Die Fotografin (eBook)

Die vielen Leben der Amory Clay

(Autor)

eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
560 Seiten
Berlin Verlag
978-3-8270-7884-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Fotografin -  William Boyd
Systemvoraussetzungen
11,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Ein Klick, die Blende schließt - der Startschuss zu einem neuen Leben. Mit sieben hält Amory Clay ihre erste Kamera in Händen, eine Kodak Brownie Nummer 2, und mit ihr sind alle Weichen gestellt. Amory Clay, Fotografin, Reisende, Kriegsberichterstatterin. Statt als Gesellschaftsfotografin in London zu reüssieren, lässt Amory alles Vertraute hinter sich und beginnt 1931 ein Leben voller Unwägbarkeiten in Berlin. Ein Berlin der Nachtclubs, des Jazz, der Extravaganz und Freizügigkeit - und der ersten Anzeichen von Bedrohung und Willkür. Amory Clay, eine Frau, die ihrer Zeit weit voraus ist, die unerschrocken ihren Weg geht, ihre Lieben lebt, ihre Geschicke selbst in die Hand nimmt. Tief fühlt sich William Boyd in sie ein und versteht es glänzend, Fiktion und Geschichte miteinander zu verschränken: das ausschweifende Berlin der frühen dreißiger Jahre, New York, wo sie den Mann trifft, der alles verändert, das Paris der Besatzungszeit. Nach »Ruhelos« hat Boyd erneut eine unvergessliche Heldin geschaffen, eine verwegene, verblüffend moderne Frau, einen Künstlerroman, der das Porträt einer ganzen Epoche zeichnet.

William Boyd, 1952 in Ghana geboren, gehört zu den überragenden europäischen Erzählern unserer Zeit. Er schreibt Romane, Kurzgeschichten und Drehbücher und wurde vielfach ausgezeichnet. Im Berlin Verlag erschienen zuletzt »Ruhelos« (2007), »Einfache Gewitter« (2009), »Nat Tate« (2010), »Eine große Zeit« (2012) und der James-Bond-Roman »Solo«. William Boyd lebt mit seiner Frau in London und Südfrankreich.

1. MÄDCHEN MIT KAMERA

Wenn ich es recht bedenke, wurde schon am Tag meiner Geburt ein Fehler gemacht. Heute scheint es nicht mehr weiter von Belang, meine Mutter aber war darüber am 7. März 1908 – wie lange das schon her ist, fast siebzig Jahre – sehr erbost. An jenem Tag also kam ich zur Welt, und mein Vater musste auf strenges Geheiß meiner Mutter eine Geburtsanzeige in der Times aufgeben. Ich war ihr erstes Kind, also wurde die Welt, sprich: die Leserschaft der Londoner Times, pflichtschuldig über die Ankunft des neuen Erdenbürgers in Kenntnis gesetzt. »7. März 1908, Beverley und Wilfreda Clay, ein Sohn, Amory.«

Warum hat er »Sohn« angegeben? Um seine Frau zu ärgern, meine Mutter? Oder kam darin der unterdrückte Wunsch zum Ausdruck, ich möge kein Mädchen sein, weil er keine Tochter wollte? Ist das der Grund, frage ich mich, warum er mich später umzubringen versuchte? Als ich in einem Sammelalbum auf den alten, vergilbten Zeitungsausschnitt stieß, war mein Vater schon seit Jahrzehnten tot. Zu spät, ihn danach zu fragen. Ein weiterer Fehler.

Beverley Vernon Clay, mein Vater – Ihnen und seinen wenigen Lesern (die meisten längst verstorben) aber fraglos besser bekannt als B. V. Clay, Verfasser von Kurzgeschichten zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts – hauptsächlich Spuk- und Schauergeschichten –, gescheiterter Romanautor und Universalliterat. Geboren 1878, gestorben 1944. Der Eintrag über ihn im Oxford Companion to English Literature (dritte Auflage) lautet wie folgt:

 

Clay, Beverley Vernon

 

B. V. Clay (1878  1944). Autor von Kurzgeschichten. Gesammelt in Eine undankbare Aufgabe (1901), Das unheilvolle Wiegenlied (1905), Heimliche Vergnügen (1907), Der Freitags-Club (1910) u. a. Bänden. Er ist der Verfasser etlicher phantastischer Erzählungen, von denen »Die Belladonna-Wohltat« am bekanntesten ist. Sie wurde von Eric Maude (s. d.) für die Bühne bearbeitet und im Londoner West End über eine Laufzeit von gut drei Jahren über 1000-mal aufgeführt (siehe Edwardianisches Theater).

Macht nicht viel her, nicht wahr? Nicht eben viele Worte, um ein so verwickeltes, schwieriges Leben zusammenzufassen, aber wohl immer noch mehr, als über die meisten von uns in den diversen Annalen der Nachwelt zu lesen sein wird, die unseren flüchtigen Aufenthalt auf diesem kleinen Planeten verzeichnen. Lustigerweise ging ich immer davon aus, dass über mich, die Tochter B. V. Clays, wohl nie etwas geschrieben würde, was sich jedoch als Irrtum herausstellen sollte 

Nun, wie dem auch sei. Ich habe zwar frühe Kindheitserinnerungen an meinen Vater, begann ihn aber erst nach seiner Heimkehr 1918 aus dem Krieg – dem Großen Krieg – richtig kennenzulernen, mit zehn Jahren, als ich mich bereits ansatzweise zu der Person und Persönlichkeit entwickelt hatte, die ich heute bin. Die durch den Krieg entstandene zeitliche Lücke blieb natürlich nicht ohne Auswirkungen, und auch er, das haben mir seither alle bestätigt, war bei seiner Rückkehr nicht mehr derselbe, war durch seine Erlebnisse unwiderruflich verändert worden. Ich wollte, ich hätte ihn vor diesem Trauma besser gekannt – und wer wünschte sich nicht, in die Vergangenheit zurückreisen zu können und die eigenen Eltern kennenzulernen, ehe sie in die Elternrolle schlüpften? Ehe sie als »Mutter« und »Vater« zu mythischen Figuren im Kosmos der Familie wurden, für immer und ewig eingeschlossen und fixiert im Bernstein jener Bezeichnungen und aller damit einhergehender Konsequenzen?

Die Familie Clay.

Mein Vater: B. V. Clay (geb. 1878)

Meine Mutter: Wilfreda Clay (geborene Reade-Hill, geb. 1879)

Ich: Amory, die Erstgeborene, ein Mädchen (geb. 1908)

Schwester: Peggy (geb. 1914)

Bruder: Alexander, von jeher Xan genannt (geb. 1916)

Die Familie Clay.

*

BARRANDALE-JOURNAL 1977

Ich war auf der Rückfahrt von Oban nach Barrandale, im spukhaften Dämmerlicht eines schottischen Sommerabends, als mir eine Wildkatze ins Auge fiel, die quer über die Straße lief, keine zweihundert Meter vor der Brücke, die zu der Insel hinüberführt. Ich hielt sofort an und schaltete den Motor aus, blickte nach vorn und wartete. Die gemächlich dahinschleichende Katze hielt inne und wandte mir den Kopf zu, beinahe hochmütig, als fühlte sie sich durch mich gestört. Ich griff reflexhaft nach der Kamera, meiner alten Leica, hob sie ans Auge – und ließ sie wieder sinken. Es gibt keine langweiligeren Fotos als Tierfotos – wage ich zu behaupten. Ich sah zu, wie die getigerte Katze, die so groß war wie ein Cockerspaniel, ihre Straßenüberquerung beendete und in das neu angepflanzte Nadelgehölz verschwand. Dann ließ ich den Motor wieder an und setzte, seltsam beschwingt, die Heimfahrt zum Cottage fort.

Ich nenne es »das Cottage«, seine genaue postalische Anschrift aber lautet 6, Druim Rigg Road, Barrandale Island. Wo sich die Hausnummern 1 bis 5 befinden, entzieht sich meiner Kenntnis, denn das Cottage steht ganz allein an der kleinen Bucht, an der die Druim Rigg Road endet. Es ist ein zweistöckiges Haus, erbaut um 1850, mit soliden, dicken Mauern, kleinen Zimmern, zwei Schornsteinen und von einstöckigen Nebengebäuden links und rechts flankiert. Vermutlich hat hier jemand vor hundert Jahren mal das Land bewirtschaftet, aber davon ist heute nichts mehr zu sehen. Die geschindelten Dächer sind grün bemoost, und die mit Beton verschalten Mauern, die sich im Lauf der Zeit zu einem unschönen Graugrün verfärbt hatten, habe ich bei meinem Einzug schneeweiß tünchen lassen.

Es steht direkt an der kleinen, namenlosen Bucht, und wenn man sich nach links wendet, nach Westen, kann man die Südspitze von Mull sehen und den windgepeitschten, endlosen grauen Atlantik dahinter.

 

Das Cottage auf Barrandale Island, vor der Renovierung und noch ohne neuen Anstrich, um 1960

Ich trat durch die Haustür, und Flam, mein schwarzer Labrador, begrüßte mich mit einem kurzen, tiefen Bellen, wie jedes Mal, wenn ich nach Hause komme. Nachdem ich meine Einkäufe verstaut hatte, ging ich ins Wohnzimmer, um einen Blick aufs Feuer zu werfen. In die Kaminnische habe ich einen großen Stubenofen mit Glastüren einbauen lassen, in dem ich Torfbriketts verbrenne. Das Feuer war schon ziemlich heruntergebrannt, deshalb legte ich frische Briketts nach. Mir gefiel die Vorstellung, statt Kohle Torf als Brennstoff zu verwenden – als würde ich uralte Landschaften verbrennen, ganze Zeitalter und Erdschichten, die sich in Asche verwandelten, während sie mein Haus heizten und mir zu Warmwasser verhalfen.

Es war noch hell, also rief ich Flam und stapfte mit ihm zur Bucht hinunter. Während Flam an der Flutgrenze und den Gezeitentümpeln herumstöberte, stand ich an dem kleinen, sichelförmigen Strand und beobachtete, wie der Tag in den Abend überging. Bestaunte die wundersamen Farbwandlungen, wie rotglühendes Orange an der Messerschneide des Horizonts unmerklich, wie von einem Dimmer gesteuert, in Eisblau übergehen kann, und lauschte dabei dem Rauschen des Meeres, das unentwegt um Stille zu heischen schien – schh, schh, schh.

*

Zur Zeit meiner Geburt, im edwardianischen England, war »Beverley« ein vollkommen statthafter Männername (wie Evelyn, wie Hilary, wie Vivian). Hat mein Vater womöglich auch deswegen einen so androgynen Namen für mich gewählt: Amory? Namen sind bedeutsam, meiner Ansicht nach, sie sollten nicht leichtfertig vergeben werden – der eigene Name ist wie ein Etikett, das einen einordnet, klassifiziert, er bildet den Begriff, den man von Anfang an von sich selbst hat. Was könnte wichtiger sein? In meinem Leben bin ich nur einem einzigen weiteren Amory begegnet, und es war ein Mann – ein langweiliger Mann noch dazu, fade und reizlos, da half auch der interessante Name nichts.

Mein Vater war bereits im Krieg, als meine Schwester geboren wurde, deshalb zog meine Mutter bei der Namenswahl für dieses neue Kind ihren Bruder zu Rate, meinen Onkel Greville. Gemeinsam entschieden sie sich für etwas »Schlichtes, Solides«, so wurde es jedenfalls in unserer Familie erzählt, und so erhielt die zweite Tochter der Clays den Namen »Peggy« – nicht Margaret, sondern von vornherein die verniedlichte Koseform. Vielleicht war es eine Art Konter meiner Mutter zu »Amory«, dem androgynen Namen, bei dem sie nicht hatte mitreden dürfen. So also kam Peggy in die Welt – Peggy, die Schlichte, Solide. Nie hat wohl ein Kind einen weniger passenden Namen erhalten. Als mein Vater auf Fronturlaub nach Hause kam, um seine inzwischen sechs Monate alte jüngste Tochter zu begrüßen, war der Name jedenfalls fest etabliert, wir kannten sie wahlweise als »Peg«, »Peggoty« oder »Peggsy«, und er konnte nichts mehr daran ändern. Er konnte den Namen nie leiden, und dass er mit Peggy weniger liebevoll umging, fast so, als wäre sie eine Art Findelkind, das wir bei uns aufgenommen hatten, hing, glaube ich, direkt mit seiner Aversion gegen ihren Namen zusammen. Was veranschaulichen mag, was ich mit der Bedeutsamkeit von Namen gemeint habe. Hatte Peggy das Gefühl, den falschen Namen zu tragen, weil ihr Vater ihn oder sie nicht sonderlich leiden konnte? War ihr Name ein weiterer Fehler? Hat sie ihn deswegen später geändert?

Was Alexander betrifft, »Xan«, auf diesen Namen haben sie sich einvernehmlich...

Erscheint lt. Verlag 23.1.2016
Übersetzer Patricia Klobusiczky, Ulrike Thiesmeyer
Sprache deutsch
Original-Titel Sweet Caress
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 30er Jahre • Annemarie Schwarzenbach • Band 1 • Berlin • Besatzung • Buchreihe • Bundeskanzler • Deutschland • Drama • eBook • Feminismus • Fotografie • Fotografin • Fotografinnen-Saga • Fotos • Frauenromane • Freizügig • Geschenke für Kolleginnen • Geschenke für Mütter • Geschenkidee • Gesellschaftsroman • Große Liebe • Hardcover • Kriegszeit • Lee Miller • Liebe • Liebesroman • Marianne Breslauer • Marlene Dietrich • Rebecca West • Reise • Reisen • Robert Capa • Roman • Romane für Frauen • Schweden • Skandal • stark • starke Frauenfigur • starke Heldin • starke Protagonistin • Taschenbuch
ISBN-10 3-8270-7884-9 / 3827078849
ISBN-13 978-3-8270-7884-1 / 9783827078841
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 15,3 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99