Flâneuse (eBook)

Frauen erobern die Stadt - in Paris, New York, Tokyo, Venedig und London

(Autor)

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2018 | 1. Auflage
400 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-21418-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Flâneuse -  Lauren Elkin
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Die Flâneuse - Virginia Woolf in London ist eine von ihnen, Jean Rhys in Paris, Holly Golightly in New York. Sie alle erobern sich selbstbewusst Städte, Menschen und Gedanken. Sie sind neugierig, klug und unabhängig, reisen, wohin sie wollen und genießen die Freiheit der Großstadt. Die Autorin und Essayistin Lauren Elkin folgt den Spuren außergewöhnlicher flanierender Frauen, indem sie selbst durch das heutige Paris, New York, London, Venedig und Tokyo spaziert. Sie lässt sich treiben durch Städte, Literatur, Kunst und Geschichte und zeigt in ihrer Geschichte des weiblichen Flânierens wie berauschend es sein kann, sich eine Stadt zu erobern, was lange nur Männern vorbehalten war.

Lauren Elkin, geboren in New York, ist Autorin von »Flâneuse. Frauen erobern die Stadt«, Essayistin und Übersetzerin. Sie schreibt unter anderem für die New York Times Book Review, den Guardian und die Times Literary Supplement. Nachdem sie die USA verlassen und die Straßen von London, Venedig, Tokyo und Hong Kong, wie Hemingway immer ausgestattet mit Stift und Papier, erobert hat, lebte sie in Paris. Heute lebt sie mit ihrer Familie in London.

FLÂNEUS-IEREN

Wann ist es mir zum ersten Mal begegnet, dieses elegante französische Wort flâneur mit seinem überdachten â und dem rollenden eur? Es muss in den 1990ern gewesen sein, als ich in Paris studierte, aber ich glaube nicht, dass ich in einem Buch darauf gestoßen bin. Viel Pflichtlektüre habe ich in jenem Semester nicht gelesen. Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen, und das bedeutet wohl, dass ich bereits zum Flâneur wurde, bevor ich wusste, was das ist; ich durchstreifte die Straßen in der Nähe meiner Universität – links der Seine, wie es sich für eine amerikanische Uni gehört.

Das Wort Flâneur für jemanden, »der ziellos umherstreift«, abgeleitet vom französischen Verb flâner, entstand in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in den mit Glas und Stahl überdachten Pariser passages. Als Haussmann anfing, seine lichten Boulevards in die dunkle unebene Kruste aus Häusern zu schneiden wie mit einem Messer durch Chèvre im Aschemantel, spazierte auch der Flâneur hindurch, um das urbane Spektakel zu betrachten. Als männliche Figur mit Privilegien und Muße, mit Zeit und Geld und ohne unmittelbare Verpflichtungen, die seine Aufmerksamkeit erfordert hätten, versteht der Flâneur die Stadt wie nur wenige ihrer Bewohner, denn er hat sie sich mit den Füßen eingeprägt. Jede Ecke, jede Gasse, jeder Treppenaufgang hat das Potenzial, ihn in rêverie zu versetzen. Was ist hier geschehen? Wer ist hier vorbeigekommen? Welche Bedeutung hat dieser Ort? Der Flâneur, eingestimmt auf die Saitenschwingungen seiner Stadt, weiß es intuitiv.

In meiner Ignoranz muss ich geglaubt haben, ich hätte die flânerie erfunden. Für jemanden aus einem amerikanischen Vorort, wo die Menschen überall mit dem Auto hinfahren, war es ein wenig exzentrisch, ohne besonderen Grund zu Fuß zu gehen. In Paris konnte ich stundenlang laufen, ohne je irgendwo »anzukommen«. Ich beobachtete die Zusammensetzung der Stadt und erhaschte hier und da einen Blick auf ein inoffizielles Stück Geschichte: ein Einschussloch in der Fassade eines hôtel particulier, vergessene Schriftzüge hoch oben an der Seitenfassade eines Hauses, der Name einer Mehlfabrik oder einer Zeitung, die es nicht mehr gibt (was ein kreativer Graffiti-Künstler als Aufforderung nahm, etwas Eigenes daraus zu machen), oder ein paar Reihen bei Straßenarbeiten freigelegter Pflastersteine: verschiedene Schichten unter der Oberfläche der heutigen Stadt, die sich langsam immer weiter nach oben schiebt. Ich hielt Ausschau nach Rückständen, nach Strukturen, nach Zufällen, Begegnungen und unerwarteten Entdeckungen. Die wichtigste Erfahrung mit dieser Stadt machte ich nicht mittels Büchern, Restaurants oder Museen und auch nicht durch die seelischen Narben jener Affäre, die sich in einer Dachkammer nahe der Börse abspielte, sondern durch das viele Zufußgehen. Irgendwo im sechsten Arrondissement wurde mir klar, dass ich für den Rest meines Lebens in der Stadt wohnen wollte, und zwar genau hier, in Paris. Es hatte etwas mit der absoluten, vollkommenen Freiheit zu tun, die sich entfaltet, wenn man einen Fuß vor den anderen setzt.

Zwischen meiner Wohnung in der Avenue de Saxe und der Uni in der Rue de Chevreuse lief ich eine Furche in den Boulevard Montparnasse. Von den Namen der Restaurants, an denen ich vorbeikam, lernte ich ein Französisch, das nicht in den Schulbüchern steht: Les Zazous (benannt nach einem Jazzer-Typ aus den 1940er-Jahren mit kariertem Blazer und Stirnlocke), das Restaurant Sud-Ouest & Cie, von dem ich die französische Entsprechung zu »& Co« erfuhr, und von einer Bäckerei namens Pomme de pain lernte ich das Wort für Kiefernzapfen, pomme de pin, wobei ich nie recht verstanden habe, warum dieses Wortspiel der Mühe wert sein sollte. In einem Brezel-Shop namens Duchesse Anne kaufte ich mir jeden Tag auf dem Weg zu meinen Veranstaltungen einen Orangensaft und dachte darüber nach, wer diese Anne sein mochte und in welcher Beziehung sie zu Brezeln stehen könnte. Ich sinnierte über das verzerrte Bild, das die Franzosen von der amerikanischen Geografie haben mussten, was sich in einem TexMex-Restaurant namens Indiana Café äußerte. Auf meiner Strecke lagen all die berühmten Cafés des Boulevards: La Rotonde, Le Sélect, Le Dôme und La Coupole, Wasserstellen für Generationen von amerikanischen Schriftstellern in Paris, deren Geister unter den Markisen der Cafés hockten, ohne sich von den Entwicklungen des zwanzigsten Jahrhunderts beeindruckt zu zeigen. Ich überquerte die Straße zur Rue Vavin mit dem gleichnamigen Café, in das die coolen lycéens nach Schulschluss gingen, lässig Zigaretten rauchend, die Ärmel länger als die Arme, Converse-Sneakers an den Füßen. Jungen mit dunklen Locken, die Mädchen ungeschminkt.

Mutiger geworden, wagte ich mich bald in die Straßen, die vom Jardin du Luxembourg abgingen, einige Gehminuten von meiner Uni entfernt. Ich gelangte zur Kirche Saint-Sulpice, die damals renoviert wurde – und das schon seit Jahrzehnten, ebenso wie der Turm Saint-Jacques. Niemand konnte sagen, ob die Baugerüste an den Türmen je wieder abgebaut werden würden. An der Place Saint-Sulpice saß ich im Café de Mairie und beobachtete, wie die Welt an mir vorüberzog: die magersten Frauen, die ich je gesehen hatte, in Leinenkleidung, die in New York spießig ausgesehen hätte, in Paris aber unvergleichlich chic wirkte, Nonnen in Zweier- oder Dreiergrüppchen, Yuppie-Mütter, die ihre kleinen Söhne an Bäume pinkeln ließen. Ich schrieb alles auf, was ich sah, ohne zu wissen, dass Georges Perec 1974 eine Woche lang an genau diesem Platz, in genau diesem Café gesessen und dasselbe Kommen und Gehen notiert hatte: Taxis, Busse, Gebäck essende Menschen, die Richtung und Stärke des Windes – alles in dem Versuch, seinen Lesern die Schönheit des Alltäglichen nahezubringen, dessen, was er als das Infraordinäre bezeichnete: was geschah, wenn nichts geschah. Was ich ebenfalls nicht wusste, war, dass Nachtgewächse, das eines meiner Lieblingsbücher werden sollte, in genau diesem Café und dem darüberliegenden Hotel spielte. Paris fing gerade erst an, der Ort meiner wichtigsten persönlichen und intellektuellen Bezugspunkte zu werden – und sie hervorzubringen. Wir lernten uns gerade erst kennen.

Mit Englisch als Hauptfach hatte ich eigentlich nach London gehen wollen, doch aufgrund einer Formalie verschlug es mich stattdessen nach Paris. Innerhalb eines Monats hatte mich die Stadt verzaubert. Da war etwas in den Straßen von Paris, das mich innehalten und mir das Herz stocken ließ. Sie schienen von einer Gegenwart durchdrungen, selbst wenn außer mir niemand dort war. Es waren Orte, an denen etwas geschehen könnte oder geschehen war oder beides. In New York, der Stadt, in der sich alles der Zukunft beugt, hätte ich ein solches Gefühl nicht haben können. In Paris hielt ich mich viel im Freien auf und dachte mir Geschichten zu den Straßen aus, durch die ich ging. Nach diesen sechs Monaten waren die Straßen nicht mehr nur die Strecke zwischen meiner Wohnung und meinem jeweiligen Zielort, sondern meine große Leidenschaft. Ich ließ mich überallhin treiben, wo es interessant aussah, ließ mich vom Anblick einer verfallenden Wand anlocken, von bunten Blumenkästen oder von irgendetwas Faszinierendem am Ende einer Straße, auch wenn es etwas so Alltägliches war wie eine Querstraße. Alles, jedes Detail, das plötzlich hervortrat, zog mich an. Jedes Mal, wenn ich um eine Ecke bog, wurde mir bewusst, dass der Tag ganz mir gehörte und ich nirgendwo sein musste, wo ich nicht sein wollte. Ich war erstaunlich immun gegen Verantwortung, denn ich hatte keinerlei Ambitionen, außer das zu tun, was mich interessierte.

Ich erinnere mich, dass ich einmal für zwei Stationen die Metro nahm, weil mir nicht bewusst war, wie nah alles beieinanderlag, wie gut man in Paris zu Fuß gehen konnte. Ich musste gehen, um zu begreifen, wo ich mich im Raum befand und wie die Orte miteinander zusammenhingen. An manchen Tagen lief ich bis zu zehn Kilometer und kehrte mit wunden Füßen und der einen oder anderen Geschichte für meine Mitbewohner nach Hause zurück. Ich sah Dinge, die ich in New York noch nie gesehen hatte. Bettler (Roma, wie mir erklärt wurde), die regungslos mit gesenktem Kopf in den Straßen knieten und Schilder hielten, auf denen sie um Geld baten. Manche hatten Kinder dabei, andere Hunde. Obdachlose, die in Zelten, unter Treppen oder Brücken hausten. Für jede malerische Ecke in Paris gab es das entsprechende Elend. Ich legte meine New Yorker Apathie ab und gab, so viel ich entbehren konnte. Wenn man sehen lernt, bedeutet das auch, dass man nicht mehr wegsehen kann. In den Straßen von Paris war mir immer bewusst, dass uns nur der schmale Grat des Schicksals voneinander trennte. Und dann erfuhr ich irgendwie durch Zufall, dass dieses ganze Herumlaufen und der unablässige Drang, alles, was ich sah und empfand, in die biegsamen Notizbücher zu kritzeln, die ich in der Buchhandlung Gibert Jeune am Boulevard Saint-Michel kaufte – dass also alles, was ich intuitiv tat, schon andere vor mir getan hatten, und zwar in einem solchen Ausmaß, dass es dafür ein eigenes Wort gab. Ich war ein Flâneur.

Oder eher – als gute Französisch-Schülerin machte ich aus dem maskulinen Substantiv ein feminines – eine Flâneuse.

+

Flâneuse [flah-nöhse], Subst.: aus dem Französischen. Weibliche Form von Flâneur [flah-nöhr], Müßiggänger, gemächlich umherstreifender Beobachter, normalerweise in Städten anzutreffen.

Diese...

Erscheint lt. Verlag 12.11.2018
Übersetzer Cornelia Röser
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Flaneuse - Women Walk the City in Paris, New York, Tokyo, Venice and London
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte außergewöhnliche Frauen • eBooks • Flanieren • Gehen • lifestyle • London • Metropolen • New York • Paris • Patti Smith • Spazieren • Städtereisen • Tokio • Venedig • Virginia Woolf • Weihnachtsgeschenke für Frauen
ISBN-10 3-641-21418-1 / 3641214181
ISBN-13 978-3-641-21418-0 / 9783641214180
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