Tage des Lichts (eBook)
576 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-1741-7 (ISBN)
Die Hoffnung dieser Tage.
England, 1939. Ruth hat es geschafft - sie hat die nötigen Papiere für ihre Familie besorgt, die endlich nach England ausreisen darf. Zusammen wollten sie alles in Bewegung setzen, um ihre Verwandten noch nachzuholen. Aber dann erklärt England Deutschland den Krieg. Ruth wähnte sich bislang in Sicherheit, aber was geschieht, wenn die Deutschen das Land nun angreifen? Sie setzt alles daran, dass sie zusammen nach Amerika fliehen können. Doch der Krieg droht ihre Pläne zunichtezumachen ...
Bestsellerautorin Ulrike Renk erzählt eine dramatische Familiengeschichte, die auf wahren Begebenheiten beruht.
Ulrike Renk, Jahrgang 1967, studierte Literatur und Medienwissenschaften und lebt mit ihrer Familie in Krefeld. Familiengeschichten haben sie schon immer fasziniert, und so verwebt sie in ihren erfolgreichen Romanen Realität mit Fiktion. Im Aufbau Taschenbuch liegen ihre Australien-Saga, die Ostpreußen-Saga, die ersten beiden Bände der Seidenstadt-Saga, 'Jahre aus Seide' und 'Zeit aus Glas', sowie zahlreiche historische Romane vor. Mehr Informationen zur Autorin unter www.ulrikerenk.de
Kapitel 1
England, August 1939
Um achtzehn Uhr dreißig fuhr der nächste Zug von London nach Frinton-on-Sea, das hatte Ruth sich gemerkt. Sie verließ das Bloomsbury House und eilte zum Bahnhof. Um sie herum herrschte emsiges Treiben, die meisten Menschen hatten Feierabend. Manche schlenderten durch die Straßen, genossen den herrlichen Sommerabend. Andere hatten es eilig, mit schnellen Schritten und manchmal ohne Rücksicht zu nehmen, liefen sie durch die Menge. Auch Ruth beeilte sich, obwohl sie eine bleierne Müdigkeit verspürte. Nach und nach fiel die Aufregung von ihr ab, und eine Leere machte sich in ihr breit. Der Glockenschlag von Big Ben riss sie aus ihren Gedanken. Sie lauschte – zwei Tonfolgen, zehn Takte –, das bedeutete, dass es halb sechs war. Gut vierzig Minuten brauchte sie vom Bloomsbury House bis zum Bahnhof. Um diese Zeit mit all den Menschen auf der Straße würde es vielleicht sogar etwas länger dauern. Zum Glück hatte sie heute Morgen schon eine Rückfahrkarte gelöst. Sie musste den Zug unbedingt erreichen, die Rückfahrt würde weitere drei Stunden dauern, und Mrs Sanderson war bestimmt böse, dass sie so lange fort war, und würde mit Tadel nicht sparen. Doch das nahm Ruth gerne in Kauf. Wichtig war nur, dass die Mitarbeiter des Bloomsbury House ihr Versprechen hielten und die Formulare nach Deutschland kabelten. Heute noch. Es hing so viel davon ab – das Leben ihres Vaters stand auf dem Spiel. Nur die Einreiseerlaubnis nach England konnte ihn jetzt noch retten.
Ruth beschleunigte ihren Schritt, wich den anderen Leuten aus. Ihre Kehle war trocken, ihr Magen knurrte, und dennoch verspürte sie keinen Appetit. Den ganzen Tag hatte sie im Bloomsbury House verbracht, hatte gehofft, gebetet, gefleht und schließlich geschrien – sie hatte nur diesen Tag, diese vierundzwanzig Stunden, um zu erreichen, dass die Papiere nach Deutschland gekabelt wurden.
Wochenlang hatte sie alle wichtigen Dokumente zusammengetragen. Edith Nebel, eine deutsche Jüdin, die schon lange in England lebte und sich nun um jüdische Flüchtlinge kümmerte, hatte ihr dabei geholfen. Außerdem hatte Edith sich bereit erklärt, Ruths Cousin Hans zu adoptieren. Die Papiere waren schon beim Roten Kreuz, doch Bürokratie dauerte – immer und überall. Sie hatte sogar das Gefühl, dass es immer schlimmer würde, England schien sich in einer Starre zu befinden und der Krieg mit Deutschland unvermeidbar zu sein. Gerade deshalb, dachte Ruth seufzend, ist es doch so wichtig, jetzt noch Anträge zu genehmigen und auszuführen. Bald schon könnte es zu spät sein. Aber sie hatte getan, was sie konnte, jetzt blieb ihr nur noch, zu hoffen.
Sehnsüchtig schaute Ruth zu den Straßencafés, an denen die Tische gut besetzt waren und fröhliche Menschen kalte Getränke vor sich stehen hatten. Sosehr sie eine Limonade herbeisehnte, die Zeit reichte einfach nicht.
Je näher sie dem Bahnhof kam, umso dichter wurde das Gewühl auf den Straßen. Viele Leute arbeiteten in London, wohnten aber außerhalb. Mittlerweile war es so voll, dass die Menge kaum mehr vorankam. Schnell drückte sie sich an einem Paar vorbei, das laut debattierend direkt vor ihr stehen geblieben war, stolperte und fing sich gerade noch rechtzeitig. Wieder hörte sie den Glockenschlag der großen Turmuhr, es war schon Viertel nach sechs.
So voll hatte sie den Bahnhof noch nie erlebt, aber es war auch erst das dritte Mal, dass sie in London war. Energisch schob sie sich durch die Massen, erreichte den Bahnsteig und seufzte erleichtert auf.
»Limonade!«, rief eine Frau, die einen Bauchladen trug und ein kleines Wägelchen hinter sich herzog. »Frisch gepresste Limonade.«
»Ich nehme eine«, sagte Ruth eilig. Sie zog ihre Börse aus der Tasche und nahm einige Münzen hervor. Die Frau gab ihr eine klebrige Flasche, die sich warm anfühlte. Frisch war das sicherlich nicht, aber das war Ruth nun egal.
»Na«, sagte die Frau, »geht es fürs Wochenende aufs Land? Haste ’nen Liebsten dort?« Sie zwinkerte Ruth zu.
Ruth schoss das Blut in die Wangen. »Nein«, sagte sie, doch die Frau hatte sich schon abgewendet.
Dampfend und pfeifend fuhr der Zug ein und blieb ächzend stehen. Kaum einer stieg aus, doch viele wollten einsteigen. Zu viele, dachte Ruth erschrocken und schloss schnell den Korken der Flasche und steckte sie in ihre Tasche. Gleich würde das Gedränge losgehen und der Kampf um die Plätze. Doch entgegen ihren Befürchtungen blieb es geordnet und ruhig. Es bildete sich eine Schlange, nach und nach stiegen die Passagiere ein. Ruth hatte das schon zuvor erlebt, aber noch nie bei einem solchen Andrang. Als der Zug anfuhr, hatte Ruth sogar einen Sitzplatz gefunden. Im Gang stand eine ältere Dame mit einem staubigen Hut und einer Reisetasche aus Teppichresten.
»Ich fahre nur bis zur nächsten Station«, sprach die junge Frau, die neben Ruth saß, sie an. »Sie können gerne meinen Platz haben.«
»Danke, Darling. Das ist sehr aufmerksam.«
Verlegen sah Ruth sich um. Es gab noch mehr ältere Leute. Sollte sie ebenfalls aufstehen und ihren Platz anbieten? Aber ihre Fahrt dauerte länger, fast drei Stunden würde sie unterwegs sein. Was, wenn es so voll blieb? Die ganze Zeit zu stehen, das konnte sie nicht, das würde sie nicht mehr schaffen. Die Anspannung der letzten Wochen, all die schlaflosen Nächte, die sie in Gedanken an ihre Lieben in Krefeld verbracht hat, hatten an ihren Kräften gezehrt. Dennoch plagte sie das schlechte Gewissen. Ein Mann schob sich durch den Gang. Er umklammerte einen Koffer, schnaufte.
»Wollen Sie sich setzen?«, platzte es aus Ruth heraus.
Das Gesicht des Mannes war sonnengegerbt und von Falten durchzogen.
»Wo musst du denn hin?«, fragte er sie.
»Nach Frinton-on-Sea.«
»Das ist aber ein ganzes Stückchen.« Nachdenklich schaute er sie an.
»Und wohin wollen Sie?«
»Ich will nach Maldon und steige in Chelmsford um.«
»Dann können Sie bis dorthin diesen Platz haben.« Ruth stand auf. Sie lebte jetzt in England, auch wenn sie vermutlich nie wirklich Engländerin werden würde, so wollte sie sich doch an die Sitten und Gebräuche halten.
»Wo kommst du her?«, fragte der Mann sie und schob seinen Koffer unter die Bank. »Du bist keine Engländerin.« Es war eine Feststellung, keine Frage.
»Ich bin Deutsche«, sagte Ruth leise. Sie schämte sich, Deutsche zu sein, das wurde ihr immer wieder schmerzlich bewusst. Der Mann und auch die Umstehenden sahen sie prüfend an.
»Bist du auf der Rückreise? Noch gibt es ja die Fähre in Harwich.«
»Noch?«, fragte Ruth erschrocken.
»Es wird Krieg geben, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche«, sagte ein Mann zwei Reihen weiter. »Und sobald Krieg ist, wird es keine zivile Seefahrt mehr geben. Die Deutschen haben aufgerüstet – man munkelt von Zerstörern und U-Booten, die sich schon jetzt auf den Weg in den Ärmelkanal gemacht haben.«
Ruth schluckte. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte und senkte den Kopf.
»Bist du Jüdin?«, fragte die alte Frau mit der Teppichtasche. Sie hatte einen schweren Akzent – es klang nach Osteuropa.
Automatisch hielt Ruth die Luft an. Würde sie nun angefeindet werden? Immer noch war sie sich nicht ganz im Klaren darüber, was die Briten den Juden gegenüber empfanden. Es gab einen Unterschied zwischen den Religionen, das hatte sie schon gemerkt. Allerdings wurden Juden nicht öffentlich abgelehnt wie in Deutschland.
»Keine Angst«, sagte die Frau. »Bin auch Jüdin. Gut, dass du hier bist. Bleibst doch hier, oder?«
»Ja, ich habe hier eine Stellung.«
»Gut so, Sweetheart«, meinte der alte Mann, »denn Krieg wird es geben.«
»Nur noch eine Frage der Zeit«, warf jemand ein. »Schließlich haben sie die Wehrpflicht eingeführt. Mein Sohn muss für ein halbes Jahr eine militärische Ausbildung machen und wird dann Reservist.«
»Hoffentlich bleibt er das auch«, seufzte eine Frau. »Mein Sohn wurde auch eingezogen – wie so viele andere Zwanzigjährige. Dabei haben wir doch eine Berufsarmee.«
»Na, wir haben ja im letzten Krieg gesehen, wie weit wir damit kommen.«
»Außerdem hat sich die Welt verändert – auch die Waffen und die Rüstung. Ich bin mir sicher, dass es einen Luftkrieg geben wird.«
»Einen Luftkrieg? Schlimmer noch als im Großen Krieg?«
»Wollen wir mal hoffen, dass die Regierung uns in letzter Minute noch davor bewahren kann. Chamberlain wird alles dafür tun, dass wir nicht in einen Krieg gezwungen werden.«
»Chamberlain und seine Appeasement-Politik – das kann doch gar nicht gut gehen. Wir haben ein Abkommen mit Polen«, sagte der Mann, dessen Sohn eingezogen worden war, »und daran werden wir uns halten müssen. Und davon, dass Hitler sich Polen einverleiben will, gehe ich aus.«
»Doch nur die Gebiete des polnischen Korridors und Danzig, oder?«
»Das sagt er jetzt. Aber hat er nicht auch Anfang des Jahres gesagt, dass er nur das Sudetenland haben will?«
»Russland wird ihm nie Polen überlassen.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher. Stalin ist genauso größenwahnsinnig wie Hitler!«
Inzwischen hatte der Zug im Bahnhof von Brentwood gehalten. Schon in Stratford und Ramford waren die meisten Pendler ausgestiegen, und nur wenige Passagiere kamen neu hinzu. Die meisten schienen Ausflügler zu sein, die offensichtlich auf dem Weg zur Küste waren und sich auf ein warmes...
Erscheint lt. Verlag | 21.1.2020 |
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Reihe/Serie | Die große Seidenstadt-Saga | Die große Seidenstadt-Saga |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | 2. Weltkrieg • Emigranten • Flucht • Große Liebe • Krefeld • Seidenstadt Saga • USA • Vertreibung |
ISBN-10 | 3-8412-1741-9 / 3841217419 |
ISBN-13 | 978-3-8412-1741-7 / 9783841217417 |
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