Die Letzten (eBook)

Roman
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2017 | 2. Auflage
304 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-43309-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Letzten -  Madeleine Prahs
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Über Mieten, Mord und abgefackelte Perücken Herbst, in einer deutschen Großstadt: Das letzte unsanierte Haus in der Hebelstraße wird »leergewohnt«. Karl Kramer, 55, Hausmeister, Elisabeth Buttkies, 72, Deutschlehrerin a. D. und Jersey, 28, Studentin in Teilzeit, sind noch übrig - und sie könnten unterschiedlicher nicht sein. Die Welt vor der Tür meint es nicht immer gut mit ihnen, drinnen pflegen sie ihre Wunden - bis der Brief des Eigentümers kommt: Kernsanierung. Auszug. Endgültig. Der Kampf um ihr vermeintlich letztes Stückchen »Ich« beginnt. Man verbarrikadiert sich, Katzen werden vergiftet und Perücken abgefackelt. Fast ist es zu spät, doch dann schließen sich »die Letzten« zusammen. Am Ende blühen die Geranien wieder. Es ist Frühling. Drei sind glücklich. Und einer ist tot.

Madeleine Prahs, geboren 1980 in Karl-Marx-Stadt, ist dort und am Ammersee aufgewachsen. Sie studierte Germanistik und Kunstgeschichte in München und Sankt Petersburg. 2014 erschien ihr Debütroman >Nachbarn<. Für ihre Arbeit an dem Roman >Die Letzten< erhielt sie mehrere Stipendien, u.a. vom Literarischen Colloquium Berlin. Sie lebt in Leipzig.

Madeleine Prahs, geboren 1980 in Karl-Marx-Stadt, ist dort und am Ammersee aufgewachsen. Sie studierte Germanistik und Kunstgeschichte in München und Sankt Petersburg. 2014 erschien ihr Debütroman ›Nachbarn‹. Für ihre Arbeit an dem Roman ›Die Letzten‹ erhielt sie mehrere Stipendien, u.a. vom Literarischen Colloquium Berlin. Sie lebt in Leipzig.

Die Zukunft hat längst begonnen


Erdgeschoss rechts

Der Raum war exakt das, was sich Kramer unter einem Schulungszimmer beim Arbeitsamt vorgestellt hatte. Die kunststoffbeschichteten Tische waren zweckdienlich, die Stühle unbequem, und alles zusammen war beim Baumarkt wahrscheinlich mit dem Aufsteller »Büroausstattung komplett!« beworben worden.

Der graue Teppich verströmte einen leichten Geruch von Lösemitteln, auf dem Fensterbrett stand eine Orchidee, deren Übertopf zu klein war, und die Jalousien hätten sich automatisch runterfahren lassen, wenn der Schalter nicht defekt gewesen wäre. Der Raum in seiner ganzen belanglosen Stumpfheit hatte eine beruhigende Wirkung gehabt, und dafür war Kramer dankbar gewesen. Alles war abgenutzt, ein wenig schäbig, aber niemand interessierte sich dafür, niemand würde hier renovieren.

Wie schon die Tage zuvor musste er heute Morgen im Treppenhaus vor einem knöchelhohen Geröllhaufen stehen bleiben, und erneut stand die Frage in dem schwer angeschlagenen Raum, ob es ihm auch dieses Mal gelingen würde, ohne Verletzungen und verschmutzte Kleidung auf die Straße zu gelangen. Das Ganze hatte ihn an die Versatzstücke eines Horrorfilms erinnert: ein einsames, dunkles Haus, eine Ahnung von drohendem Unheil sowie der Wegfall der einzigen Fluchtmöglichkeit. Das unbekannte Grauen hatte sogar einen Namen und den ehrenwerten Beruf des Immobilienmaklers. Fehlte nur noch das Gewitter.

Kramer lehnte sich zurück und blickte auf das Flipchart. Er hatte gehofft, der Film würde heute noch besser werden, anderes Genre, bessere Story, aufgeräumtes Setting, eine Prekariatskomödie vielleicht, auf jeden Fall etwas, womit er später in der Kneipe angeben könnte, aber es sah ganz und gar nicht danach aus.

Die Tische waren in U-Form zusammengestellt, an deren offenem Ende besagtes Flipchart stand – und leider auch der Kay.

Seit zweieinhalb Stunden saßen Kramer und die acht anderen Insassen nun schon in dessen Weltbild fest, und es würden mindestens noch drei weitere Stunden Haft werden.

Dabei hatte das Ganze vielversprechend angefangen. Der Kay, »Kay mit y«, hatte eine lässige Jeans und ein blau-weiß kariertes Hemd an, er war noch jung, wirkte aber solide, und es sah nicht danach aus, als bestünde sein Leben bloß aus Sonnenbrillen, Filmhits und Autoerotik. Er hatte alle Teilnehmer tatsächlich sehr freundlich begrüßt, vielleicht ein wenig übertrieben, aber das hatten Coachingexperten wahrscheinlich so an sich, und es war das erste Mal seit Langem, dass Kramer als »Kunde der Arbeitsagentur« das Gefühl hatte, hier meinte jemand wirklich ihn. Kay stellte Fragen nach dem Lebensweg jedes Einzelnen, die Atmosphäre war locker, beinahe entspannt, und für einen Moment hatte sich Kramer wohlgefühlt. Ein Fehler.

»Wie erging es dir …«, hatte Kay gleich zu Beginn gefragt und auf den Spickzettel mit den Namen geblickt, »wie erging es dir mit deiner Karriere, Karl?«

Kramer hatte unbeholfen gelächelt, mit den Schultern gezuckt und gesagt: »Tausend Mal berührt, tausend Mal ist nichts passiert …«

Ein paar hatten gelacht, nur Kay hatte die Luft scharf durch die Zähne gezogen. Und dann hatte er Kramer angesehen, wie der Arzt einen zuversichtlich vor ihm sitzenden Patienten ansieht. Der Patient ist ahnungslos, arglos, und vielleicht hat er bis eben im Wartezimmer gedöst und davon geträumt, wie er über eine Wiese rennt und Schmetterlinge fängt. Der Arzt jedoch erkennt mit wenigen scharfen Blicken, die wie Handkantenschläge den Körper seines Gegenübers treffen und auf Symptome von Mangelerscheinungen hin abscannen, dass es für den Patienten höchste Eisenbahn wäre, sich ernsthaft Sorgen zu machen und die Lebenseinstellung zu ändern, sonst war’s das mit der Wiedereingliederung in die Gruppe der Gesunden.

»Gut, versuchen wir es mal anders.« Kay war langsam zu einem der Fenster an der Längsseite des Raumes geschlendert, hatte sich an die Kante des Fensterbretts gelehnt und die Arme verschränkt. Der Stoff des Hemdes spannte über den Oberarmen, und das lag nicht am Fett-, sondern am Muskelgewebe. So viel hatte Kramer verstanden. »Wichtig ist immer die Frage: Was ist dein Projekt im Hier und Jetzt?«, fuhr er fort, während er Kramer immer noch durchdringend anblickte. »Meine Frage bezieht sich auf dein berufliches Projekt, Karl«, fügte er hinzu, als halte er Kramers kognitive Kompetenzen für ausbaufähig. Vielleicht hatte er aber auch den kleinen Fleck Eigelb auf dem Kragen von Kramers Salz-und-Pfeffer-Jackett entdeckt, und sofort war ihm klar geworden, dass Kramer zu jenen mittelalten Männern gehören musste, deren privates Projekt – eine Ehe oder langjährige Beziehung – vor noch nicht allzu langer Zeit gescheitert war. Dass die Trennung erst kürzlich vollzogen worden sein musste, zeigte ihm der Umstand, dass der Geschiedene immerhin noch ein Jackett trug. Und in seinem Seminar saß. Es war also noch nicht zu spät. Kay klatschte in die Hände: »Na? Ich höre.«

»Na ja, also ich würde schon gerne beruflich wieder Fuß fassen«, hatte Kramer sich beeilt zu antworten, aber noch im gleichen Moment begann er sich zu schämen. Es hatte verzweifelt geklungen, als wolle er dem Arzt nach der Diagnose versichern: Also, ich würde schon noch gerne eine Weile leben.

»Schon irgendeine Vorstellung?«, hatte Kay gefragt und schwer ausgeatmet, aber Kramer hatte nur den Kopf gesenkt.

Und während Kay zum Flipchart gerannt war, um dort aus unerfindlichen Gründen die erste noch völlig unbeschriebene Seite über die obere Klemmschiene nach hinten zu ziehen, hatte Kramer sich zurückgelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt und an der verkrüppelten Orchidee vorbei aus dem Fenster gesehen.

Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da wäre für Kramer eine Situation wie diese unvorstellbar gewesen. Kramer wusste noch ganz genau, wie begeistert der ganze Saal damals geklatscht hatte. Es war, als habe gerade jemand den Beginn einer neuen Zeitrechnung ausgerufen. Der Schulze, die Hübner, der Voigt und sogar der Lentner, der an jenem Tag neben ihm saß, strahlten wie neu gewartete Atomanlagen.

Und auch er selbst, da musste man ehrlich sein, hatte sich an jenem Nachmittag in einer extrem gesteigerten Gemütsstimmung befunden.

»Die Logistik der Zukunft: Das ist die Vision einer Branche, die mit Hilfe von Hightech und hoch motivierten Mitarbeitern die globalisierte Wirtschaft zuverlässig am Laufen hält. Effizient, intelligent und nachhaltig. Also müssen wir uns den Marktanforderungen anpassen und Prozesse und Abläufe neu organisieren und digitalisieren. Das ist unser Ziel.«

Ja, das konnte Schenkel, seine Mitarbeiter in Ekstase versetzen. Hinter seinem Kugelkopf mit Raspelfrisur leuchtete ein raumhoher Screen, darauf stand der Slogan »Die Zukunft hat längst begonnen«, und etwas kleiner darunter: »Mitarbeiterversammlung RQ Logistic & Services«.

»Auch langjährige Beschäftigte«, hatte Schenkel in den Saal gerufen, »auch langjährige Beschäftigte möchten wir auf diesem Weg zu Innovation und Fortschritt mitnehmen. Aber sie müssen bereit sein, sich auf die neuen Anforderungen einzulassen.«

Kramer atmete tief ein, dann drehte er den Kopf vom Fenster zurück zum Flipchart. SMART stand in Großbuchstaben in der Mitte des DIN A1 großen Blattes Papier.

»Ziele sollten immer SMART sein«, sagte Kay jetzt, dann drohte er gespielt böse mit dem erhobenen Zeigefinger in Kramers Richtung. »Und damit ist nicht das Auto gemeint, Karl.« Gelächter.

Kramer zwang sich zu lächeln, während er in Gedanken beherzt das Geschäft betrat, über dessen Schaufenster stand: »Jägerbedarf & Waffen aller Art«.

Kay drehte sich mit einem lockeren Schwung aus der Hüfte zu den anderen: »Also, was sind Ziele? Wie würdet ihr das definieren? Anyone …?«

Kerstin meldete sich, eine kleine, schüchtern wirkende Mittfünfzigerin, die neben Kramer saß. Sie hatte zu den Ersten gehört, die von den Entlassungswellen bei Schlecker erfasst worden waren. »Ja, Kerstin, bitte …«

»Für mich ist ein Ziel …«

Kramer hörte nicht mehr zu und schaute an Kerstin vorbei auf ein Stück Raufasertapete.

Lentner, der ein bisschen aussah wie Paul Kuhn und ähnlich gewitzt war, hatte nach der Mitarbeiterversammlung damals gesagt, dass er sich mit keinem von den Porzellanaffen da oben in eine Weiterbildungsmaßnahme stecken lassen würde. Denn kurz vor Ende der Ansprache hatte Schenkel allen erklärt: »Die Alten müssen von den Jungen lernen. Und die Alten zum Lernen zu motivieren, ist eine Aufgabe der Führungskräfte.«

Sie hatten die Schlussworte Schenkels seinerzeit beklatscht, wenn auch nicht mehr so euphorisch wie am Anfang. Und vielleicht klatschten einige auch nur, weil es einfach schön war zu wissen, dass die Führungskräfte auch eine Arbeit aufgetragen bekommen hatten, und sei es die Motivation der Alten.

»Bei uns«, so schloss Schenkel, »wird es keine dramatischen Arbeitsplatzverluste geben.«

Ein Finger schnipste plötzlich vor Kramers Gesicht. Er erschrak.

»Na, kleines Nickerchen gemacht?«

Kramer hob den Kopf und blickte in Kays cremeverwöhntes Gesicht.

»Wir reden gerade über Bedürfnisse, und ich frage dich: Was ist dein Bedürfnis? Karl?«

Vor etwa einer Stunde hatte Kramer begonnen, ein Bedürfnis zu entwickeln, das er bis zu diesem Tag, zu dieser Stunde nie gehabt hatte und das mitnichten seiner Persönlichkeitsstruktur oder seinem Charakter entsprach. Es war das Bedürfnis, allein für Kay...

Erscheint lt. Verlag 4.8.2017
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Altbau • Entmietung • Gentrifizierung • Großstadt • Hausbesetzung • Hausgemeinschaft • Immobilienspekulation • Mietshaus • Protest • Sanierung • Sozialer Wandel • Vertreibung • Widerstand
ISBN-10 3-423-43309-4 / 3423433094
ISBN-13 978-3-423-43309-9 / 9783423433099
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