Und im Fenster der Himmel Eine wahre Geschichte (eBook)

Roman
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2016 | 1. Auflage
224 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-42786-9 (ISBN)

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Und im Fenster der Himmel Eine wahre Geschichte -  Johanna Reiss
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Eine Kindheit im besetzten Holland Herbst 1941: Als die Deutschen die Niederlande besetzen, geraten die neunjährige Annie und ihre Schwester in große Gefahr - weil sie Juden sind. Hilfreiche Bauern verstecken die beiden Schwestern in einer kleinen Kammer auf dem Dachboden. Fast drei Jahre leben sie dort in drangvoller Enge und sehnen sich nach frischer Luft und Bewegung, nach einem normalen Kinderleben und fürchten sich vor dem Entdecktwerden bei den häufigen Hausdurchsuchungen. Mit einem aktuellen Interview mit der Autorin und weiterem Zusatzmaterial.

Johanna Reiss, 1932 als Johanna (Annie) de Leeuw im niederländischen Winterswijk geboren, erzählt in >Und im Fenster der Himmel< ihre eigene Lebensgeschichte. Ihre Erlebnisse während des Zweiten Weltkriegs wollte sie eigentlich nur für ihre beiden Töchter zu Papier bringen. 'Ursprünglich dachte ich, das habe ich in einer Woche geschafft', meinte sie. 'Erst, als ich anfing zu schreiben, merkte ich, an wie viel ich mich erinnerte, an Dinge, über die ich niemals gesprochen hatte, weil sie zu weh taten.' Das Buch wurde zu einem großen, unter anderem mit der Newbery Honor und dem Buxtehuder Bullen ausgezeichneten Erfolg; zwei weitere Bände mit Erinnerungen sind seitdem gefolgt. Die ehemalige Lehrerin lebt in New York und spricht bis heute regelmäßig als Zeitzeugin vor Schülern auf der ganzen Welt. 

Johanna Reiss, 1932 als Johanna (Annie) de Leeuw im niederländischen Winterswijk geboren, erzählt in ›Und im Fenster der Himmel‹ ihre eigene Lebensgeschichte. Ihre Erlebnisse während des Zweiten Weltkriegs wollte sie eigentlich nur für ihre beiden Töchter zu Papier bringen. "Ursprünglich dachte ich, das habe ich in einer Woche geschafft", meinte sie. "Erst, als ich anfing zu schreiben, merkte ich, an wie viel ich mich erinnerte, an Dinge, über die ich niemals gesprochen hatte, weil sie zu weh taten." Das Buch wurde zu einem großen, unter anderem mit der Newbery Honor und dem Buxtehuder Bullen ausgezeichneten Erfolg; zwei weitere Bände mit Erinnerungen sind seitdem gefolgt. Die ehemalige Lehrerin lebt in New York und spricht bis heute regelmäßig als Zeitzeugin vor Schülern auf der ganzen Welt. 

1


1938 war ich noch nicht sehr groß, erst sechs, und ein ziemlicher Winzling. Winzig genug, um mich zwischen die Wand und Vaters Stuhl zu quetschen, der damals immer direkt vor das Radio gerückt stand. Dort saß Vater vornübergebeugt, die Arme auf die gespreizten Beine gestützt, damit er das Gesicht möglichst nah ans Gerät halten konnte. Und lauschte.

»Vater, schau mal.« Ich hielt ihm eine Zeichnung hin, die ich gemacht hatte.

»Psst!«

»Vater, kannst du …«

Er hörte zu. Allerdings nicht mir.

Wo lag dieses Österreich, das Hitler im Frühling an Deutschland angeschlossen hatte? Das war gar nicht nett gewesen, oder? So wütend, wie Papa dreingeschaut hatte.

Hitler. Im Radio sprachen sie nur noch von Hitler. Der musste ein wichtiger Mann sein in Deutschland. Warum konnte der die deutschen Juden nicht leiden? So musste es nämlich sein. Sonst würde er ihnen ja nicht das Leben schwermachen. Davon erzählten sie immer im Radio.

»Vater …«

»Psst!«

Oder warum sonst sollte er die Juden nur zu bestimmten Zeiten ihr Essen kaufen lassen? Oder sie verhaften und ins Gefängnis werfen? Nur dass das Gefängnis Lager hieß. Aber Holland war ja nicht Deutschland. Ich lächelte. Ein Glück! Wenn wir in Deutschland lebten, wäre er zu uns ja vielleicht genauso. Dieser Hitler musste auch der Mann sein, der den Deutschen gerade erlaubt hatte, den Juden ihre Sachen zu stehlen. Wenn sie etwas haben wollten, durften sie es sich einfach nehmen. Oder es verbrennen. Die Deutschen durften die Juden sogar verhaften, einfach so.

Im Radio hieß es, dass irgendwas passiert war. Ein jüdischer Junge hatte einen deutschen Mann umgebracht. Das war natürlich nicht nett. Aber den Leuten in Deutschland zu erlauben, die ganze Nacht lang durch die Stadt zu ziehen und den Juden all diese Dinge anzutun, das war auch nicht nett. Diese Nacht hatte sogar einen eigenen Namen: Kristallnacht.

»Vater, was heißt denn Kristallnacht

»Psst, Annie. Ich will das hier hören.«

Das sagte er dauernd in letzter Zeit. Und das passte mir gar nicht. Früher hatte er viel mehr mit mir gesprochen, ganz lieb. Sogar mit mir gespielt hatte er. Wie sollte ich je irgendwas herausbekommen, wenn er meine Fragen nicht beantwortete? Ich stand auf. Mutter würde es mir erklären. Ich ging zu ihr ins Schlafzimmer, um mich bei ihr zu erkundigen, was Kristallnacht bedeutete, doch sie hatte schon wieder Kopfweh. Wie kann man von kranken Nieren Kopfweh bekommen?

Wie auch immer, Deutschland war ja nicht Holland. Aber trotzdem. Winterswijk lag gleich an der deutschen Grenze, keine zwanzig Minuten entfernt. So nah war das. Einige Bauern lebten so dicht an der Grenze, dass ihre Kühe in Deutschland weideten, einfach ihrem Haus gegenüber, jenseits des Feldwegs. Das wusste ich, weil mein Vater Viehhändler war und mich oft mitnahm, wenn er Kühe kaufen ging.

Ich war froh, dass wir mitten in Winterswijk wohnten, nicht so nah an Deutschland, dass man es vom Fenster aus sehen konnte. Aus meinem Fenster hatte ich eine viel schönere Aussicht: das Haus der Familie Gans, gleich auf der anderen Straßenseite. Die Gansens winkten mir oft zu, wenn ich mich abends aus dem Fenster lehnte – das alte Ehepaar und ihr großer Sohn. »Zurück ins Bett«, riefen sie, »oder wir erzählen’s deiner Mutter!«

Sollten sie ruhig. Solange sie es nur nicht meinen Schwestern erzählten. Von denen hatte ich zwei, Sini und Rachel. Große Schwestern, sechzehn und einundzwanzig. Und dann war da noch Marie, unser Hausmädchen, die fast so etwas wie eine Schwester war. Alle gemeinsam lebten wir in unserem Haus in der Innenstadt, weit weg von der Grenze.

 

Nach dieser schlimmen Nacht in Deutschland wurde in unserem Haus ein Treffen abgehalten. Die Familie Gans war dabei, alle drei, und Onkel Bram, der mit Vater den Viehhandel betrieb, und seine Frau. Onkel Phil war ohne seine Frau gekommen, weil Tante Billa und Mutter nicht miteinander sprachen. Das hatte irgendwas mit meiner Großmutter zu tun, die bei Tante Billa und Onkel Phil lebte, aber uns täglich besuchte, um sich über die beiden zu beklagen. Ich wusste Bescheid. Ich hatte sie gehört. Wenn ich oben auf dem Treppenabsatz saß, bekam ich eine ganze Menge mit, ob die Stimmen nun aus dem Schlafzimmer herunterdrangen oder aus dem Wohnzimmer herauf, wie jetzt. Die Stimmen klangen aufgeregt: »Wir müssen diesen deutschen Juden helfen, die über die Grenze nach Winterswijk kommen) … Alles haben sie in Deutschland zurückgelassen …« – »Sie brauchen unsere Hilfe. Mit ein paar von ihnen hab ich heute gesprochen …« – »… riesige, frische Narbe im Gesicht) … deutscher Soldat) … mit der Peitsche.«

»Aber wieso?« Das war Mutter.

»Weil er Jude war, Sophie.« Vater klang ungeduldig.

»So was wäre hier nicht möglich) … in Sicherheit) … das hier ist nicht Deutschland) … wir sind hier in Holland, das weißt du …« – »Dieser Hitler ist auf Krieg aus, Sophie) … und wir sind auch Juden …«

Da, Schritte. Ich lief zurück in mein Zimmer und stieg ins Bett. Die Decken zog ich mir über den Kopf.

 

Ein paar Monate später reisten Onkel Bram und seine Frau ab nach Amerika. Wir begleiteten sie zum Bahnhof, um uns zu verabschieden. Sie wollten wohl richtig lange fortbleiben. Sie hatten eine Menge Koffer dabei. Und weit weg musste es auch sein, denn Onkel Bram meinte, in Amerika könne Hitler ihnen nichts mehr anhaben.

»Sophie, warum fahren wir nicht auch?«, fragte Vater.

Aber Mutter sagte, sie hätte viel zu oft Kopfschmerzen, um Holland zu verlassen und irgendwo ganz neu anzufangen. Wir blieben auf dem Bahnsteig zurück und winkten, bis der Zug abgefahren war. Aufgebracht stapfte Vater zu seinem Auto und stieg ein. Er knallte die Tür hinter sich zu und fuhr davon, und wir mussten zu Fuß gehen.

Im Herbst 1939 hatte Rachel ihre Lehrerausbildung abgeschlossen und eine Stelle an einer Vorschule in Winterswijk gefunden. Sini hatte auf einem Bauernhof angefangen. Abends, wenn Vater und Mutter zur Familie Gans hinübergingen und sich zu ihnen vors Haus setzten, versuchte meine Mutter, das Gespräch auf meine Schwestern zu lenken. »Unsere Rachel) … eine ganz Tüchtige) … und Sini, die lernt ja für ihr Melkdiplom …« Aber von meinem Fenster aus merkte ich genau, dass ihr keiner zuhörte. Sie sprachen über die Deutschen, die Polen überfallen hatten.

Das war schlimm von ihnen gewesen, hatte Rachel mir erklärt. So schlimm, dass England und Frankreich zu Deutschland gesagt hatten: »Schafft eure Soldaten aus Polen raus, sonst passiert was.« Aber Hitler hatte nur gelacht, und jetzt hatten England und Frankreich Deutschland den Krieg erklärt. Geschah ihm ganz recht.

Warum musste ich nur so früh schlafen gehen? Draußen war es noch hell. Schließlich war ich inzwischen schon in der zweiten Klasse. Morgen würde ich mich einfach weigern. Ich streckte den Kopf noch weiter aus dem Fenster. Keiner blickte hinauf, um mich ins Bett zurückzuschicken, noch nicht mal Frau Gans. Sie waren zu sehr ins Gespräch vertieft.

In jenem Winter verbrachte Familie Gans beinahe jeden Abend bei uns vor dem Radio. Zu Hause hatten sie kein eigenes. Polnische Juden schien Hitler auch nicht zu mögen. Er schien sie sogar noch weniger zu mögen als deutsche Juden. Ein paar von ihnen hatte er so fest prügeln lassen, dass sie gestorben waren, und dabei hatten sie noch nicht mal was verbrochen. Wie konnte er das wagen? Oft war ich froh, wenn Mutter mich ins Bett schickte. Unter den Decken konnte ich das Radio nicht hören.

»Sophie«, sagte mein Vater, »wir können nicht länger hierbleiben. Wir müssen nach Amerika, unbedingt. Eben habe ich gehört, dass die deutsche Wehrmacht in Dänemark und Norwegen steht. Das ist nicht weit, Sophie! Hörst du mir zu? Uns bleibt keine Wahl! Wir sind Juden!«

»Du weißt doch, dass es mir nicht gut geht, Ies. Wie soll ich von hier weggehen? Von deinem Gebrüll bekomme ich nur noch mehr Kopfweh. Annie, geh und spiel in der Küche.«

Widerwillig machte ich mich auf. Warum musste Mutter nur ständig Kopfweh haben?

 

Vater begann, außerhalb von Winterswijk ein Haus zu bauen, wo wir Mutters Meinung nach praktisch ebenso sicher sein würden wie in Amerika. Vater wurde wütend, wenn sie das sagte. Aber das Haus baute er trotzdem. Es würde nicht in der Nähe der Grenze stehen. Nein, weit weg würde es sein, ganz auf der anderen Seite von Winterswijk. Dort würden uns die Deutschen in Ruhe lassen.

Und dann kam der zehnte Mai 1940. Mitten in der Nacht wachte ich auf. Was für ein Krach. Ich sprang aus dem Bett. Wo waren denn alle? Sie waren schon auf dem Weg nach unten. Ich rannte ihnen nach.

»Was ist denn da los?«, fragte ich. »Ich höre Flugzeuge. Was machen die denn da?«

»Das sind bestimmt deutsche Flugzeuge«, sagte Rachel.

»Vielleicht ist hier jetzt auch Krieg«, sagte Sini.

»Das war’s«, murmelte Vater. »Jetzt sind wir an der Reihe.«

»Woher wollt ihr wissen, dass das deutsche Flugzeuge sind?«, fragte Mutter.

»Weil sie von Osten kommen. Hörst du das nicht?«, schnauzte Vater sie an.

Im Osten verlief die Grenze. Warum war das neue Haus nur immer noch nicht fertig? Dort wären wir in Sicherheit. Mutter hatte es gesagt.

Vater schaltete das Radio an. Es klingelte an der Tür, und die Familie Gans kam hereingestürzt. »Was sagt das Radio?« – »Krieg, oder? Haben wir es doch gewusst.« – »Was, in Belgien und Luxemburg sind die Deutschen...

Erscheint lt. Verlag 27.5.2016
Übersetzer Nina Frey
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur
Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte 2. Weltkrieg • 3. Reich • 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz • Autobiografischer Roman • Besatzungsmacht • Biographie • Biographie für Jugendliche • Dachbodenversteck • Deutsche Besatzung • Drittes Reich • eBook • Holland • Intoleranz • Juden • Judenverfolgung • Jüdische Kindheit • Junior • Kindheit • Kindheitserinnerungen • Lebensgeschichte • Mut • Nach einer wahren Begebenheit • Nationalsozialismus • Neuübersetzung • Niederlande • NS-Zeit • Schullektüre • Schullektüre 8. Klasse • Schullektüre 9. Klasse • Schullektüre mit Unterrichtsmaterial • stichting-kolle-kaal.org • stichting-kolle-karg.org • Überleben • Verfolgung • Versteck • Versteckt vor den Nazis • Vorurteile • Winterswijk • Zeitzeuge • Zeitzeugenbericht • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-423-42786-8 / 3423427868
ISBN-13 978-3-423-42786-9 / 9783423427869
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