Weinen (eBook)

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2019
208 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-26528-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Weinen - Heather Christle
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Was verbindet die wichtigsten Momente unseres Lebens? - So originell und berührend hat noch niemand über das Weinen geschrieben.
Kaum eine emotionale Regung ist so eng mit den intensivsten Momenten unseres Lebens verknüpft wie das Weinen. Das Weinen lässt uns die Kontrolle verlieren, es rührt und verstört uns, es erleichtert, macht angreifbar und kann der schönste Anblick der Welt sein. Heather Christle begibt sich in ihrem außergewöhnlichen Essay auf seine Spur. Voll poetischer Kraft, schonungslos und verletzlich schreibt sie über den Tod ihres besten Freundes und die Geburt ihres Kindes, über Schmerz und Nähe, über Alltägliches und Existenzielles, eigene und fremde Tränen. In kurzen, klangvollen Texten entsteht so eine Kulturgeschichte des Weinens - klug, hinreißend und voller überraschender Einsichten.

Heather Christle hat bisher vier Gedichtsammlungen publiziert. Ihr letztes Buch, 'The Trees The Trees', wurde 2012 mit dem Believer Magazine Poetry Award ausgezeichnet. Ihre Arbeit war Teil der Best American Poetry Series. Ihre Lyrik erschien und erscheint im 'Granta', 'London Review of Books' und 'The New Yorker'. Sie lebt in Yellow Springs, Ohio.

 

 

Gestern Abend hatten wir einen »schwarzen Mond«, der zweite Neumond innerhalb eines Monats. Das fühlt sich an, als wolle der Mond singen, ein lunares Argument gegen die mörderischen Kräfte dieses Landes, aber es ist gefährlich, immer ein Ding für ein anderes zu halten, jedes Ereignis als Metapher für ein anderes zu betrachten, jedes Leben, jeden Tod nur als Wiederholung. »Der Mond ist keine Tür. Er ist ein Gesicht, sein eigenes.«111 Es regnet, es weint nicht. Es gibt schon genug Kummer, auch ohne dass man versucht, dem Mond Tränen abzupressen.

***

 

Brian Boyd behauptet, dass Metapher und Geschichte teilweise der menschlichen Neigung entspringen, unbeseelten Objekten Handlungsfähigkeit zuzuschreiben, und dass dies im Rahmen der Evolution durchaus Sinn ergibt, da es »sicherer ist, einen Busch für einen Bären zu halten als umgekehrt«.112

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Noch ein paar Mondarten:

 

Blut-

Super-

Ernte-

Blauer

Erdbeer-

Wolfs-

Schnee-

Wurm-

Rosen-

Bock-

Roter

Hunger-

Kalter

Milch-

Blumen-

***

 

Egal in welche Reihenfolge man die Mondarten bringt, stets erscheint – unausgereift – eine Geschichte.

***

 

Im Jahr 1944 führten zwei Psychologen folgendes Experiment durch: Sie zeigten einer Gruppe von Studentinnen einen kurzen Animationsfilm mit geometrischen Figuren und baten sie dann »aufzuschreiben, was in dem Film passiert sei«. Die meisten Schilderungen waren narrativ und patriarchalisch, obwohl die geometrischen Figuren gesichtslos waren: »Ein Mann wollte sich mit einem Mädchen treffen, aber das Mädchen erscheint mit einem anderen Mann.« Eine einzige Antwort unterschied sich von den anderen dadurch, dass es sich um eine sachliche, fast ausschließlich geometrische Beschreibung handelte: »Man sieht, wie ein großes geschlossenes Dreieck in ein offenes Rechteck eindringt … Dann erscheinen ein weiteres, kleineres Dreieck und ein Kreis. Der Kreis dringt in das Rechteck ein, während sich das größere Dreieck in diesem Rechteck befindet.« Aber selbst diese Beschreibung ordnet den Formen letztlich Bewusstsein und Handlungsfähigkeit zu: »Das größere Dreieck, nun allein, bewegt sich vor der Öffnung des Rechtecks und passiert schließlich die Öffnung nach innen. Es bewegt sich rasch im Innern hin und her, und da es keine Öffnung findet, bricht es durch die Seite aus und verschwindet.«113

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Die am wenigsten narrative Version des Films bestünde aus Einsen und Nullen. Aber selbst der binäre Code kann zu Gefühlen führen: an / aus, anwesend / abwesend, ja / nein.

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Ich habe mich extrem bemüht, nicht aus Erschöpfung und Kummer zu weinen, und doch weine ich so viel, dass ich mich, wie mir eben erst klar wurde, schon gar nicht mehr entsinnen kann, wann ich zuletzt aus einem glücklicheren, weniger klassifizierten Anlass geweint habe. Als meine Schwester mich besuchen kommt, rührt sie der Anblick, wie ihr neugeborenes Baby meine Tochter anlächelt, zu Freudentränen. Verblüfft starre ich sie an und erinnere mich vage an das betreffende Gefühl. »Woran erinnere ich mich / das so geformt war / wie dieses Ding geformt ist?«114 Was, wenn ich unter den Trauerliedern auch einen lieblichen Refrain vernehmen könnte?

***

 

Vielleicht wäre es am wahrhaftigsten, wenn man zuließe, dass sich zwei Geschichten einen kurzen Augenblick lang überlappen, bei ihrer Reise auf getrennten Umlaufbahnen für einen Moment zur Deckung kommen, wissen, dass der Moment, wo sie ihre Gleichheit erkennen, nicht von Dauer sein darf. Jetzt ist der Mond ein trauriges Gesicht, dann »ein Fels mit blauen Schrunden«.115 Die Linien liegen weder parallel noch senkrecht zueinander, sondern bilden zwei Bögen, die sich einen Moment lang überschneiden, bevor sie wieder ihrer Wege ziehen. Ein Zusammentreffen muss nicht das Ende bedeuten.

***

 

Wenn ich gerade einmal nicht verzweifelt bin, gelingt es mir kaum, den Zustand der Verzweiflung zu beschreiben. Er ist wie eine Falltür in meinem Leben. Eine Brücke ins Nichts. Nur eine Metapher, eine Linie. Aber eine, über die ich meine Liebe schicke.

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»Nur eine Metapher«, das sagt sich so leicht, aber Metaphern sind wichtig, sie formen unser Denken. Gut ist oben, schlecht ist unten, wie George Lakoff und Mark Johnson das vor langer Zeit in ihrer Arbeit über konzeptuelle Metaphern aufgezeigt haben.116 Metaphern sind in der Wissenschaft allgegenwärtig, führen zu neuen Ideen oder zementieren alte Denkmodelle. Selbst der Akt der Zeugung beziehungsweise Empfängnis lässt sich anders denken, wenn man die Handlungskompetenz in der Metapher verschiebt, wie die Historikerin Patricia Fara kürzlich in einem Diskussionsforum zum Thema Frauen in der Wissenschaft veranschaulicht hat: Bombardieren Spermien eine Eizelle so lange, bis eines aggressiv genug ist, die Hülle zu durchdringen und die Eizelle zu befruchten? Oder wählt vielmehr die Eizelle ein Spermium aus, das sie dann in sich hineinzieht?117

***

 

Ich lese das 1983 erschienene Buch von William H. Frey, Crying: The Mystery of Tears, eine wissenschaftliche Untersuchung über das Weinen und seine Ursachen. Frey führte viele Jahre lang Versuche zur chemischen Zusammensetzung von Tränen durch und erforschte außerdem in den USA das Verhalten weinender Erwachsener. Er vertritt die These, dass es sich beim Weinen um einen Ausscheidungsprozess handelt, dass sich der Körper auf diese Weise von durch Stress entstandenen chemischen Substanzen befreit und man sich darum besser fühlt, wenn man sich richtig ausgeweint hat.118 (Was bekanntlich nicht immer zutrifft.) Das Medienecho auf Freys erste Veröffentlichung war für die damalige Zeit, in der es ja noch kein Internet gab, ganz enorm. Walter Cronkite interviewte ihn. Charles Schulz erwähnte Freys Arbeit in einem Peanuts-Cartoon.119 Insbesondere aus Neugier auf diesen Cartoon schicke ich Frey eine E-Mail mit der Frage, ob er mir dazu Informationen geben mag, und er ruft kurz darauf zurück. Er ist sehr nett. Er ist sehr freundlich. Und kann es kaum erwarten, mit mir über die Bedeutung seiner Arbeit zu sprechen.

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In seinem Buch spekuliert Frey, »höhere [Prolaktin-]Spiegel könnten mit dafür verantwortlich sein, dass Frauen öfter und schneller weinen als Männer«.120 Es fällt auf, dass in seinem Konzeptrahmen Männer die Bezugsgröße sind und Frauen mit ihnen verglichen werden. Und er behandelt (wie auch alle anderen mir bekannten Tränenforscher) das Geschlecht als binär und absolut, betrachtet das biologische und das soziale Geschlecht als austauschbar. Meine weitere Recherche ergibt, dass sich die geschlechtsspezifischen Prolaktinspiegel-Differenzen in der Pubertät zeigen; bei Menschen, die von den Wissenschaftlern der Kategorie weiblich zugeordnet werden, steigt der Prolaktinspiegel an, bei Menschen, die als männlich kategorisiert werden, sinkt er. Wie wäre es, wenn Frey sein Modell umkehren und die Frage stellen würde, warum Männer überhaupt an einem Prolaktinmangel leiden und ob die Unfähigkeit zu weinen damit zusammenhängt? Oder noch besser: Was wäre, wenn die Forscher das biologische und soziale Geschlecht als zwei verschiedene Dinge betrachten würden? Wie sähe dann die Tränenforschung aus?

***

 

»Die meisten Leute sind falsch informiert«, sagt Frey. Einmal sah er im Flugzeug eine Frau, die das Buch When Elephants Weep: The Emotional Lives of Animals las, und fragte sie, was sie davon halte. »Ich finde es faszinierend«, erwiderte sie. »Es mag ja durchaus faszinierend sein«, antwortete er, »aber es ist ganz sicher nicht korrekt.«

***

 

Manches rührt ihn aber doch. Ich erzähle ihm von dem Jäger, der den weinenden Elefanten tötete. »Das ist ja furchtbar«, sagt Frey, und ich höre die Emotion in seiner Stimme. Ich erzähle ihm, dass ich weinen musste, als ich den Dialog aus The Champ hörte. Frey sagt, er und sein Team hielten All Mine to Give – Befiehl Du Deine Wege für den Film, der Menschen am sichersten zum Weinen bringe. Er habe sich angewöhnt, für seine Versuchspersonen die Play-Taste zu drücken und schnell den Raum zu verlassen, um nicht selbst in Tränen auszubrechen. Irgendwann sei er so weit gewesen, dass ihm schon die Filmmusik Tränen in die Augen getrieben habe. Die Filmhandlung – ein Waisenkind hat die Aufgabe, für jedes seiner jüngeren Geschwister ein neues Zuhause zu finden – basiert auf einer wahren Geschichte, und deshalb, so der Doktor, könne man sich nicht mit dem Gedanken trösten, dass sie ja nicht real sei.

***

 

Die Feministin bell hooks klagt, das Patriarchat trenne Männer von ihren Gefühlen und verbiete ihnen das Weinen, auch wenn ein höheres Lebensalter und das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit vielleicht eine Neubestimmung erlaubten.121 Aber es ist kompliziert. Männer weinen bei Sportereignissen oder wenn sie sich an Tapferkeit in der Schlacht erinnern. Und das ändert sich im Lauf der Zeit – der Empfindsamkeitskult des achtzehnten Jahrhunderts reagierte wohlwollend darauf, dass in Henry Mackenzies Roman Der Mann von Gefühl so viel geweint wurde, im viktorianischen Zeitalter hingegen lachte man über den ironischen »Tränenindex«, der einer späteren Ausgabe dieses Romans beigefügt...

Erscheint lt. Verlag 21.10.2019
Übersetzer Sabine Hübner
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Abtreibung • Angst • Argonauten • Ars Amatoria • Außer der Reihe • berührender Text • Besonderes Buch • Bipolar • bluets • Buzz Aldrin • Depression • Elefanten • Freudentränen • Geburt • geschenk für frau • Geschenk für Freund • Geschenk für Freundin • Granta • Hitchcock • Hoffnung • Hoffnungslosigkeit • Jane Goodall • Kontrolle verlieren • Kontrollverlust • Kulturgeschichte • Kunst • Liebeskunst • Literarischer Essay • Literatur • London Review of Books • Lyrik • Lyrischer Text • Maggie Nelson • Manie • Medizin • Nähe • Nase • New York City • Ovid • Philosophie • Physiologie • Poetischer Text • Psychische Erkrankung • Psychologie • Rotz und Wasser • Schmerz • schnäuzen • Stille • The New Yorker • Tränen • Tränendrüse • Tränenflüssigkeit • Tränenkanal • Trauer • Trost • Tschechow • verletzlich • Verlust • Verzeichnis einiger Verluste • Vietnam • Weinen • White Tears
ISBN-10 3-446-26528-7 / 3446265287
ISBN-13 978-3-446-26528-8 / 9783446265288
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