Der geheimnisvolle Fremde - Mark Twain

Der geheimnisvolle Fremde

Die Abenteuer des jungen Satan

(Autor)

Buch
164 Seiten
2012
Pandämonium Verlag
978-3-9813482-5-5 (ISBN)
16,90 inkl. MwSt
Österreich im Mittelalter: In Eselsdorf taucht eines Tages ein fremder Junge auf, der über geheimnisvolle Kräfte verfügt. Er gibt sich den Jugendlichen des Dorfes als ein Neffe Satans zu erkennen, und mit seiner Ankunft häufen sich seltsame Ereignisse. Doch was er dem jungen Theodor, der zu seinem besten Freund wird, über die Welt und den Sinn des Lebens zu berichten hat, ist voller Tiefe und Weisheit.

Mark Twain, geboren am 30. November 1835 in Florida, Missouri, hieß mit bürgerlichem Namen Samuel Langhorne Clemens. Sein erstes Geld verdiente er sich als Schriftsetzer und Journalist; mit 20 Jahren wurde er Steuermann auf einem Mississippi-Dampfer. Seine ersten literarischen Erfolge feierte er als etwa 30-jähriger. Sein namhaftestes Werk – der legendäre „Huckleberry Finn“ – erschien im Jahre 1884; es setzt sich, wie viele Werke Mark Twains, auf kritische Weise mit Heuchelei, Verlogenheit und Rassismus auseinander. Der Schriftsteller starb am 21. April 1910 in Redding, Connecticut. / Oliver Fehn, geboren 1960, ist selbst Autor zahlreicher Sachbücher und Romane. Im Pandämonium-Verlag erschien bisher sein Roman „Die Klavierbrücke“ (2012). Hauptberuflich jedoch ist er inzwischen als Übersetzer tätig; zu seinen bevorzugten Genres gehören Romane sowie Fachbücher aus den Bereichen Gesundheit, Religionswissenschaft und Musik/Gitarre/Klavier.

Sie war wundervoll, die Herrschaft Satans über Zeit und Raum. Für ihn existierte all das gar nicht. Er nannte es eine Erfindung der Menschen – etwas künstlich Erdachtes. Oft reisten wir mit ihm zu den entlegensten Teilen dieses Planeten, um dort Wo-chen und Monate zu verbringen, und dennoch war bei unserer Rückkehr nicht mehr als der Bruchteil einer Sekunde vergan-gen. Die Uhr lieferte den Beweis. Eines Tages, als die Einwohnerschaft unseres Dorfes völlig aufgelöst war, weil die Kommission für Hexenverfolgung sich nicht traute, gegen den Astrologen und die Hausgemeinschaft von Pater Petrus vorzugehen, und überhaupt nur noch den Mut hatte, sich die Armen und Verlassenen vorzuknöpfen, war es mit der Geduld der Leute vorbei, und sie begannen auf eigene Faust mit der Hexenjagd. Sie verfolgten eine Frau aus gutem Hause, von der es hieß, sie würde andere mittels teuflischer Künste von ihren Krankheiten heilen, und zwar, indem sie sie badete, wusch und ihnen zu essen gab anstatt sie zur Ader zu lassen und ihnen Klistiere zu verabreichen. Sie kam die Straße hinabgerannt, eine johlende und schimpfende Menge ihr dicht auf den Fersen, und flehte an vielen Häusern um Zuflucht, doch man schlug ihr die Tür vor der Nase zu. Mehr als eine halbe Stunde liefen sie hinter ihr her, und wir folgten ihnen, um alles aus der Nähe zu sehen, doch irgendwann war sie zu er-schöpft, um weiterhin zu fliehen: Sie brach zusammen, und die Menge schnappte sie sich. Sie banden sie an einen Baum, war-fen einen Strick über ihren Körper, den sie zu einer Schlinge verknoteten, während andere sie festhielten, und sie schrie und bettelte, und ihr Töchterlein stand auch dabei und weinte, wag-te es aber nicht, etwas zu sagen oder zu tun. Dann henkten sie die Dame, und ich warf einen Stein nach ihr, auch wenn es mir in meinem Herzen leid um sie tat; aber schließlich warfen alle mit Steinen, und jeder hatte seinen Nebenmann fest im Visier, und hätte ich es ihnen nicht gleichge-tan, wäre das sicher aufgefallen, und man hätte über mich getuschelt. Satan brach in helles Gelächter aus. Alle, die in seiner Nähe standen, wandten sich zu ihm um, erstaunt, aber keineswegs erfreut. Es war nicht der passende Zeitpunkt, um zu lachen, denn seine freizügige und spöttische Art und der übernatürliche Hauch, der ihn umgab, hatten unter vielen Dorfbewohnern eine Art Misstrauen gegen ihn geweckt und ihm viele Feinde eingebracht. Nun war es der große, kräftige Schmied, der auf ihn aufmerksam geworden war und seine Stimme erhob, so dass jeder es hören konnte: „Was gibt es da zu lachen? Sprich es aus! Und vor allem, erkläre den anderen, wieso du als einziger keinen Stein gewor-fen hast!“ „Seid ihr euch sicher, dass ich keinen Stein geworfen habe?“ „Ja. Du brauchst gar nicht erst versuchen, dich rauszureden. Ich habe dich genau beobachtet.“ „Ich auch! Ich hab’s auch gesehen!“ riefen zwei andere. „Drei Zeugen also“, sagte Satan. „Müller, der Schmied; Klein, der Metzger; und Pfeiffer, der Webergeselle. Drei ganz gewöhnliche Lügner. Sonst noch jemand?“ „Es spielt keine Rolle, ob es sonst noch jemand gesehen hat. Es spielt auch keine Rolle, als was du uns betrachtest. Drei Zeugen reichen, um über deinen Fall zu entscheiden. Beweise uns, dass du einen Stein geworfen hast, sonst wird die Sache für dich ein bitteres Ende nehmen.“ „So ist es!“ schrie die Meute und drang so nahe wie möglich an den Ort des Geschehens vor. „Und zunächst beantwortest du meine erste Frage“, schrie der Schmied, zufrieden damit, als Sprachrohr der Menge und Held der Stunde in Erscheinung treten zu können. „Worüber lachst du?“ Satan lächelte und antwortete freundlich: „Ich lache darüber, drei Feiglinge zu sehen, die eine sterbende Dame steinigen, wo sie doch selbst dem Tod so nahe sind.“ Man konnte sehen, wie die abergläubische Meute in sich zusammensank und als Folge des unerwarteten Schreckens den Atem anhielt. Mit gespieltem Wagemut antwortete der Schmied: „Pah! Woher willst du das denn wissen?“ „Ich? Ich weiß alles. Ich bin von Beruf Wahrsager. Ich kann den Leuten aus der Hand lesen, und ich habe es getan, als ihr drei eure Hände hobt, um mit Steinen nach der Frau zu werfen. Einer von euch wird nächste Woche sterben, der andere heute Nacht, und der Dritte von euch hat nur noch fünf Minuten zu leben. Seht auf die Uhr da drüben!“ Diese Worte machten Eindruck. Die Gesichter der Anwesenden erblassten, und alle starrten sie wie gelähmt auf die Uhr. Der Metzger und der Weber wirkten auf einmal wie krank; nur der Schmied nahm all seinen Mut zusammen und tönte weiter herum: „Na, für deine letzte Weissagung bleibt dir ja nicht mehr viel Zeit. Wenn sie nicht eintrifft, junger Meister, wirst du es sein, der die nächste Minute nicht überlebt, das versichere ich dir!“ Keiner sprach ein Wort; alle Blicke ruhten nur schweigend auf der Uhr. Es herrschte eine ehrfurchtsvolle Stille. Als vier-einhalb Minuten um waren, begann der Schmied auf einmal zu japsen, schlug sich mit den Händen auf die Brust und keuchte: „Luft! Ich bekomme keine Luft mehr!“ Dann sank er zu Boden. Die Menge wich zurück, keiner bot seine Hilfe an, und wenig später war er tot. Die Leute starrten zuerst ihn an, dann Satan, dann einander. Ihre Lippen bewegten sich, doch sie brachten keinen Ton hervor. Und wiederum ergriff Satan das Wort: „Drei von euch haben gesehen, dass ich keinen Stein gewor-fen habe. Sind da noch andere? Lasst sie sprechen!“ Eine Art Panik brach aus unter der Menge, und obwohl kei-ner auf Satans Frage antwortete, begannen sie nun, sich untereinander zu beschuldigen und zu sagen: „Du hast auch behaup-tet, er hätte keinen Stein geworfen“, worauf die Antwort kam: „Was für eine Lüge! Das wirst du mir büßen.“ Und so entstand innerhalb weniger Sekunden ein lauter und wilder Aufruhr, und alle beschimpften sie sich und schlugen aufeinander ein. Nur eine nahm nicht mehr an dem Schauspiel teil – die tote Frau, die an ihrem Strick baumelte, frei von Sorgen, in Frieden mit der Welt und sich selbst. Und so zogen wir von dannen, und obwohl mir unbehaglich zumute war, sprach ich doch zu mir selbst: „Er sagte, er würde über die Menge lachen, aber das war eine Lüge – er hat über mich gelacht.“ Das brachte Satan erneut zum Lachen, und er sagte: „Ja, ich habe über dich gelacht. Weil du aus Angst vor dem, was andere über dich sagen könnten, selbst einen Stein nach ihr geworfen hast. In deinem Herzen jedoch war dir völlig anders zumute. Aber ich habe auch über die anderen gelacht.“ „Warum?“ „Weil es ihnen genauso ging wie dir.“ „Wie meinst du das?“ „Nun, es waren achtundsechzig Leute da, und ganze zweiundsechzig davon hatten im Grunde ebenso wenig Lust, die Frau zu steinigen wie du.“ „Satan!“ „Es ist wahr. Ich kenne euer Geschlecht. Ihr seid wie die Schafe. Nur einige wenige sind es, die den Ton angeben, der Rest schweigt und gehorcht. Sie unterdrücken ihre Gefühle, verstoßen gegen ihre Überzeugungen, und folgen denjenigen, die den größten Lärm veranstalten. Manchmal hat diese lautstarke Minderheit Recht, manchmal irrt sie sich; für ihre Gefolgschaft jedoch spielt das keine Rolle. Der Großteil eurer Rasse, ob wild oder zivilisiert, ist im Grunde gutherzig und schreckt davor zurück, anderen Schmerzen zu bereiten. Ange-sichts der aggressiven und mitleidlosen Minderheit jedoch wagen sie es nicht, ihren Standpunkt zu vertreten. Denkt darüber nach! Ein gutherziges Geschöpf beobachtet das andere, um ihm beizustehen, wenn es in Bedrängung gerät. Lass es dir von jemandem sagen, der Bescheid weiß: Als vor langer Zeit der Wahnsinn der Hexenverfolgung begann, eingeleitet von einer Handvoll frömmelnder Irrer, waren 99 von 100 Personen strikt dagegen. Und ich weiß auch, dass selbst heute, nachdem Jahr-hunderte lang Vorurteile geschürt und dümmliche Lehren ver-breitet wurden, nur eine von zwanzig Personen von sich aus daran interessiert wäre, sich an dieser Hetze zu beteiligen. Dennoch könnte man den Eindruck gewinnen, alle Menschen würden Hexen hassen und sich nichts sehnlicher wün-schen als ihren Tod. Es kommt der Tag, da wird eine Handvoll Leute von der Gegenseite sich erheben und den größeren Lärm veranstalten – vielleicht auch nur eine einzige Person mit lauter Stimme, deren Entschlusskraft groß genug ist. Und schon wer-den alle Schafe sich drehen wie ein Fähnchen im Wind und zu seiner Gefolgschaft werden. Dann wird von heute auf morgen Schluss sein mit der Hexenverfolgung. Königreiche, Aristokratien und Religionen – sie alle gründen nur auf diesem gewaltigen Makel, den eure Rasse aufzu-weisen hat: Dem Misstrauen des Einzelnen gegenüber seinem Nachbarn sowie dem Wunsch, sei es der Sicherheit oder der Bequemlichkeit halber, in seinen Augen gut dazustehen. Solche Institutionen wird es immer geben, und sie werden immer blü-hen und gedeihen, euch immer unterdrücken, missachten und erniedrigen, da ihr stets die Sklaven irgendeiner Minderheit bleiben werdet. Es hat noch nie ein Land gegeben, in dem die Mehrheit der Menschen tief in ihrem Herzen mit einer dieser Institutionen einverstanden gewesen wäre.“ Es gefiel mir nicht, dass er das Menschengeschlecht als Schafe bezeichnete, und das sagte ich ihm auch. „Es stimmt aber trotzdem, du Schäfchen“, sagte Satan. „Seht einmal, wie ihr euch im Krieg verhaltet. Was für gehorsame Hammel ihr da seid, und wie lachhaft!“ „Im Krieg?“ „Es gab nie einen gerechten noch je einen ehrenwerten Krieg. Jedenfalls nicht seitens derer, die ihn angezettelt hatten. Ich kann eine Million Jahre in die Zukunft blicken, und es wird nie eine Ausnahme geben, bis auf vielleicht ein halbes Dutzend Mal. Die lautstarke kleine Minderheit wird – wie schon seit jeher – nach Krieg rufen. Die Geistlichkeit wird zunächst – auf misstrauische und vorsichtige Weise – Einspruch erheben; und die große, unbewegliche, einfältige Masse wird sich die verschlafenen Augen reiben und herauszufinden versuchen, weshalb es einen Krieg geben soll, und sie werden, mit Ernst und Entrüstung in der Stimme, sagen: „Es ist ungerecht und ehrlos, und es besteht dafür keine Notwendigkeit.“ Dann jedoch wird die Handvoll derer, die den Ton angeben, ihre Stimme lauter erheben. Einige wenige Leute von der Gegenseite werden in Wort und Schrift versuchen, die Abwegig-keit einer solchen Unternehmung zu beweisen, und zunächst wird man ihnen Gehör schenken und Beifall zollen; doch schon nach kurzer Zeit werden ihre Stimmen übertönt werden, und ihre Kundgebungen gegen den Krieg werden immer weniger Leute anziehen und immer mehr an Beliebtheit einbüßen. Über kurz oder lang lässt sich dann ein merkwürdiges Phänomen beobachten: Ihre Fürsprecher werden öffentlich mit Steinen beworfen, und ihre Redefreiheit wird von einer Horde aufgebrachter Menschen beschnitten, die mit diesen Ausgestoßenen in der Tiefe ihres Herzens zwar noch immer einer Meinung sind, es aber nicht mehr zuzugeben wagen. Und spätestens jetzt wird die gesamte Nation – einschließlich der Geist-lichkeit – in das Kriegsgeschrei einstimmen und selbst mit hei-serer Stimme brüllen, und jeder ehrliche Mann, der es wagt, den Mund aufzumachen, wird von ihnen niedergeknüppelt. Bis jede Gegenstimme verstummt ist. Als nächstes werden die Staatsmänner billige Lügen erfinden, der von ihnen angegriffenen Nation alle Schuld in die Schuhe schieben, und alle Menschen werden froh sein über diese beschwichtigenden Falschaussagen und sie fleißig verinnerlichen, sich aber weigern, jeden Gegenbeweis einmal näher unter die Lupe zu nehmen. Nach und nach gelangen sie auf diese Weise zur Überzeugung, dieser Krieg sei tatsächlich ge-recht, und sie werden Gott dafür danken, dass sie nach diesem Prozess des grotesken Selbstbetrugs nun wieder ruhiger schlafen können.“

Illustrationen Tobias Könemann
Übersetzer Oliver Fehn
Vorwort Oliver Fehn
Sprache deutsch
Original-Titel The mysterious stranger
Maße 148 x 210 mm
Einbandart Paperback
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Fantasy
Schlagworte Amerikanische Literatur • Erzählung • Fantasy • Huckleberry Finn • Jugendabenteuer • Klassiker • Literaturklassiker • Magie • Märchen • Mark Twain • Novelle • Oliver Fehn • Philosophie • Satan • Tom Sawyer
ISBN-10 3-9813482-5-7 / 3981348257
ISBN-13 978-3-9813482-5-5 / 9783981348255
Zustand Neuware
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Mehr entdecken
aus dem Bereich
Flammengeküsst

von Rebecca Yarros

Buch | Hardcover (2023)
dtv Verlagsgesellschaft
24,00