So viel Sehnsucht auf so kleiner Fläche (eBook)

Edvard Munch und seine Bilder
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
288 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-24172-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

So viel Sehnsucht auf so kleiner Fläche -  Karl Ove Knausgård
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Wie wurde Edvard Munch zu einem der berühmtesten Künstler der Welt?
Wie wurde Edvard Munch zu einem der berühmtesten Künstler der Welt? In einer höchst persönlichen Weise nähert sich Karl Ove Knausgård bekannten wie unbekannten Bildern Munchs - in dem Versuch zu ergründen, was in ihnen auf dem Spiel steht und auf welche Art sie in unserer Kultur weiterleben. Er fährt zu Orten, an denen Munch lebte, spricht mit Kunstkennern und Künstlern - aber vor allem schreibt er über seine eigene Beziehung zu Edvard Munch, ausgehend von der naiven Frage: Was ist Kunst und wozu brauchen wir sie eigentlich?

'Edvard Munch - gesehen von Karl Ove Knausgård'. Große Ausstellung vom 12. Oktober 2019 bis 1. März 2020 in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf

Karl Ove Knausgård wurde 1968 geboren und gilt als wichtigster norwegischer Autor der Gegenwart. Die Romane seines sechsbändigen, autobiographischen Projektes wurden weltweit zur Sensation. Sie sind in 35 Sprachen übersetzt und vielfach preisgekrönt. 2015 erhielt Karl Ove Knausgård den WELT-Literaturpreis, 2017 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur, 2022 nahm er in Kopenhagen den Hans-Christan-Andersen-Literaturpreis entgegen. Er lebt in London.

AM 11. DEZEMBER 2013 saß ich, wo ich auch jetzt sitze, an meinem Schreibtisch, und betrachtete den schneebedeckten Rasen vor dem Fenster und den Himmel über den Bäumen oben am Friedhof, während das Licht sachte verging. Ich ­erinnere mich so genau an das Datum, weil ich am nächsten Tag im Kulturhaus von Elverum eine Rede halten sollte, da sich zum einhundertfünfzigsten Mal das Datum jährte, an dem Edvard Munch in der Nachbargemeinde Løten geboren wurde. Außerdem schrieb ich damals ein Tagebuch.

Bis zu meiner Abreise blieben mir nur noch ein paar Stunden, und ich hatte noch nichts zu Papier gebracht, was ich für meinen Vortrag gebrauchen konnte. Die letzten Wochen waren chaotisch verlaufen, ich war mit den Kindern allein gewesen, hatte ständig hierhin und dorthin fahren müssen, das Auto musste in die Werkstatt, eines der Kinder hatte Probleme in der Schule, das setzte sich zu Hause fort, und der liebe, aber dumme und von mir einfach nicht zu bändigende Hund hatte eine Wunde auf der Brust, um die ich mich nicht gekümmert hatte. Darüber hinaus war zuerst die eine, danach die andere Großmutter der Kinder gekommen, weil ich nach Norwegen musste, und daraufhin entstanden neue Spannungen im Haus. Ich war so überarbeitet, dass alles zu einer reinen Willensfrage wurde, aber wenn der Tag – dessen Höhepunkt stets der Heimweg von der Schule im Dunkeln war, mit den Kindern im Auto, zwischen den Feldern hindurch, auf denen die Dunkelheit wie ein Meer lag und die Lichter der Traktoren, die manchmal weit draußen fuhren, mich mit Frieden erfüllten – vorbei war, blieb ich stets in meinem Büro sitzen, denn ich brauchte Zeit für mich selbst, das war mir wichtiger als Schlaf. Dann saß ich auf dem Stuhl unter der Lampe und trank Kaffee, rauchte und sah mir die Bilder in meinen vier Büchern mit Munchs gesammelten Gemälden an. Ich betrachtete Bild für Bild, und mit der Zeit waren mir die meisten vertraut, ohne dass mir deshalb irgendetwas eingefallen wäre, was ich über sie hätte sagen können.

Die Bände enthalten Aufnahmen von über eintausendsiebenhundert Ölgemälden, die über einen Zeitraum von fünfundsechzig Jahren, einem Menschenalter und zwei Weltkriegen hinweg entstanden sind. Sie beginnen in einer Welt, in der Pferd und Wagen ein normales Beförderungsmittel sind, und enden in einer Welt voller Flugzeuge, Autos, Radios, Filme, Fotoapparate, U-Boote, Flugzeugträger und Raketen. Sie beginnen in einer Welt, in der die Malerei Szenen wiedergibt, die die Wirklichkeit repräsentieren, Räume mit Menschen, die stricken oder im Licht von Petroleumlampen lesen, und enden in einer Welt, in der sich die Malerei von ihren repräsentativen Aufgaben befreit hat und abstrakt geworden ist. Der Dadaismus, der Futurismus, der Surrealismus und der Kubismus sind für kurze Zeit die Zukunft gewesen, jedoch schon wieder Vergangenheit geworden.

Im Verhältnis zur historischen und kulturellen Entwicklung bleiben Munchs Bilder vergleichsweise konsistent, man kann sehen oder zumindest verstehen, dass sie alle von demselben Mann gemalt wurden, aber als eine Einheit, als geschlossenes Bilduniversum betrachtet, wozu einen Gerd Woll in ­diesen vier Bänden einlädt, sind die Bilder verblüffend unter­schiedlich, und deshalb tat ich mich so schwer, diese Rede zu schreiben – was konnte ich über Munchs Kunst sagen, das für sämtliche Bilder galt? Was war, wenn es ihn überhaupt nicht gab, den alles vereinenden Faktor?

Ich dachte an ein Bild Munchs, das ich einmal in Bergen gesehen hatte, es handelte sich um eine verschneite Landschaft, auf die ich nicht vorbereitet gewesen war, und mir waren Tränen in die Augen getreten. Ich war neunzehn, und die Einsamkeit in diesem Bild war unendlich gewesen.

Jetzt schlug ich es auf und studierte es von Neuem. Es stammte aus Thüringen, eines von fünf Motiven, die Munch dort 1906 gemalt hatte.

Diesmal hatte es nicht die gleiche Wirkung, denn es ist etwas völlig anderes, ein abfotografiertes Bild in einem Buch zu studieren, als das Original zu sehen, erst recht, wenn es um Munchs Gemälde geht. Abfotografiert werden die Farben dicht und die Bilder glänzend, obwohl die Farben in Wahrheit dünn sind, so dass sie kaum die Leinwand bedecken, und oftmals trocken. Dieser unfertige Zug trägt dazu bei, dem einzelnen Bild Charakter zu geben, es ist nicht nur ein Bild, es ist dieses Bild, ein ganz bestimmtes Objekt in der Welt. Außerdem verweist das Unfertige auf den Augenblick, in dem es gemalt wurde, und auf den Menschen, der es gemalt hat.

An all das hatte ich jedoch nicht gedacht, als ich damals zum ersten Mal davorstand. Es öffnete große Räume in mir, wie nur die Kunst es kann, wenn es sich anfühlt, als wären die Gefühle größer als ich, dass sie der Welt offen gegenüberstehen, fast so, dass sie die Welt sind.

Das Grundgefühl war Einsamkeit, in der Welt allein zu sein. Nicht ohne Freunde oder Familie, nicht ohne andere Menschen in der Nähe, nicht diese konkrete Einsamkeit, sondern die rasende und existentielle: Ich bin hier, auf dieser Erde, und ich bin hier allein.

Wo befand sich die Einsamkeit in dem Bild? Wo war sie verortet?

Die Landschaft war verlassen, aber das gilt für viele gemalte Landschaften, ohne dass deshalb das Gefühl von Einsamkeit aufkommt.

Dass diese Landschaft Munch fünf Bilder wert war, hing meines Erachtens mit dem Schnee zusammen, damit, dass die Schneeschicht so dünn war, wodurch die Farben überall durchschienen. Ein Acker führt in das Bild hinein, das Weiß ist von rötlichen und braunen Streifen durchzogen. Zur Linken ist ein grünes Feld, zur Rechten ein gelbes. Hinter dem Acker fällt ein Hügel ab, auch er rötlich, und dahinter steht Wald, der als ein zusammenhängendes dunkelgrünes Feld gemalt ist. Der Himmel darüber ist schmutzig weiß, fast gelb. Der Wald und ein einzelner Baum, der am Fuß des Hügels wächst, unterscheiden dieses Bild von den vier anderen, die nur Äcker darstellen.

Damit ist im Grunde nichts gesagt, denn entscheidend ist, dass dieses Bild lebt. Es hat einen Klang, es hat Schwingungen, es ist fast wie Musik. Es ist dieser Klang, mit dem sich die Gefühle verbinden und der sie erhebt, wie Musik sie erheben kann.

Das Gemälde verbindet sich mit den Gefühlen, es entsteht ein Einklang. Aber nur, wenn man offen dafür ist, wenn nicht, ist dieses Bild nur ein paar Striche und Farben. Mit der Landschaft ist es genauso wie damals, als Munch vor einhundert­elf Jahren vor ihr stand. Er war offen für sie, und sie begann in ihm zu leben, die Schwingungen in der Landschaft wurden zu Schwingungen in den Gefühlen. Wäre er dafür nicht offen gewesen, wäre sie nur ein paar Striche und Farben, ein Acker und ein Hügel gewesen.

Diese Offenheit für die Welt war es, über die ich schließlich schrieb. Denn die Welt ist ja nichts in sich selbst, sie ist bereit, beobachtet zu werden. Die Welt entsteht erst in unserem Blick, in einem unablässigen Prozess. Sie ist nicht, sie wird. Es ist unmöglich, in dieser Entstehung zu leben, unmöglich, sie in sich aufzunehmen, weshalb wir zahlreiche Strategien entwickelt haben, sie zu handhaben. Wir nennen dies Wissen. Wir wissen, dass der Himmel blau und aus Luft ist, wir wissen, dass die Bäume grün sind und aus Stamm, Ästen und Blättern ­bestehen. Wir wissen, dass trockener Sand hell und nasser dunkel ist. Wir wissen, dass Zucker körnig ist und süß schmeckt, wir wissen, dass die Badewanne glatt und hart ist und Wasser nicht in ihr verschwindet wie in weicheren Oberflächen. Wir wissen, dass alles weit Entfernte klein ist, das Nahe dagegen groß. Wir wissen, dass der Nachbar redselig ist, einer der Kollegen oft zu viel Rasierwasser benutzt und in etwa, wie schwer eine Einkaufstüte mit vier Litern Milch ist. Wir wissen, wie unser Vater war, und unsere Mutter, und wir wissen, wie unsere Freunde sind. Wir wissen, wie es ist, im Süden aus dem Flugzeug zu steigen, wenn es aus dem Norden kommt: Die Luft steht wie eine Wand aus Wärme. Wir wissen, wie eine Tulpe aussieht, und ein Glas Wasser, wenn es nach dem Abendessen auf dem Tisch stehenblieb und nun voller kleiner Blasen ist, wir wissen sogar, wie dieses Wasser schmecken wird, abgestanden und schal. All dieses Wissen, das wir über die Welt besitzen, ist wie ein Schutzschild, wie etwas, das wir ihr entgegenhalten, um nicht von immer neuen Eindrücken überwältigt zu werden. Es ist eine praktische Vorkehrung und nichts, woran wir denken, es gilt für alle, wahrscheinlich auch für Tiere. Wir können nicht nur fühlen, wir müssen auch leben. Ab und zu begegnen wir jemandem, der durch all das hindurchdringt, Menschen, die einen Raum verändern, sobald sie ihn betreten, oder ihn vereinnahmen. Sie haben das, was wir Ausstrahlung nennen, es ist ein eigentümliches und schwer definierbares Phänomen, es hat nichts mit dem Aussehen zu tun, sondern damit, wer sie sind. Es hat nichts damit zu tun, was sie können, ob sie geschickt oder gebildet sind, es ist etwas Primitiveres, es ist ihre Art, sich zu geben, die uns anzieht.

Nun ist es so, dass alle Menschen eine bestimmte Ausstrahlung haben, etwas, das nur ihnen allein eigen ist. Sie fällt häufig nicht weiter auf, und im persönlichen Kontakt kann es schwer sein, sie wahrzunehmen, die Ausstrahlung dringt nicht durch den Schutzschild. Man denke nur an die Hunderte von Gesichtern und Körpern, die wir sehen, wenn wir durch die Stadt gehen, wie sie lediglich vorüberziehen, ohne Spuren in uns zu hinterlassen. So verhält es sich mit allem, jedem Gegenstand oder jeder Pflanze, jedem Baum oder jeder Landschaft; jedes Tier und jeder Vogel hat seine eigene Ausstrahlung, alles ist einzigartig, in der Zeit und im Raum. Und genau wie bei einem...

Erscheint lt. Verlag 23.9.2019
Übersetzer Paul Berf
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Så mye lengsel på så liten flate. En bok om Edvard Munchs Bilder
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Autobiographie • Bildender Künstler • Der Schrei • eBooks • Edvard Munch • Gastland Norwegen • Kunst • Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen • Munch-Museum • Oslo • Unbekannte Bilder • Weihnachtsgeschenk
ISBN-10 3-641-24172-3 / 3641241723
ISBN-13 978-3-641-24172-8 / 9783641241728
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