Stadt der Engel (eBook)

Roman

(Autor)

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2010 | 1. Auflage
416 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74240-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Stadt der Engel -  Christa Wolf
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Los Angeles, die Stadt der Engel: Dort verbringt die Erzählerin Anfang der Neunziger einige Monate auf Einladung des Getty Center. Sie spürt dem Schicksal einer gewissen L. nach, die aus dem nationalsozialistischen Deutschland in die USA emigrierte. Ein ums andere Mal wird sie über die Lage im wiedervereinigten Deutschland verhört: Wird der »Virus der Menschenverachtung« in den neuen, ungewissen deutschen Zuständen wiederbelebt? In der täglichen Lektüre, in Gesprächen, in Träumen stellt sich die Erzählerin einem Ereignis aus ihrer Vergangenheit, das sie in eine existentielle Krise bringt und zu einem Ringen um die Wahrhaftigkeit der eigenen Erinnerung führt. Der neue große Roman von Christa Wolf ist auch autobiographische Prosa: Sie erzählt von einem Menschenleben, das drei deutschen Staats- und Gesellschaftsformen standhält, von einer Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, von der Kunst, sich zu erinnern. »Du bist dabei gewesen. Du hast es überlebt. Du kannst davon berichten.«

<p>Christa Wolf, geboren 1929 in Landsberg/Warthe (Gorz&oacute;w Wielkopolski), lebte in Berlin und Woserin, Mecklenburg-Vorpommern. Ihr Werk wurde mit zahlreichen Preisen, darunter dem Georg-B&uuml;chner-Preis, dem Thomas-Mann-Preis und dem Uwe-Johnson-Preis, ausgezeichnet. Sie verstarb am 1. Dezember 2011 in Berlin.</p>

Die wirkliche Konsistenz von gelebtem Leben kann kein Schriftsteller wiedergeben.

E. L. Doctorow

AUS ALLEN HIMMELN STÜRZEN


das war der Satz, der mir einfiel, als ich in L. A. landete und die Passagiere des Jet dem Piloten mit Beifall dankten, der die Maschine über den Ozean geflogen, von See her die Neue Welt angesteuert, lange über den Lichtern der Riesenstadt gekreist hatte und nun sanft aufgesetzt war. Ich weiß noch, daß ich mir vornahm, diesen Satz später zu benützen, wenn ich über die Landung und über den Aufenthalt an der fremden Küste, der vor mir lag, schreiben würde: Jetzt. Daß so viele Jahre über beharrlichen Versuchen vergehen würden, mich auf rechte Weise den Sätzen zu nähern, die diesem ersten Satz folgen müßten, konnte ich nicht ahnen. Ich nahm mir vor, mir alles einzuprägen, jede Einzelheit, für später. Wie mein blauer Paß ein gewisses Aufsehen erregte bei dem rotblonden drahtigen officer, der die Papiere der Einreisenden genau und streng kontrollierte, er blätterte lange darin, studierte jedes einzelne Visum, nahm sich dann das mehrfach beglaubigte Einladungsschreiben des CENTER vor, unter dessen Obhut ich die nächsten Monate verbringen würde, schließlich richtete er den Blick seiner eisblauen Augen auf mich: Germany? – Yes. East Germany. – Weitergehende Auskünfte zu geben wäre mir schwergefallen, auch sprachlich, aber der Beamte holte sich Rat am Telefon. Diese Szene kam mir vertraut vor, das Gefühl der Spannung kannte ich gut, auch das der Erleichterung, als er, da die Antwort auf seine Frage wohl befriedigend gewesen war, endlich das Visum stempelte und mir meinen Paß mit seiner von Sommersprossen übersäten Hand über die Theke zurückreichte: Are you sure this country does exist? – Yes, I am, antwortete ich knapp, das weiß ich noch, obwohl die korrekte Antwort »no« gewesen wäre und ich, während ich lange auf das Gepäck wartete, mich fragen mußte, ob es sich wirklich gelohnt hatte, mit dem noch gültigen Paß eines nicht mehr existierenden Staates in die USA zu reisen, nur um einen jungen rothaarigen Einreisebeamten zu irritieren. Das war eine der Trotzreaktionen, derer ich damals noch fähig war und die, das fällt mir jetzt auf, im Alter seltener werden. Da steht das Wort schon auf dem Papier, angemessen beiläufig, das Wort, dessen Schatten mich damals, vor mehr als anderthalb Jahrzehnten, erst streifte, der sich inzwischen so stark verdichtet hat, daß ich fürchten muß, er könnte undurchdringlich werden, ehe ich meiner Berufspflicht nachkommen kann. Ehe ich also beschrieben habe, wie ich mein Gepäck vom Transportband herunterhievte, es auf einen der übergroßen Gepäckwagen lud und inmitten der verwirrenden Menschenmenge dem EXIT zustrebte. Wie, kaum hatte ich die Ausgangshalle betreten, geschah, was ich nach allen inständigen Warnungen Einreisekundiger nicht hätte geschehen lassen dürfen, ein riesenhafter schwarzer Mann kam auf mich zu: Want a car, Madam?, und ich, unerfahrenes Reflexwesen, das ich war, nickte, anstatt entschieden abzuwehren, wie man es mir anbefohlen hatte. Schon hatte der Mann sich den Karren geschnappt und war damit losgezogen, auf Nimmerwiedersehen, meldete mein Alarmsystem. Ich folgte ihm, so schnell ich konnte, und da stand er tatsächlich draußen am Rand der Zufahrtsstraße, auf der, Stoßstange an Stoßstange, mit abgeblendeten Scheinwerfern, die Taxis heranrollten. Er kassierte den Dollar, der ihm zustand, und übergab mich einem Kollegen, ebenfalls schwarz, der sich einen Job als Taxiherbeiwinker geschaffen hatte. Der waltete seines Amtes, stoppte das nächste Taxi, half mein Gepäck verstauen, empfing ebenfalls einen Dollar und überließ mich dem kleinen hageren wendigen Fahrer, einem Puertoricaner, dessen Englisch ich nicht verstand, der aber gutwillig meinem Englisch lauschte und, nachdem er den Briefkopf mit meiner zukünftigen Adresse studiert hatte, zu wissen schien, wohin er mich zu bringen hatte. Erst jetzt, als das Taxi anfuhr, daran erinnere ich mich, spürte ich die milde nächtliche Luft, den Anhauch des Südens, den ich von einer ganz anderen Küste her wiedererkannte, wo er mich wie ein dichtes warmes Tuch zum ersten Mal getroffen hatte, in Warna auf dem Flughafen. Das Schwarze Meer, seine samtene Dunkelheit, der schwere süße Duft seiner Gärten.

Noch heute kann ich mich in dieses Taxi versetzen, an dem links und rechts Lichterketten vorbeijagten, manchmal zu Schriftzügen geronnen, weltbekannte Markennamen, Werbetafeln in grellen Farben für Supermärkte, für Bars und Restaurants, die den Nachthimmel überstrahlten. Ein Wort wie »geordnet« war hier wohl fehl am Platze, auf dieser Küstenstraße, womöglich auf diesem Kontinent. Sehr leise, schnell wieder unterdrückt, kam die Frage auf, was mich eigentlich hierhergetrieben hatte, gerade so laut, daß ich sie wiedererkannte, als sie sich das nächste Mal, dann schon dringlicher, meldete. Immerhin, als sei das Grund genug, glitten die schuppigen Stämme von Palmen vorbei. Geruch von Benzin, von Abgasen. Eine lange Fahrt.

Santa Monica, Madam? – Yes. – Second Street, Madam? – Right. – Ms. Victoria? – Yes. – Here we are.

Zum ersten Mal das Blechschild, am Eisenzaun befestigt, angestrahlt: hotel ms. victoria old world charm. Alles still. Alle Fenster dunkel. Es war kurz vor Mitternacht. Der Fahrer half mir mit dem Gepäck. Ein Vorgarten, ein Steinplattenweg, der Duft unbekannter Blüten, die sich nachts zu verströmen schienen, der schwache Schein einer leise schaukelnden Lampe über der Eingangstür, ein Klingelbrett, hinter dem ein Papier mit meinem Namen steckte. Welcome, las ich. Die Tür sei offen, ich solle eintreten, in der Halle auf dem Tisch liege der Schlüssel zu meinem Apartment, second floor, room number seventeen, the manager of ms. victoria wishes you a wonderful night.

Träumte ich? Aber anders als in einem Traum verirrte ich mich nicht, fand den Schlüssel, benutzte den richtigen Treppenaufgang, der Schlüssel paßte in das richtige Schloß, der Lichtschalter war da, wo er zu sein hatte, ein Wimpernschlag, und ich sehe alles vor mir: Zwei Stehlampen beleuchteten einen großen Raum mit einer Sesselgruppe und einem langen Eßtisch an der gegenüberliegenden Wand, der von Stühlen umstellt war. Ich bezahlte den Taxifahrer anscheinend zu seiner Zufriedenheit mit dem ungewohnten Geld, das ich zum Glück vor dem Abflug in Berlin eingetauscht hatte, bedankte mich bei ihm in angemessener Weise und bekam, wie es sich gehörte, zur Antwort: You are welcome, Madam.

Ich inspizierte mein Apartment: Außer diesem großen Wohnraum eine angrenzende Küche, zwei Schlafzimmer, zwei Bäder. Welche Verschwendung. Eine vierköpfige Familie könnte hier bequem wohnen, dachte ich an jenem ersten Abend, später gewöhnte ich mich an den Luxus. Ein Willkommensgruß von einer Alice lag auf dem Tisch, dies mußte die Mitarbeiterin des CENTER sein, die die Einladungsbriefe unterschrieben hatte, und sie war es wohl auch, die mir fürsorglich Brot, Butter, ein paar Getränke in die Küche gestellt hatte. Ich kostete von allem etwas, es schmeckte merkwürdig.

Ich machte mir klar, daß dort, wo ich herkam, schon Morgen war, daß ich telefonieren konnte, ohne jemanden im Schlaf zu stören. Nach einigen fehlgeschlagenen Versuchen, bei denen mehrere overseas operators sich um mich bemüht hatten, gelang es mir, das Telefon in dem winzigen Kabinett neben der Eingangstür mit den richtigen Nummern zu bedienen, hörte ich hinter dem Rauschen des Ozeans die vertraute Stimme. Das war das erste der hundert Telefongespräche nach Berlin in den nächsten neun Monaten, ich sagte, ich sei nun also auf der anderen Seite der Erdkugel gelandet. Ich sagte nicht, was ich mich fragte, wozu das gut sein sollte. Ich sagte noch, daß ich sehr müde sei, und das war ich ja wirklich, eine fremde Müdigkeit. Ich suchte Nachtzeug aus einem der Koffer, wusch mir Gesicht und Hände, legte mich in das zu breite zu weiche Bett und schlief lange nicht. Früh erwachte ich aus einem Morgentraum und hörte eine Stimme sprechen: Die Zeit tut, was sie kann. Sie vergeht.

Dies waren die ersten Sätze, die ich in das große linierte Heft schrieb, das ich vorsorglich mitgebracht hatte und auf die Schmalseite des langen Eßtischs legte und das sich sehr schnell mit meinen Notizen füllte, auf die ich mich jetzt stützen kann. Inzwischen verging die Zeit, wie es mir mein Traum lakonisch mitgeteilt hatte, es war und ist einer der rätselhaftesten Vorgänge, die ich kenne und die ich, je älter ich werde, um so weniger verstehe. Daß der Gedankenstrahl die Zeitschichten rückblickend und vorausblickend durchdringen kann, erscheint mir als ein Wunder, und das Erzählen hat an diesem Wunder teil, weil wir anders, ohne die wohltätige Gabe des Erzählens, nicht überlebt hätten und nicht überleben könnten.

Zum Beispiel kann man sich solche Gedanken flüchtig durch den Kopf gehen lassen und zugleich in dem Konvolut blättern, das ich am Morgen auf dem Tisch meines Apartments vorfand, eine »First day survival information« des CENTER für alle Neuangekommenen. Die nächsten Lebensmittelmärkte, Coffeeshops und Apotheken sind aufgeführt. Der Weg zum CENTER ist beschrieben, auch die Regeln, nach denen es arbeitet, sind benannt, und natürlich wird sein Tag und Nacht besetzter Telefonanschluß bekanntgegeben. Restaurants und Bistros werden empfohlen, aber auch Buchhandlungen, Bibliotheken, Touristik-Routen, Museen, Vergnügungsparks und Stadtführer, und nicht zuletzt werden dem...

Erscheint lt. Verlag 16.11.2010
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abschied • Belletristische Darstellung • Calif. • DDR • Deutsche Frau • Deutschland • Erinnerung • Geschichte 1992-1993 • Getty Center • Kalifornien • Kindheitsmuster • Lebenslauf • Los Angeles • Los Angeles, Calif. • östliche Länder • Schriftstellerin • Selbstanalyse • Selbstbefragung • ST 4275 • ST4275 • Studienaufenthalt • suhrkamp taschenbuch 4275 • USA • Vergangenheitsbewältigung
ISBN-10 3-518-74240-X / 351874240X
ISBN-13 978-3-518-74240-2 / 9783518742402
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