Blauwal der Erinnerung (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
288 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31958-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Blauwal der Erinnerung -  Tanja Maljartschuk
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Von der Bachmann-Preisträgerin Tanja Maljartschuk - ein Roman über den vergessenen ukrainischen Volkshelden Wjatscheslaw Lypynskyj, dessen Leben auf kunstvolle Weise mit dem der Ich-Erzählerin verknüpft wird: Sie sucht in dessen Vergangenheit nach Spuren, um besser mit ihrer eigenen Gegenwart zurechtzukommen. Eine Frau leidet, nach unglücklichen Beziehungen aus der Bahn geworfen, unter Panikattacken und verlässt monatelang die Wohnung nicht. Sie findet Orientierung und Halt in einer historischen Figur, die für die Geschichte der Ukraine eine große Rolle spielte: Wjatscheslaw Lypynskyj. Der leidenschaftliche Geschichtsphilosoph und Politiker entstammte einer polnischen Adelsfamilie, die in der Westukraine lebte. Schon früh identifizierte er sich mit der Ukraine und bestand auf der ukrainischen Form seines Namens. Nach dem Studium befasste er sich politisch und historisch mit dem zwischen Polen und Russland zerrissenen Land und forderte wie besessen seine staatliche Unabhängigkeit. Ein Kampf, der ihn durch verschiedene Länder führte und persönliche Opfer kostete. Ähnlich kränklich wie diese historische Figur und - wie er - auf der Suche nach Zugehörigkeit, folgt die Erzählerin diesem stolzen, kompromisslosen, hypochondrischen Mann, um durch die Erinnerung der sowjetischen Entwurzelung zu trotzen. Ein literarisch beeindruckender Roman, der zeigt, was es heißt, wenn die eigene Identität aus Angst, Gehorsamkeit und Vergessen besteht.

Tanja Maljartschuk, 1983 in Iwano-Frankiwsk, Ukraine geboren, studierte Philologie an der Universität Iwano-Frankiwsk und arbeitete nach dem Studium als Journalistin in Kiew. 2009 erschien auf Deutsch ihr Erzählband »Neunprozentiger Haushaltsessig«, 2013 ihr Roman »Biografie eines zufälligen Wunders«, 2014 »Von Hasen und anderen Europäern«, 2019 ihr Roman »Blauwal der Erinnerung«. 2018 erhielt Tanja Maljartschuk den Ingeborg-Bachmann-Preis. Die Autorin schreibt regelmäßig Kolumnen und lebt in Wien.

Tanja Maljartschuk, 1983 in Iwano-Frankiwsk, Ukraine geboren, studierte Philologie an der Universität Iwano-Frankiwsk und arbeitete nach dem Studium als Journalistin in Kiew. 2009 erschien auf Deutsch ihr Erzählband »Neunprozentiger Haushaltsessig«, 2013 ihr Roman »Biografie eines zufälligen Wunders«, 2014 »Von Hasen und anderen Europäern«, 2019 ihr Roman »Blauwal der Erinnerung«. 2018 erhielt Tanja Maljartschuk den Ingeborg-Bachmann-Preis. Die Autorin schreibt regelmäßig Kolumnen und lebt in Wien.

Inhaltsverzeichnis

II 1931


Einatmen – Ausatmen

Mit einiger Verspätung berichtete die gesamte ukrainische Presse ohne Ausnahme über seinen Tod. Wjatscheslaw Lypynskyj ist tot. Lypynskyj verstorben. Was für ein Verlust. Höchste Zeit. Alle kannten Lypynskyj. Ohne ihn würde es schwieriger werden. Oder einfacher? Jedenfalls langweiliger, denn er hatte alle auf Trab gehalten. Mit Lypynskyj wurde die ukrainische Noblesse zu Grabe getragen. Er war ein verrückter Tuberkulosekranker. Ein Einsiedler. Jahrelang hatte ihn niemand gesehen. Doch alle lasen, was er schrieb. Und er schrieb viel. Manchmal zehn Briefe pro Tag. Wer konnte sein Gekritzel überhaupt entziffern? Wer verstand überhaupt, was er sagen wollte? Er war gefürchtet, weil er von allen menschliche Würde verlangte und darauf bestand, dass sie jedermanns Pflicht sei. Wer brauchte das schon? Ja, niemand mochte ihn, alle duldeten ihn. Und atmeten erleichtert auf, als er starb. Lypynskyjs Feinde schrieben rühmende Nachrufe. Sie hatten sie schon im Voraus verfasst, hatten sich gleichsam einen Vorrat an Nachrufen angelegt. Alle warteten auf seinen Tod. Seltsam, dass er nicht früher gestorben war.

Er wurde auf Händen hinausgetragen. Das Auto, das ihn ins Sanatorium bringen würde, wartete vor dem Haus.

»Ob ich das alles noch einmal sehen werde?«, fragte er sich mit einem Blick zurück.

»Aber sicher, Sie haben schon Schlimmeres überstanden«, antwortete Lypynskyjs Haushälterin Fräulein Julia Rosenfelden. Er sprach ukrainisch, sie sprach deutsch. In ihrem langjährigen Zusammenleben hatten sie sich perfekt aufeinander abgestimmt. Von allen Menschen verstand sie ihn am besten und konnte seinen jeweiligen Gesundheitszustand allein anhand der Tiefe und Geschwindigkeit seines Atems bestimmen. Lypynskyjs Atmung zu analysieren war ihre Leidenschaft, ihr Hobby, das die Haushälterin zur Vollendung gebracht hatte, neben der Hausarbeit, dem Reinigen der Kleidung und dem Putzen der Schuhe, die Lypynskyj seit Jahren nicht mehr trug. Alle nannten das Fräulein Fin Julí. Sie war fünf Jahre älter als ihr Dienstgeber, unverheiratet, eine ergraute Blondine, mit scharfer Zunge, aber zugleich gerecht und warmherzig. Sie pflegte zu sagen: »Wieso haben Sie es so eilig? Atmen Sie langsamer. Eiiins-Zweeei. (Einatmen-ausatmen.)« Lypynskyj winkte immer verärgert ab.

»Ich bin froh, dass ich überhaupt noch atme, lassen Sie mich in Ruhe.«

(Einatmen-ausatmen. Einatmen-ausatmen.)

Lypynskyj versuchte, die Kontrolle über seine Lunge wiederzuerlangen, zumindest über jenen Teil, der – wie er meinte – noch nicht völlig durchlöchert war. Dann öffnete Fin Julí weit die Fenster, und der kalte Gebirgswind fegte ins ordentlich aufgeräumte Zimmer, in dessen Mitte ein großes Bett stand. Das Bett diente Lypynskyj schon seit Langem als Arbeitsplatz. Durch das Fenster sah man schneebedeckte Alpengipfel. Lypynskyj schloss die Augen und atmete. Eiiins-zweeei. (Einatmen-ausatmen.) Zwei Stunden. Drei Stunden. Als schaukelte er in einer Wiege, die zwischen zwei Berggipfeln über einem tiefen Tal gespannt war. Sein nach wie vor tiefschwarzer Schnurrbart überzog sich langsam mit Raureif.

Vor dem Haus stand Lypynskyjs Tochter Ewa. Sie war eigens aus Krakau angereist, als sie vom Herzanfall ihres Vaters erfahren hatte. Der Herzanfall ereignete sich Ende Mai, der Arzt war sechs Stunden unterwegs gewesen, da in den Bergen fürchterliche Unwetter tobten, trübe Sturzbäche donnerten mit an den Felsen abgehobelten jungen Baumstämmen ins Tal, wuschen auch die guten Wege aus, von den Pfaden ganz zu schweigen. Lypynskyj war sehr nervös. Fin Julí stand am Fenster, wie ein Kind fragte Lypynskyj alle paar Minuten:

»Ist er schon da?«

»Noch nicht, aber bald.«

»In meinem Zustand«, rief er, »kann man nicht so lange auf den Arzt warten.«

Sie trafen die Entscheidung, Lypynskyj ins Sanatorium zu bringen. Lypynskyj verkaufte sein Archiv an Andrej Scheptyzkyj, den Metropoliten der ukrainischen griechisch-katholischen Kirche, um den teuren Aufenthalt im Sanatorium Wienerwald bezahlen zu können. Für das Archiv – Briefe, Handschriften, Notizen, unveröffentlichte Artikel und Unterlagen dazu – erhielt er ein paar Hundert Dollar. Das musste für die erste Zeit reichen.

Lypynskyj hatte sich von Kindheit an auf den Tod vorbereitet, als dieser aber im neunundvierzigsten Lebensjahr die Hand nach ihm ausstreckte, begann er sich mit aller Kraft dagegen zu sträuben. Er wollte nicht sterben. »Wenigstens noch ein paar Jahre«, murmelte er. Wenn er meinte, er sei unbeobachtet. Es wäre gut, das eine oder andere zu Ende zu schreiben, dies oder jenes zu sehen oder zu tun. Die politischen Feinde zu vernichten. Derer hatte Lypynskyj viele. Ein paar Tage mit seiner Tochter zu verbringen. Vielleicht mit ihr ans Meer zu fahren wie einst mit ihrer Mutter? Ein Jammer, dass ihm die Meeresbrise so schadete. Brisen und Böen – diese Bestien, seine Mörder. Der Wind hatte Lypynskyj zugrunde gerichtet. Am Geruch unterschied er die verschiedenen Arten von Wind. Am Geruch des Windes bestimmte er auch die Uhrzeit. Der Wind um fünf Uhr morgens riecht anders als jener, der eine Stunde später weht. Er riecht intensiver, irgendwie frischer, wie Morgenseife. Lypynskyj konnte sie alle voneinander unterscheiden, denn der Wind hatte ihn sein Leben lang angetrieben und am Ende zur Geisel eines kleinen Landes gemacht, in dem nach dem Zerfall der Monarchie niemand aus freiem Willen hätte leben wollen. Der kalte Nordwestwind vertrieb Lypynskyj aus Genf, wo er ein Jahr Soziologie studiert hatte, zusammen mit einem starken Westwind verjagte er ihn aus Wien, wo Lypynskyj beinahe ein Jahr Gesandter des ukrainischen Staates unter Hetman Pawlo Skoropadskyj gewesen war, und schließlich vertrieb er ihn auch aus Berlin, wo Lypynskyj – überzeugt, dass die »konstitutionelle Monarchie« die einzig mögliche Staatsform für die Ukraine sei – versucht hatte, Ruhe in die höfischen Intrigen zu bringen und den Exilkandidaten für das Amt des ukrainischen Monarchen an seine Hetman-Ehre zu erinnern. Genf, Wien, Berlin. Immer wenn ein Arzt seine Lunge abhörte, schüttelte er den Kopf und riet ihm, diesen Ort zu verlassen. Der Wind hatte Lypynskyj aus dem Leben vertrieben und ihn zur ewigen Gefangenschaft in diesen wunderschönen und zugleich verhassten österreichischen Bergen verdammt. Steiermark. Drei Kilometer bis zum nächsten Bahnhof. Eine halbe Stunde bis Graz. Fünf Zugstunden bis Wien. Postamt Tobelbad. Badegg.

Das Haus in Badegg – das »Sterbehaus«, wie er es selbst nannte – war nicht teuer gewesen, es hatte bloß fünftausendfünfhundert Schilling, also achthundert Dollar, gekostet, aber für Lypynskyj, der schon lange mit zwanzig Dollar im Monat auskommen musste, war auch das eine astronomische Summe. Unterstützung kam von einem Mäzen aus Kanada und von Lypynskyjs Bruder Stanisław. Im Gegenzug würde Lypynskyj keinerlei Ansprüche auf das elterliche Anwesen in der Ukraine, im Dorf Saturzi unweit von Luzk, erheben. Dort war nun Stanisław Hausherr, ein angesehener Fachmann in der Selektionszüchtung (vor allem für neue Weizen- und Kartoffelsorten). Lypynskyjs älterer Bruder Włodzimierz war Arzt und lebte in Luzk, er besaß das erste Automobil der Stadt. Doch war die Familie Lypynskyj – oder richtiger Lipiński – nicht sehr wohlhabend. Sie gehörte dem mittleren polnischen Adel an und hielt sich nur dank guter Ausbildung und geschickten Wirtschaftens über Wasser.

Auch Lypynskyjs Bruder Stanisław reiste an, als er von dem Herzanfall hörte. Er hatte etwas an Form verloren, ein Bäuchlein und weichere Gesichtszüge bekommen – eine normale Veränderung bei glücklich verheirateten Männern, zu denen er zweifellos zählte. Als er Lypynskyj auf Händen hinaustrug, sagte er zärtlich:

»Wacław, ich habe dir gesagt, dass es sich nicht lohnt, ein Haus in dieser Einöde zu kaufen. Wieso bist du nicht zu uns nach Saturzi gekommen? Wir haben genug Platz, wunderbare Natur, kaum Wind, Maria und die Kinder hätten sich gefreut, du weißt, wie sehr sie dich lieben …«

»Nenn mich nicht Wacław«, gab Lypynskyj röchelnd zurück. Sein Bruder und seine Tochter sprachen polnisch, Lypynskyj ukrainisch.

Der Satz »Nenn mich nicht Wacław« war mit nur neunzehn Jahren zu seiner Waffe geworden. Damals war er aus dem Kiewer Gymnasium in den Winterferien nach Saturzi gekommen. Die ganze Familie hatte sich um den Mittagstisch versammelt. Lypynskyj lauschte still den örtlichen Neuigkeiten, die Gymnasiumsuniform stand ihm ausgezeichnet, betonte seine wohlproportionierte, jedoch etwas gebeugte und allzu dürre Figur; sein dichtes pechschwarzes Haar war auf Gymnasiasten-Art nach hinten gekämmt.

»Wacław, wie gefällt es dir in der Schule?«, fragte ihn die Mutter, Klara Lipińska, schließlich. Alle schauten ihn an, und je länger das Schweigen dauerte, desto größer wurde das Interesse der Anwesenden. Wanda, Lypynskyjs Schwester, Stanisław und Włodzimierz beobachteten den Bruder aufmerksam. Nur der Vater Kazimierz Lipiński verzehrte mit der ihm eigenen Unbekümmertheit weiter sein Festtagskotelett. Lypynskyj räusperte sich unsicher.

»Wacław?« – Klara wartete noch immer auf eine Antwort. Da schoss Lypynskyj zum ersten Mal mit seiner neuen Waffe, die er später noch oft zum Selbstschutz aus dem Halfter holen sollte.

»Nennt mich nicht Wacław. Ich heiße Wjatscheslaw.«

Der Vater erstickte fast an seinem Kotelett. Der Mutter entfuhr ein Schrei. Die Brüder und die Schwester warfen einander stumme Blicke zu. Lypynskyj...

Erscheint lt. Verlag 14.2.2019
Übersetzer Maria Weissenböck
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bachmann-Preis 2018 • Befreiung Ukraine • Heimat • Klagenfurt 2018 • Liebe • Polen • Ukraine • Ukraine Buch • Ukraine-Konflikt • Ukraine-Krieg • Ukraine Roman • Unabhängigkeit • Vergessenheit • Volksheld Ukraine • Wjatscheslaw Lypynskyj • Zwei Frösche im Meer
ISBN-10 3-462-31958-2 / 3462319582
ISBN-13 978-3-462-31958-3 / 9783462319583
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