübt durch die Erinnerung an den entsetzlichen Vorfall. Da halfen auch tausendfach wiederholte, beruhigende Worte nicht. Natürlich, Schwangere taten verrückte Sachen, aßen mitternächtlich saure Gurken mit Ketchup, ekelten sich plötzlich vor ihrem Lieblingsgericht und so weiter, das wusste jeder. Aber was seine Ellie getan hatte, taten Schwangere nicht. Davon hatte er noch nie gehört. Verflucht! Es war so verflucht schwer, diese Gedanken aus seinem Kopf zu bekommen. Um sich abzulenken tastete Peter Brock in der Dunkelheit des Wagens nach dem kleinen, eckigen Gegenstand auf dem Beifahrersitz. Er brachte Ellie jetzt häufiger Geschenke mit, vor allem, wenn es mal wieder so spät wurde wie heute. Ellie forderte viel mehr Zeit, als er ihr geben konnte - oder vielleicht geben wollte? Die Arbeit lief gut, er verkaufte mehr Lexikonbände als jeder andere Außendienstmitarbeiter der Firma. Er hätte es sich leisten können, wenigstens an zwei Abenden in der Woche früh heimzukehren. Aber sie war so reizbar geworden und brüllte herum, was sie früher nie getan hatte. Gestern hatte er erstmalig wirklich Angst vor ihr gehabt. Angst vor seiner eigenen Frau! Unvorstellbar. Und doch war es so. Immer wieder verwandelte sie sich in einen völlig anderen Menschen als die Ellie, die er damals in der Drogerie kennengelernt hatte. Der Beutel mit Teelichtern war gerissen, er hatte ihr beim Aufsammeln geholfen. So anmutig war sie gewesen, so schüchtern, hatte ihm kaum in die Augen schauen können. Vielleicht, und darin ruhte momentan seine ganze Hoffnung, würde er nach der Geburt seine Ellie wiederbekommen. Mit ihren veränderten weiblichen Formen würde er leben können; mein Gott, er würde jedes zusätzliche Pfund lieben, solange darin nur seine schüchterne, scheue Ellie lebte. Und bis dahin. nun, ihre Schwester kam an zwei Tagen in der Woche, sah nach dem Rechten, half bei der Hausarbeit, versuchte, Ellie aufzumuntern. Peter war ihr dankbar dafür. Er war nicht sonderlich gut in solchen Dingen. Lieber brachte er von Zeit zu Zeit Geschenke mit. Für Schmuck, Parfum oder ein besonderes Kleidungsstück hatte Ellie nichts übrig, aber sie freute sich über jede Kleinigkeit, die mit dem ungeborenen Kind zu tun hatte. In dem Karton auf dem Beifahrersitz - seine Hand ruhte immer noch darauf - befand sich eine Spieluhr aus Blech, die zur Melodie von Hänschen klein einen bunten Blechjungen mit Rucksack und Wanderstab in die Welt hinausziehen ließ. Er hatte sie heute früh in einem Antiquitätenladen entdeckt, dessen Besitzer er von den Vorzügen seiner hochwertig ausgestatteten Lexikonreihe überzeugen wollte. Stattdessen hatte der Rentner mit dem asthmatischen Husten ihm ein nach allen Regeln der Verkaufskunst geführtes Gespräch aufgezwungen, als er die Figur nur kurz in die Hand genommen hatte, um die Wartezeit zu überbrücken, bis die einzige Kundin den Laden verlassen hatte. Schließlich war es nicht mehr um Lexika gegangen und auch nicht um die Frage, ob er den Spieljungen kaufen würde oder nicht, sondern nur noch um den Preis. Der Alte war ein Fuchs, Peter bei Weitem überlegen. Er konnte sich eigentlich nur zugutehalten, den Preis um die Hälfte gedrückt zu haben. Immerhin! Außerdem hätte der Alte sich nicht so anstrengen müssen, er hätte sowieso gekauft. Es war zwar ein kitschiges Spielzeug, aber Ellie würde es gefallen, und er stellte sich vor, wie sie seinem Sohn jeden Abend vor dem Einschlafen dieses Lied vorspielte. Mit diesem Bild vor Augen ließ er den Wagen vor seinem Grundstück ausrollen. Als er ausstieg, schlug ihm kalte Luft entgegen, sein Atem erschien als dunstiger Nebel vor seinem Gesicht.

Erscheint lt. Verlag 14.1.2010
Reihe/Serie Goldmann Taschenbücher
Verlagsort München
Sprache deutsch
Maße 118 x 187 mm
Gewicht 330 g
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
Schlagworte Anwalt • Briefe • Krimis/Thriller • Mord • Mutter • Roman • Spannung • Thriller • Verbrechen • Wahn
ISBN-10 3-442-47125-7 / 3442471257
ISBN-13 978-3-442-47125-6 / 9783442471256
Zustand Neuware
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