Die Rote (eBook)

eBook Download: EPUB
2012 | 1. Auflage
256 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60079-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Rote -  Alfred Andersch
Systemvoraussetzungen
8,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Die 30jährige Dolmetscherin Franziska flieht aus ihrem mondänen Leben und einer anstehenden Wahl zwischen Ehemann und Liebhaber ins winterlich ungastliche Venedig. Doch auch dort findet die Rote nicht die erhoffte Freiheit, sondern verstrickt sich bald wieder in seltsame Bekanntschaften. Die Ausgabe entspricht der 1972 von Andersch überarbeiteten Fassung, die von der Kritik einhellig gelobt wurde.'

Alfred Andersch, geboren 1914 in München, wurde 1933 wegen seiner politischen Aktivität im Kommunistischen Jugendverband im KZ Dachau interniert. Nach seiner Desertion aus der Wehrmacht 1944 verbrachte er über ein Jahr in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Zurück in Deutschland, arbeitete er als Journalist und Publizist, namentlich beim Radio. Andersch zählt zu den bedeutendsten Autoren der deutschen Nachkriegsliteratur, seine Bücher sind längst Schullektüre. Er starb 1980 in Berzona/Tessin.

Alfred Andersch, geboren 1914 in München, wurde 1933 wegen seiner politischen Aktivität im Kommunistischen Jugendverband im KZ Dachau interniert. Nach seiner Desertion aus der Wehrmacht 1944 verbrachte er über ein Jahr in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Zurück in Deutschland, arbeitete er als Journalist und Publizist, namentlich beim Radio. Andersch zählt zu den bedeutendsten Autoren der deutschen Nachkriegsliteratur, seine Bücher sind längst Schullektüre. Er starb 1980 in Berzona/Tessin.

[11] Franziska, Spätnachmittag

Auf dem Bahnsteig der Stazione Centrale war es trocken, trocken unter dem dunklen Gebirge aus Glas, Rauch und Beton, aber der Rapido nach Venedig troff von Nässe, sie hatten ihn sicherlich erst vor ein paar Minuten aus dem Regen, aus dem Grau des Regen-Nachmittags, in die Halle geschoben, Abfahrt 16.54, also fünf Minuten Zeit, im Waggon war es noch kalt, so daß Franziska nur ihre Handschuhe auf den Platz legte und wieder hinausging, um nicht zu frösteln, aber statt dessen fror sie im Januarwind, der durch die Halle fuhr, vielleicht bin ich schwanger, es war ihr kalt, obwohl sie den Kamelhaarmantel anhatte, sie klemmte sich die braune Handtasche unter den Arm und steckte die Hände in die Manteltaschen. Eine Zigarette, das erste, was ich tue, wenn der Zug fährt, ist, mir eine Zigarette anzünden. Sie sah, wie die Nässe an den Flanken des Waggons, neben dem sie stand, im Rauch der Bahnhofshalle zu Inseln verdunstete, schmutzig kondensierte und sich dann plötzlich mit einem gelben Schimmer überzog, als die Lampen auf den Bahnsteigen eingeschaltet wurden. Wenn Herbert in diesem Augenblick auftauchen würde, weil er mir nachgelaufen wäre, ließe ich vielleicht die Handschuhe da drinnen liegen und ginge mit ihm weg. Wenn er jetzt käme, so würde es bedeuten, daß wir vielleicht im letzten Augenblick einen Modus fänden. Wie feige ich manchmal bin. Mailand Stazione Centrale war ein dunkler Ort, besonders im Regen, im Januar, im grauen Spätnachmittag, seinen Eingang bildeten riesige poröse Quadersäulen, Franziska war aus der Straßenbahn gestiegen und schnell in den Bahnhof hineingelaufen, in der Vorhalle [12] fuhren die Taxis an, stoppten und glitten wieder hinweg, Rolltreppen führten nach oben, sie waren um diese Zeit noch nicht überfüllt gewesen, unbewegtes nach oben Schweben, Franziska hatte hinter einer alten mageren kleinen Frau gestanden, die in vier schweren Einkaufstaschen, abgewetzten geflickten Einkaufstaschen, Pakete und Flaschen trug, eine Falkin, Mäuler stopfend, arm, alt, unterernährt, mit einem spähenden Blick, oben verschwand sie sogleich in der Menge, die aus einem angekommenen Zug strömte, Franziska war zu einem Schalter gegangen und hatte gefragt, wann der nächste Zug ginge.

»Wohin?«

»Irgendwohin.«

Der Beamte hatte sie einen Augenblick lang angesehen, sich dann nach der Uhr umgewendet und gesagt: »Der Rapido nach Venedig. Sechs Minuten vor fünf.«

Venedig. Wieso Venedig? Was habe ich in Venedig zu tun? Aber es ist wie im Roulette, ich habe auf Zero gesetzt und es ist eine Farbe herausgekommen. Irgendwohin hieß Zero. Herausgekommen war Venedig. Vermutlich gab es keinen Ort, der Null hieß.

»Gut, geben Sie mir Venedig!«

»Rückfahrkarte?«

»Nein, einfach.« Sie sah auf ihre Armbanduhr. Dreizehn vor fünf. Venedig war so gut wie jeder andere Ort, wie alle jene Orte, in denen Herbert mich nie vermuten wird. Herbert wird höchstens annehmen, ich sei nach Deutschland zurückgefahren, um ihn zu Hause zu erwarten.

»Viertausendsechshundert«, sagte der Beamte und schob ihr das Billet hin.

Franziska reichte ihm einen Fünftausend-Lire-Schein. Es ist zu teuer, die Reise nach Venedig ist zu teuer. Als er ihr herausgab, sagte er: »Die Zuschläge müssen Sie im Zug lösen.«

[13] Sie war erschrocken. Einen Augenblick lang hatte sie überlegt, ob sie ihm das Billet zurückgeben solle. Ich kann mir ja irgend etwas näher Gelegenes aussuchen, Turin zum Beispiel, und mit einem gewöhnlichen Zug fahren. Aber sie steckte das Billet ein, während der Mann ihr zusah. »Bahnsteig sieben«, sagte er höflich. Eine Ausländerin. Irgendwohin. Sie sind verrückt oder Huren oder beides. Eine Ausländerin, die irgendwohin fahren will und Geld genug hat, um ein Rapido-Billet nach Venedig zu bezahlen. Ein Viertel meines Monatsgehalts. Eine verrückte Hure. Wie ihre Haare flattern. Eine Rothaarige. Keine Italienerin läßt ihre Haare so flattern. Er sah ihr nach, bewundernd und obszön.

Das plötzliche Lampenlicht verwandelte den grauen Abend, der draußen vor der Abfahrtshalle lag, in etwas Dunkles, das noch nicht ganz Nacht war. Die Lautsprecher verkündeten, der Direttissimo aus Rom habe Einfahrt. Als Franziska in den Waggon eingestiegen war, setzte sich der Rapido auch schon in Bewegung, sanft und unwiderstehlich, als würde er von einer ungeheuren Feder gespannt, einer Feder, die ihn tatsächlich nach wenigen Minuten über die Gleise schnellte wie ein Geschoß. Schnell fahren ist wunderbar. Manchmal habe ich Joachims Porsche auf hundertsechzig gebracht, wenn wir ins Theater fuhren, abends, auf der Autobahn zwischen Dortmund und Düsseldorf. Sie saß während der ersten Augenblicke, in denen der Rapido seine Schnelligkeit entfaltete, bewegungslos auf ihrem Platz, eingehüllt in die Geschwindigkeit des stählernen, lautlos und seidenweich den Abend durchschneidenden Pfeils. Wenn du Kinder hättest, würdest du nicht so schnell fahren, hat Joachim jedesmal gesagt, wenn ich loslegte. Doch, habe ich geantwortet, genauso schnell. Außerdem habe ich keine. Ihr macht mir ja keine. Ihr seid ja so vorsichtig. Gerade als sie Joachims wütendes Gesicht aus der Erinnerung verlor, kam der Zugschaffner. Er [14] prüfte ihr Billet und sagte: »Differenza classe e supplemento Rapido.«

Während er die Zuschlagbillets schrieb, wartete sie besorgt auf den Preis, den er nennen würde.

»Zweitausendfünfhundert«, sagte er und reichte ihr die Fahrscheine.

Sie nahm den einen der beiden Zehntausend-Lire-Scheine aus der Handtasche. Er hatte Wechselgeld. Als er gegangen war, lehnte Franziska sich mit geschlossenen Augen zurück. Ich hatte Fünfundzwanzigtausend und etwas Silbergeld. Wenig, sehr wenig, aber zehn Tage hätte es gereicht. Jetzt sind siebentausend weg. Ich habe jetzt noch achtzehntausend und ein paar Münzen. Es ist Wahnsinn gewesen, diesen Zug zu nehmen. Es war nicht konsequent – dieser Rapido, der nur Wagen erster Klassen führt, ist eine Täuschung, er enthielt in seiner gepolsterten, geheizten, gut beleuchteten Schnelligkeit die Illusion, das, was sie getan hatte, könne mit Komfort umgeben, mit Eleganz getan werden. Ich müßte auf einer Holzbank sitzen, eingeklemmt zwischen drei andere Leute. Ihr schauderte bei diesem Gedanken, sie öffnete die Augen, erinnerte sich plötzlich ihres Wunsches zu rauchen und zündete sich eine Zigarette an. Zweitausendvierhundert Lire wären zwei Nächte in einem billigen Hotel gewesen, also drei Tage Frist. Herrgott, was für ein Blödsinn! Schon der erste Schritt ist schiefgegangen. Ist es ein böses Vorzeichen?

Sie war geneigt, es dafür zu halten, und nahm sich vor, vom Moment ihrer Ankunft in Venedig an scharf zu rechnen, nicht mehr rauchen, sie zählte die Zigaretten in dem Päckchen, das sie bei sich hatte, es waren noch zwölf Stück, das reicht bis morgen abend, wenn ich mich zusammennehme, dann las sie automatisch einige Überschriften in der Abendausgabe des Corriere, die der Mann, der in dem offenen Abteil neben dem ihren saß, ausgebreitet vor sich hin hielt, [15] ancora nessuna decisione nella vertenza Callas – Opera, Mosca alla conquista dei mercati stranieri, tre progetti per salvare il campanile di Pisa, l’abito da sposa della Mansfield (mit Bild), es interessierte sie alles nicht. Ich habe überhaupt nichts zu lesen dabei. Das Buch, das ich gerade angefangen hatte, war unglaublich gut. William Faulkner, Wild Palms. Sehr intelligent, sehr wild, nein, das reicht nicht aus: ein rasendes Buch, eine in Raserei gegen das Schicksal erhobene Faust, aber man weiß, daß sie gesenkt werden wird, sich senken, doch Faust bleiben wird, ruhig, aber gespannt neben dem Schenkel hängen wird, besiegt, aber wachsam. Eigentlich ist es unerträglich, daß ich das Buch jetzt nicht fertiglesen kann, aber es liegt in einem Hotelzimmer in Mailand. Herbert mochte es nicht. Er fand es unangenehm. Aber er kann auch nicht genug Englisch, um Faulkner verstehen zu können. Er macht sich nicht viel aus amerikanischer Literatur. Er findet sie überschätzt. Er liest gerne ›schöne‹ Bücher, die feinen, die gebildeten Leute, über deren Lippen niemals und unter keinen Umständen ein rauhes Wort kommt, ich glaube, heimlich liest er immer noch Rilke, hat aber Angst, sich zu blamieren, wenn er es offen zugibt. Am meisten Furcht hat er vor Dostojewskij, Beckett und den neorealistischen Filmen, ›Il Grido‹ fand er natürlich peinlich, dieser Ästhet, ich habe ihn auf der Straße stehenlassen, als er das sagte, wie wir in Mailand aus dem Kino kamen, er hätte ja nicht mitzugehen brauchen, ich habe ihm gesagt, er solle sich das ersparen, aber er war neugierig, wollte sehen, was ich sehe.

Franziska bemerkte, daß der Herr, der den Corriere las, sie manchmal mit einem Seitenblick beobachtete, ein älterer italienischer Geschäftsmann, er sieht gut aus, ein bißchen dick, aber straff, von jener Eitelkeit, die ihn bis ans Lebensende zu einem sicheren kalten Herrn machen wird, bei uns in Deutschland sind die älteren Geschäftsleute nur sicher und [16] kalt, aber nicht eitel, denn sie sehen nicht gut aus, hinter ihrer Sicherheit steckt nichts als Impotenz und Mikos und Neurosen, deshalb arbeiten sie so viel, aber die hier sind eitel und potent, sie arbeiten nur halb soviel wie die bei uns, aber sie machen die glänzenderen...

Erscheint lt. Verlag 23.10.2012
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Andersch • Bekanntschaften • Deutschland • Dolmetscherin • Dreiecksverhältnis • Ehemann • Franziska • Freiheit • Gestapo • Identität • Italien • Liebhaber • Roman • rote haare • Schwangerschaft • Spion • Übersetzerin • Venedig • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-257-60079-8 / 3257600798
ISBN-13 978-3-257-60079-7 / 9783257600797
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,8 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99