Gegenspiel (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2015 | 2. Auflage
464 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73992-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Gegenspiel -  Stephan Thome
Systemvoraussetzungen
11,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen

Maria ist achtzehn und möchte raus aus Portugal. Mitte der Siebzigerjahre bietet das Land einer jungen Frau wenig Perspektiven. Maria will nicht heiraten und Kinder kriegen, sie will mehr vom Leben. Als das neue Jahrzehnt anbricht, geht sie nach Berlin, beginnt ein Studium und eine Beziehung mit einem rebellischen Theatermacher, die bald scheitert. Allen Plänen vom unabhängigen Leben zum Trotz findet sich Maria schließlich als Ehefrau und Mutter in der nordrhein-westfälischen Provinz wieder und schaut ihrem Mann Hartmut beim Karrieremachen zu. Lang arrangiert sie sich mit den Verhältnissen, aber als die Tochter erwachsen ist, trifft Maria eine Entscheidung.
Lissabon nach der Nelkenrevolution, die Hausbesetzerszene in West-Berlin, die deutsche Provinz vor und nach der Wende: Stephan Thome erzählt in markanten, spannungsreichen Szenen eine bekannte Geschichte neu und völlig anders. Gegenspiel ist ein berührender und manchmal verstörender Roman über Aufbruch und Verantwortung, auch gegenüber dem eigenen Leben - ein Roman voller Empathie und psychologischer Raffinesse.



<p>Stephan Thome wurde am 23. Juli 1972 in Biedenkopf, Hessen geboren. Nach dem Zivildienst in einer sozialpsychiatrischen Einrichtung in Marburg studierte er Philosophie, Religionswissenschaft und Sinologie in Berlin, Nanking, Taipeh und Tokio. 2005 erschien unter dem Titel <i>Die Herausforderung des Fremden: Interkulturelle Hermeneutik und konfuzianisches Denken</i> seine Dissertationsschrift. Zur selben Zeit begann er als DFG-Stipendiat am Institut für Chinesische Literatur und Philosophie der Academia Sinica zu arbeiten, wo er über konfuzianische Philosophie des 20. Jahrhunderts forschte. Bis 2011 betätigte er sich als wissenschaftlicher Mitarbeiter an verschiedenen Forschungseinrichtungen in Taipeh und übersetzte unter anderem Chun-chieh Huangs Werk <i>Konfuzianismus: Kontinuität und Entwicklung</i> ins Deutsche. Sein Roman <i>Grenzgang</i> gewann 2009 den <i>aspekte</i>-Literaturpreis für das beste Debüt des Jahres und stand - wie auch sein zweiter Roman <i>Fliehkräfte</i> - auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis. 2014 wurde Thome von der Akademie der Künste Berlin mit dem Kunstpreis Literatur ausgezeichnet. Im gleichen Jahr erhielt die Verfilmung des Romans <i>Grenzgang </i>den Grimme-Preis. Seit 2011 lebt und arbeitet Stephan Thome als freier Schriftsteller; derzeit lebt er in Taipeh.</p>

Stephan Thome wurde am 23. Juli 1972 in Biedenkopf, Hessen geboren. Nach dem Zivildienst in einer sozialpsychiatrischen Einrichtung in Marburg studierte er Philosophie, Religionswissenschaft und Sinologie in Berlin, Nanking, Taipeh und Tokio. 2005 erschien unter dem Titel Die Herausforderung des Fremden: Interkulturelle Hermeneutik und konfuzianisches Denken seine Dissertationsschrift. Zur selben Zeit begann er als DFG-Stipendiat am Institut für Chinesische Literatur und Philosophie der Academia Sinica zu arbeiten, wo er über konfuzianische Philosophie des 20. Jahrhunderts forschte. Bis 2011 betätigte er sich als wissenschaftlicher Mitarbeiter an verschiedenen Forschungseinrichtungen in Taipeh und übersetzte unter anderem Chun-chieh Huangs Werk Konfuzianismus: Kontinuität und Entwicklung ins Deutsche. Sein Roman Grenzgang gewann 2009 den aspekte-Literaturpreis für das beste Debüt des Jahres und stand – wie auch sein zweiter Roman Fliehkräfte – auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis. 2014 wurde Thome von der Akademie der Künste Berlin mit dem Kunstpreis Literatur ausgezeichnet. Im gleichen Jahr erhielt die Verfilmung des Romans Grenzgang den Grimme-Preis. Seit 2011 lebt und arbeitet Stephan Thome als freier Schriftsteller; derzeit lebt er in Taipeh.

2 Die Luft roch nach brennendem Gummi und Benzin.

Aus gut fünfzig Metern Entfernung beobachteten die beiden Blöcke einander und warteten auf den nächsten Zug des Gegners, die nächste Stufe der Eskalation. Angriffslustige Blicke begegneten sich durch die Schlitze von Stoffmasken und heruntergeklappte Visiere aus Plexiglas, dazwischen lag freier Raum, das von Steinen und Glasscherben übersäte Niemandsland. In den Bürgersteigen klafften Löcher, und unter den schwarzen Pfeilern der Hochbahn lagen die Reste niedergewalzter Barrikaden. Trotz der klaren Fronten spürte Maria eine Gemeinsamkeit, den beinahe sportlichen Geist, der die beiden verfeindeten Lager verband. Von nicht länger hinnehmbaren Provokationen hatte der Innensenator am Vortag gesprochen, aber jetzt wurden für einige Sekunden weder Parolen gebrüllt noch Wurfgeschosse geschleudert. Einsatzfahrzeuge fuhren hinter den Polizisten auf, und Maria sah einen Taubenschwarm über die Dächer segeln. Durch graue Schwaden aus Kohlenstaub, Rauch und Nebel, in ständig wechselnden Formationen, rasend schnell und mit der kühnen Eleganz von Eisläufern in der Kurve. Sie wusste, dass es gefährlich war, hier zu sein, mitten in einem Konflikt, den sie nicht verstand, aber vielleicht hatte dieses Wissen sie hergeführt. In die Menge vermummter Gesichter und geballter Fäuste. Als die Tauben hinter dem Dach des Görlitzer Bahnhofs verschwanden, war der Moment des Innehaltens vorbei, ein Sirren schnitt durch die eiskalte Luft und brach zwei Meter entfernt von ihr ab. Blitzartig stob die Menge auseinander, weg von dem weißen Rauch auf der Straße. »Tränengas!« Sie wurde mitgerissen, zerlegte das Wort in seine Bestandteile und verstand es im selben Augenblick, als ihr eine Rauchwolke ins Gesicht wehte. Von einer Sekunde auf die andere war sie blind. Hinter sich hörte sie Glas splittern und Sirenen heulen und glaubte, heißes Fett würde ihre Augäpfel versengen. Vorwärtsstolpernd versuchte sie sich aus dem Gedächtnis zu orientieren, stieß mit der rechten Schulter gegen ein Hindernis, kam ins Straucheln und wäre gefallen, wenn sie nicht jemand am Arm gepackt hätte. »Geht’s?«

»Ich kann nichts sehen.«

»Lauf weiter!«

Sie wollte blinzeln, aber der Versuch schmerzte, als risse die Hornhaut ein. Eben war noch Licht durch dichte Dezemberwolken gefallen, nun brannte die Luft. Rechts von sich spürte Maria die Nähe einer Hauswand, und wenn sie den Kopf senkte, ahnte sie die Bewegung ihrer Füße, ein Wischen in der Luft. »Sie kommen!«, schrie jemand hinter ihr. Ins Café hatte sie gewollt, weil Ana heute arbeitete, aber am Mariannenplatz war sie ihrer Neugierde und dem anschwellenden Lärm in den Straßen gefolgt. Jetzt ätzte es in ihrem Rachen. Sie musste die Kreuzung an der Manteuffelstraße erreicht haben und erinnerte sich an die Litfaßsäule auf der einen und die große Platane auf der anderen Seite. Panisch rieb sie mit den Handballen über ihre Augen. Vom Kottbusser Tor kamen immer mehr Sirenen, übertönten einander und verteilten sich. Erneut stolperte sie, und wieder griff jemand nach ihrem Arm. »Reiben macht es nur schlimmer.«

»Ich seh nichts.«

»Hast du einen Schal oder ein Tuch? Ich bin’s. Wir müssen hier weg.«

»Falk?« Automatisch streckte sie die Hände aus, sein Kopf fühlte sich merkwürdig glatt und zu groß an. Blinzelnd erkannte sie, dass er einen Helm trug.

»Hier. Bind dir den Schal vors Gesicht. Und hör auf zu reiben!«

»Lass sie stehen«, sagte jemand.

»Nimm.« Er gab ihr ein Stück Stoff, das nach Zitrone roch, fasste sie an der Hand und zog sie mit sich. Nach ungefähr hundert Metern blieben sie stehen.

»Rinn, oder wat?« »Stell endlich die Alte ab!« »Mach auf!« Um sie herum herrschte ein Gewirr aus männlichen Stimmen, von denen nur eine ruhig und überlegt klang. »Sie kommt mit.« Ein Haustor wurde aufgestoßen, und als es wieder ins Schloss fiel, blieb das Chaos auf der Straße zurück. Im Laufschritt hasteten alle die Treppe nach oben, Maria geriet außer Atem und konnte die Umgebung nur schemenhaft erkennen. Ihr wurde übel. Als sie nach dem Geländer greifen wollte, schnitt ihr Stacheldraht in die Haut. »Wenn du Halt brauchst, halt dich an mir fest«, keuchte Falk. Im dritten oder vierten Stock stand eine Tür offen, und die Männer rannten hinein und zu den Fenstern. Sie versuchte, ruhig zu atmen. Der Schmerz drang von den Augen bis unter die Kopfhaut, als steckten Bolzen in ihrem Schädel. Die Übelkeit kam in Wellen, der Schwindel blieb.

»Kommen genau hier lang«, sagte jemand. »Mit Wanne und allem.«

»Nicht reiben, nur tupfen.« Falk gab ihr einen nassen Lappen, den sie sich auf die Augen drückte.

»Alter, bist du vom Roten Kreuz?« »Schwester Falk, ick kann nich schlafen, holste mir einen runter?« »Aber nich reiben, wa, nur tupfen.« Mehr Gelächter, das schnell wieder verebbte. Als Maria den Lappen wegnahm, schlug ihr das hereinfallende Licht in die Augen. Jemand öffnete ein Fenster.

»Besser?« Weil er den Helm und darunter ein Tuch trug, erkannte sie lediglich die Augen. Zu Semesterbeginn hatten sie ein Seminar zusammen besucht, aber nach zwei oder drei Sitzungen war er nicht mehr erschienen. Mit Verspätung wunderte sie sich, dass sie seine Stimme erkannt hatte.

»Danke.«

»Hätte nicht gedacht, dich hier zu treffen.«

»Ich wollte ins Mescalero.«

»Schluss mit Tupfen!«, rief einer am Fenster. »Es geht los. Erst ma nur Steine?«

Falk gab ihr den Schal zurück. »Muss mich um die Gäste kümmern.«

Was sie blinzelnd von dem Raum erkannte, ließ an eine Küche denken, in der vor Jahren zuletzt gekocht worden war. Ein alter Kohleofen hockte in der Ecke, daneben hing ein Waschbecken aus Emaille schief an der Wand. Vier Matratzen lagen auf dem Boden, zwischen Kisten mit Gerümpel und alten Töpfen. Es gab weder Tapeten noch Teppiche, stattdessen zierten Brandflecken die kahlen Mauern. Die Fensterflügel waren ausgehängt worden, in den Öffnungen standen fünf schemenhafte Gestalten, hatten die Gesichter vermummt und hielten Steine in der Hand. Zu ihren Füßen reihten sich Kisten voller Pflastersteine und erinnerten Maria an Falks Zimmer vor zwei Wochen. Seitdem hatten sie einander nicht mehr gesehen. »Is oben allet offen?«, fragte einer in Lederjacke und schwarzen Stiefeln. »Falls der Besuch rinnkommen will.«

»Alles offen. Dreiundfünfzig auch.«

»Jut, und die Alte? Schreibt ’n Bericht für die Morgenpost, oder wat?«

»Bleib ganz ruhig, Andi«, sagte Falk. »Die macht mit.«

Zwei Minuten lang verharrten alle reglos an ihren Plätzen und warteten. Von der Straße hallten Parolen herauf, ein zitterndes Echo zwischen den Hauswänden, zerschnitten von der scharfen Stimme aus einem Megaphon. Seit Wochen wurde überall von der Demo geredet. Flugblätter lagen in den Kneipen aus, Plakate hingen an Hauswänden und Banner unter den Fenstern besetzter Häuser. Den Vormittag hatte Maria damit verbracht, eine Hausarbeit aus dem letzten Semester zu überarbeiten, die sprachlich so fehlerhaft war, dass der Dozent bis Weihnachten eine neue Fassung sehen wollte. Fritz Kortner und der Wiederaufbau des deutschen Theaters, mit besonderer Berücksichtigung seiner Don Carlos-Inszenierung von 1950. Um drei Uhr hatte sie ihre Neugierde nicht länger bezwingen können und sich gesagt, dass es schließlich nicht verboten war, eine Pause zu machen und auf einen Sprung im Café vorbeizuschauen.

»Na denn. Los geht’s.« Der Mann, den Falk mit Andi angeredet hatte, schleuderte den ersten Stein, und die anderen folgten dem Beispiel. War sie zufällig oder absichtlich hier? Sie hatte weder in Krawalle hineingeraten noch verpassen wollen, was es zu erleben gab, und beim Verlassen des Hauses vorsichtshalber den Parka angezogen. Als Falk sich winkend umdrehte, war ihr Moment gekommen. Sie stand auf und ging zum Fenster, fühlte ihre Angst weichen und spürte das Gewicht des grauen Quaders, an dem noch Erdreste klebten. Es gab keinen Grund, ihn zu werfen, aber ihr blieb kaum Zeit, darüber nachzudenken. Ich bin hier, weil ich es will, dachte sie, holte aus und ließ den Arm nach vorne schnellen. »Erst zielen, dann werfen«, stöhnte ihr Nebenmann. Vor dem Haus war die Straße auf einem Abschnitt von etwa dreißig Metern frei. Links tummelte sich der Pulk der Demonstranten, aus dem einzelne Personen nach vorne rannten, um Steine oder Flaschen zu schmeißen, und sich wieder zurückzogen. Von rechts rückten Polizisten mit hochgehaltenen Schilden vor. Ihr Stein war genau dazwischen aufgeschlagen.

»Das Tränengas«, sagte sie. »Seh nichts.«

Falk beugte sich nach draußen. »Besuch klopft an.«

Andis nächster Wurf stoppte den Vormarsch mehrerer Uniformierter, die einen Demonstranten aus der Menge zerren wollten. Erschrocken sprangen sie zur Seite, wendeten die Köpfe, und im nächsten Moment sah Maria eine Schlagstockspitze, die genau auf sie zu zeigen schien.

»Besuch kommt rein«, meldete Falk, und ein anderer legte seine Hand auf ihre Schulter: »Abmarsch.«

Noch einmal ging es im Laufschritt die Treppe hinauf. Oben führte eine rostige Leiter zur offenen Dachluke, von unten näherten sich schwere Schritte. Marias Herz raste, ihre Schläfen pochten, einen Augenblick später stand sie draußen auf dem Dach. Die graue Weite über der Stadt ließ sie schwindeln. Sie sah die Schneise hinter der Mauer und den Fernsehturm undeutlich im Nebel. Nachdem Falk als Letzter nach draußen geklettert war, wurde die Luke verschlossen und mit einer Kette gesichert. Drei Meter vor...

Erscheint lt. Verlag 10.1.2015
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Berlin • Ehe • Fliehkräfte • Lebensentwürfe • Liebe • Lissabon • Selbsttäuschung • spiegel bestseller • ST 4650 • ST4650 • suhrkamp taschenbuch 4650 • SWR Bestenliste
ISBN-10 3-518-73992-1 / 3518739921
ISBN-13 978-3-518-73992-1 / 9783518739921
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,6 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99