Finsteres Glück (eBook)

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2012 | 1. Auflage
320 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60017-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Finsteres Glück -  Lukas Hartmann
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Das Leben des achtjährigen Yves wird in einer einzigen Sekunde brutal entzweigerissen, in ein Vorher und Nachher. Die Psychologin Eliane Hess, die ihm über den Verlust der Eltern hinwegzuhelfen versucht, ist gleichzeitig erschüttert und fasziniert von dem traumatisierten Jungen. Sein Schicksal geht ihr nahe es leuchtet hinein in ihre eigene Vergangenheit. Nach der Begegnung mit Yves kann auch Elianes Leben und das ihrer beiden Töchter nicht mehr dasselbe sein. Ein berührender Roman über Geborgenheit und Verlust; über die Familienbande, die wir nicht lösen können, und diejenigen, die wir selbst knüpfen.

Lukas Hartmann, geboren 1944 in Bern, studierte Germanistik und Psychologie. Er war Lehrer, Journalist und Medienberater. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Bern und schreibt Bücher für Erwachsene und für Kinder. Er ist einer der bekanntesten Autoren der Schweiz und steht mit seinen Romanen regelmäßig auf der Bestsellerliste.

[9] 1

Der Anruf kam nachts um halb elf. Millionen von Menschen hatten sich mittags geschwärzte Gläser vor die Augen gehalten. Sie wollten die Sonnenfinsternis sehen, die bei uns partiell war, im Elsass und in Süddeutschland aber total. Hunderttausende hatten, des wolkenverhangenen Himmels wegen, die schwarze Scheibe mit der flackernden Korona verpasst, nur das Dunkelwerden miterlebt, nächtliche Fahlheit zur Unzeit, das Verstummen der Vögel. Ich hatte mich in meinem Sprechzimmer nicht darum gekümmert, mittags einfach Licht gemacht und mich auf einen schwierigen Fall konzentriert: junge Frau mit Panikattacken, Missbrauchsverdacht, sie hatte helle Augen von milchiger Sanftheit, wie Aquamarin, aber da drang nichts mehr hinein, emotional blindness. Abends, in der Dämmerung, fuhr ich mit dem Fahrrad nach Hause, es regnete kaum spürbar, fadenfein, ich wich den nassen Tramschienen aus, die mich in der Vorwoche zu Fall gebracht hatten. Im türkischen Laden kaufte ich Tomaten, Auberginen, ein paar weiße Pfirsiche.

Alice war nicht zu Hause, sie flüchtete abends vor mir, kämpfte um jede Viertelstunde im Jugendtreff, als ginge es um Leben und Tod. Mit Sechzehnjährigen hat man’s schwer, auch nach einem Vollstudium in Psychologie. Ein Zettel [10] lag da: Um zehn bin ich zurück, garantiert! Helene hingegen, die ältere Schwester, Jurastudentin im dritten Semester, hatte sich bestimmt wieder in ihrer Mansarde vergraben. Sie verkörpert Vernunft und Disziplin auf manchmal unerträgliche Weise, fühlt sich angezogen von Gesetzesparagraphen. Über meine Töchter weiß ich fast nichts, ich habe mein ursprüngliches Wissen verlernt. Dass sie von verschiedenen Vätern stammen, kann niemand verleugnen, der sie genauer ansieht. Die Halbschwestern scheint es nicht zu stören, die Gluckengefühle haben sie mir ohnehin ausgetrieben.

Unsere Küche ist eine Höhle, dunkel selbst an hellsten Sommertagen, denn dicht vor dem Fenster, beinahe mit Händen zu greifen, steht eine alte Rosskastanie, durch deren Laub nur wenig Licht sickert. Trotzdem halten wir uns, seit wir dieses alte Haus bewohnen, am liebsten hier auf, wegen der Gerüche vielleicht, wegen der Herdplattenwärme. Ich hackte eine halbe Zwiebel auf dem Holzbrett, zerkleinerte Auberginen und Tomaten, gab alles der Reihe nach, mit einem Löffel Olivenöl und einer Knoblauchzehe, in die Gusseisenpfanne, ich rührte darin zum Rauschen des Dampfabzugs, goss ein wenig Rotwein dazu, würzte mit Salz und Rosmarinnadeln, ich setzte den Topf mit Wasser auf für die Penne rigate. Solche Dinge brauche ich nach einem Tag mit Verzagten und Verzweifelten.

Der Essensgeruch lockte die Ältere aus ihrem Mansardenversteck hervor. Sie saß schräg neben mir, über den Teller gebeugt, der Vorhang ihrer schulterlangen Haare halb zugezogen: Don’t touch me! Dass bei dieser Haltung bisweilen Haare in die Sauce gerieten, kümmerte sie nicht. [11] Ob sie etwas von der Sonnenfinsternis mitbekommen habe, fragte ich. Sozusagen nichts, sagte sie, man habe sie sowieso kaum gesehen, und das Medienspektakel, das man um dieses zweiminütige Ereignis veranstaltet habe, finde sie abstrus. Alle meine Methoden versagten bei ihr. Sie stritt nicht, entzog sich bloß, wehrte mich ab durch Wortkargheit, nichtssagende Floskeln: Ja, alles in Ordnung, Ma. Kein Kopfweh. Alles wie immer. Der Stimmklang meldete: Und jetzt lass mich bitte in Ruhe, Ma.

Wir aßen die Schüssel aus, hatten uns stillschweigend darauf geeinigt, für Alice, die irgendwann hungrig auftauchen würde, nichts übrigzulassen. Dann würde sie wieder den Kühlschrank plündern, die Milch austrinken, Essiggurken dazu essen und vielleicht einen Rest Kuchenteig. Dass wir, evolutionär gesehen, Allesfresser sind, bewies meine jüngere Tochter jeweils nach zehn Uhr nachts. Helene half, wie immer, beim Abräumen und Saubermachen, sie zeigte sich kooperativ im Tausch gegen meinen Verzicht auf fürsorgliche Fragen. Danach verschwand sie wortlos. Von oben erreichten mich, durch zwei geschlossene Türen, die Vibrationen einer isländischen Band, die Helene sich damals, beim Studium des Aktienrechts, Abend für Abend anhörte. Ich versuchte, den Bass von mir abzuhalten durch die Goldbergvariationen in Glenn Goulds frühster Version. Ich las die Zeitung dazu, halb liegend auf dem alten Ledersofa, das bei jeder Bewegung quietscht wie ein wehleidiges Wesen. Ich las höchst Überflüssiges, nie lasse ich die Meldungen aus, in denen Hollywoodstars oder die englischen Royals vorkommen. Dabei hatte ich mir gerade erst einen neuen Kunstband gekauft, der auf eingehende [12] Betrachtung wartete, und überhaupt wäre es dringend nötig gewesen, meine Patientenblätter nachzuführen.

Kurz vor zehn – ich hatte nichts anderes erwartet – rief mich Alice an und feilschte, beinahe unverständlich mitten im Musikgetöse, mit mir darum, eine halbe Stunde länger wegzubleiben; ein Freund – das sagte sie immer: »ein Freund« – werde sie mit dem Roller um halb elf vor unserer Haustür abliefern, Ehrenwort! Ich bestand auf Viertel nach zehn, verlangte, dass sie sich nicht ohne Helm auf den Roller setze, drohte zudem, genau zu überprüfen, ob sie ihre Hausaufgaben gemacht habe. Das habe sie, raunzte sie in ihr Handy, ich solle nicht so pingelig sein. »Viertel nach zehn und sonst Ausgangssperre!«, schrie ich sie an. Schon als ich auflegte, beschämte mich mein blinder Zorn. Ich beruhigte mich, schaute von nun an im Minutentakt auf den vorrückenden Zeiger der alten Pendule, die mich auf allen meinen Umzügen begleitet hatte. Sie war mir das liebste Stück aus Großmutters Erbe; manchmal dachte ich mit Rührung an ihren Körper auf dem Totenbett, an ihre fleckigen Kinderhände, die noch einmal nach meiner gegriffen hatten, als rängen wir darum, einander ins eine oder andere Reich zu ziehen.

Zwanzig nach zehn war Alice nicht da, fünfundzwanzig nach immer noch nicht, und ich – welche Mutter kann sich daran hindern? – stellte mir vor, dass sie auf dem Hintersitz des Rollers, ihre Arme um den Oberkörper des Fahrers geschlungen, einen Unfall gehabt hatte und nun schwer verletzt auf dem Asphalt lag. Ich schalt mich selbst für solche Schreckensbilder, griff aber in Panik nach dem Hörer, [13] als das Telefon zum zweiten Mal läutete. Ich war schon nahe daran, in Tränen auszubrechen oder erneut loszuschreien, dann aber wurde mir klar, dass es nicht Alice war, die anrief, sondern der diensttuende Notfallarzt des Zentralspitals, der mich zu einem Termin aufbot. Schwerer Autounfall in einem Tunnel, verstand ich, ein Junge, dessen ganze Familie umgekommen sei, habe wie durch ein Wunder mit leichten Verletzungen überlebt, er brauche dringend psychologische Betreuung, ja, jetzt noch, man schicke ein Taxi an meine Adresse. Ich bin Spezialistin für Psychotraumatologie mit eigener Praxis, habe eine Dissertation über »Bindung und Trauma« geschrieben; ich war damals vom städtischen Krankenhaus in Teilzeit angestellt und daran gewöhnt, bei Notfällen mitten in der Nacht weggehen zu müssen. Die Betreuung traumatisierter Kinder überließ man gerne mir, zuletzt nach einem Eifersuchtsdelikt, da hatte sich ein fünfjähriges Mädchen unter dem Bett verkrochen und zugehört, wie der Vater die Mutter und sich selbst erschoss. Man müsste, meine ich, in solchen Fällen von Mord sprechen und nicht von erweitertem Suizid. Mit diesem Begriff wird die Tat verharmlost, er klingt so, als ob Selbstmord dazu berechtige, Angehörige zum leibeigenen Besitz zu machen und mit in den Tod zu nehmen.

Da ich nicht wusste, ob ich die Nacht im Krankenhaus verbringen würde, packte ich das Nötigste in meine Reisetasche, ein Sommerpyjama, Toilettenartikel, ein paar Brettspiele. Ich rief nach oben, dass ich noch wegmüsse, bekam keine Antwort, ging schließlich die Treppe hinauf ins Dachgeschoss, klopfte an Helenes Tür und vernahm nur Streicherklänge und Björks wimmernden Gesang aus [14] Homogenic. In dieser kalten, seltsam flirrenden Musik schien Helene seit Tagen versunken zu sein; man hörte aus ihrem Zimmer nichts anderes mehr. Die Tür war verschlossen, Helene öffnete erst, als ich an der Klinke rüttelte. Sie hatte rot verweinte Augen, zerzauste Haare, sie roch intensiv nach Jod (es frage mich keiner, warum). Ich sagte, wohin ich ging, ich bat sie, Alice zu informieren, wenn sie endlich heimkäme, und sie gleich ins Bett zu schicken. Freudlos versprach es Helene.

Draußen wartete das Taxi im Nieselregen. Gerade als wir abfuhren, sah ich den Roller herbeikurven, darauf saß ein Doppelwesen. Der eine Kopf, der unbehelmte mit wehendem Haar, gehörte unbestreitbar zu Alice, die aber mein Winken nicht bemerkte. »Da kommt meine Tochter«, sagte ich zum iranischen Taxifahrer mit einem Anflug von Stolz. Er bremste erst und gab dann wieder Gas, er wusste ja, wohin ich wollte. Die Stadt schlief schon halb bei diesem launischen Wetter. Über der Kehrichtverbrennungsanlage hingen, noch im Lichtbereich eines Sportplatzes, mehrere Knäuel dichten Rauchs. Unversehens tauchte das Bettenhochhaus, ein tausendäugiger Kubus, vor mir auf. Die vielen Bäume davor, schwarz in der Nacht, erweckten einen parkähnlichen und dennoch düsteren Eindruck. Dahinter ein Wirrwarr kleinerer Gebäude, überall die Tafeln mit Großbuchstaben, die die verschiedenen Trakte bezeichnen.

Ich wurde bei der Notfallpforte abgesetzt. Eben landete ein Helikopter der Rettungsflugwacht, dessen Rattern die Nacht zerriss, auf dem Hochhausdach. Organtransport oder Ankunft eines Schwerverletzten, dachte ich. Der [15] Junge sei schon in der Kinderabteilung, sagte mir die...

Erscheint lt. Verlag 21.2.2012
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Familie • Familiendrama • Junge • Liebe • Psychothriller • Schweizer Autor • Thriller • Trauma • Verlust • Waisenkinder
ISBN-10 3-257-60017-8 / 3257600178
ISBN-13 978-3-257-60017-9 / 9783257600179
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