Kinder ihrer Zeit (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
592 Seiten
Diana Verlag
978-3-641-20920-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kinder ihrer Zeit -  Claire Winter
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Die Zwillinge Emma und Alice werden 1945 auf der Flucht aus Ostpreußen getrennt. Beide glauben, die andere hätte nicht überlebt. Emma wächst in Westberlin auf, Alice in einem Heim in der DDR. Erst zwölf Jahre später finden sie sich überraschend wieder. Durch Alice lernt Emma den Ost-Berliner Physiker Julius Laakmann kennen. Als Julius Zeuge einer Entführung wird, gerät er zwischen die Fronten der Geheimdienste. Dann verschwindet Alice spurlos. Zu spät erkennt Emma, welcher drohenden Gefahr sie und ihre Schwester gegenüberstehen. Währenddessen erreicht der Kalte Krieg einen neuen Höhepunkt - Berlin soll für immer geteilt werden ...
  • Der Bestseller endlich im Taschenbuch
  • Berlin, Ende der 1950er-Jahre kurz vorm Mauerbau: Zwei Schwestern kämpfen um ihre Freiheit
  • Für alle Leserinnen von Annette Hess, Anne Gesthuysen und Carmen Korn
  • Claire Winter steht für »spannende und emotionale Fiktion und detailgenau recherchierte wahre Geschichte« (WDR 4-Bücher)


Claire Winter studierte Literaturwissenschaften und arbeitete einige Jahre als Journalistin, bevor sie entschied, sich ganz dem Schreiben zu widmen. Sie liebt es, in fremde Welten einzutauchen, historische Fakten genau zu recherchieren, um sie mit ihren Geschichten zu verweben und ihrer Fantasie dann freien Lauf zu lassen. Nach »Die Schwestern von Sherwood« folgten die SPIEGEL-Beststeller »Die verbotene Zeit« und »Die geliehene Schuld«.

ROSA

1

Ostpreußen, sechzehn Jahre zuvor, Januar 1945

Ein feiner dichter Schnee trieb auf der vereisten Landstraße vor ihnen her und hüllte alles in ein einheitliches Weiß, das die Sicht zunehmend erschwerte. Die Grenze zwischen Straßen und Feldern verwischte genauso wie die Linie zum Horizont, und man konnte kaum noch etwas erkennen. Nur die Bäume und Sträucher stachen noch mit ihren dunklen Stämmen und Zweigen aus der Landschaft hervor.

Rosa heftete den Blick auf die alten Eichen vor sich, die die Straße säumten, und versuchte sich ihren beiden Töchtern gegenüber nichts von ihrer Unruhe anmerken zu lassen. Hatte sie doch zu lange gewartet? Bei diesem Wetter würden sie nur langsam vorankommen. Der Schnee hatte ihre Kleidung schon halb durchnässt, und sie hatten noch einige Kilometer vor sich, bevor sie überhaupt die nächste Ortschaft erreichten, geschweige denn einen Bahnhof. Sie fasste rechts die Hand von Alice fester, die ungewöhnlich still war, und zog auf der anderen Seite entschlossen den schweren Handkarren hinter sich her. Die Wehrmacht hatte die beiden Pferde vom Hof bereits vor einigen Wochen konfisziert. Jeder hat seinen Beitrag zu leisten, hieß es. Aber sie hatte für sich und ihre beiden kleinen Töchter ohnehin nicht viel mitgenommen. Ein Koffer mit ein paar Habseligkeiten und eine Tasche mit Proviant lagen auf dem Karren. Rosa verbot sich den Gedanken daran, was sie alles hatten zurücklassen müssen.

»Emma?« Sie wandte den Kopf herum und sah, dass ihre andere Tochter einige Schritte hinter ihnen zurückgefallen war. Normalerweise war sie die Anhänglichere der beiden Zwillinge. Doch heute hatte sie ihrer Schwester den Platz an der Seite ihrer Mutter überlassen. Ihr kindliches Gesicht war mit ernster Miene gen Boden gerichtet, während sie hinter ihnen herstapfte.

»Trödle nicht, Emma«, sagte sie, strenger, als sie es eigentlich wollte.

Emma hob den Kopf. Schneeflocken hatten sich in einer feinen weißen Schicht auf ihrem Mützchen und dem Mantel niedergelassen, der über den zwei Lagen Kleidung wie ausgebeult wirkte. Folgsam lief sie schneller, bis sie auf ihrer Höhe war.

Die Räder des alten Handkarrens rollten knirschend über den Schnee und vermischten sich mit dem Geräusch ihrer gedämpften Schritte. Ansonsten herrschte eine beinah gespenstische Stille. Auf den Feldern waren ihnen einige Male herrenlos umherirrende Kühe und Schweine begegnet, und vor gut einer halben Stunde hatten sie einen Fuhrwagen überholt. Er war auf der Strecke liegen geblieben. Ein Achsenbruch. Unter der zurückgeschlagenen Plane war er mit Möbeln und anderen Habseligkeiten beladen gewesen, und eine ganze Familie hatte darauf gesessen – Großeltern und kleine Kinder, die sie mit großen Augen angeschaut hatten. Sie hatte nur stumm einen Blick mit ihnen gewechselt, während sie an ihnen vorbeigelaufen war. Es herrschte noch immer Fluchtverbot. Nicht einmal die Kinder durften evakuiert oder auch nur Gepäck verschickt werden. Die Worte des Gauleiters Erich Koch, die man im Radio hören und in den Zeitungen lesen konnte, waren unmissverständlich. Wer Ostpreußen verließ oder auch nur wagte, die Flucht zu planen, beging Verrat und würde bestraft werden. Sie taten noch immer so, als wäre der Krieg zu gewinnen. Rosa verzog mit bitterer Miene den Mund. Als könnten sie nicht geschlagen werden. Von der Wunderwaffe, die Hitler bald einsetzen würde, war die Rede und davon, dass die Bevölkerung wie ein Mann zusammenstehen müsse, um den großen Sieg zu erreichen. Doch die resignierten Gesichter der erschöpften Wehrmachtssoldaten, deren geschrumpfte Kompanien man gelegentlich sah, sprachen eine andere Sprache. Der Russe war nicht mehr aufzuhalten. Bereits im Herbst war die Rote Armee im Nordosten das erste Mal kurz über die Grenze Ostpreußens vorgestoßen. Rosa versuchte nicht daran zu denken, was man sich über das Massaker in Nemmersdorf erzählte – von der Rachelust, der unvorstellbaren Brutalität, den Vergewaltigungen und den vielen Toten, die es innerhalb weniger Stunden gegeben hatte. Danach hatten sich die russischen Soldaten wieder zurückgezogen. Es hieß, die Wehrmacht habe sie siegreich von deutschem Boden verdrängt, und tatsächlich hatte man seit Wochen keinen Gefechtslärm mehr gehört, aber das war nur die Ruhe vor dem großen Sturm, der schon bald über sie hinwegfegen würde. Hinter den Grenzlinien hatte die Rote Armee Position bezogen, das wussten sie alle, und an der Memel lagen sich Deutsche und Russen mit ihren Gewehren an den Flussufern gegenüber. Die Russen warteten nur den richtigen Zeitpunkt ab, um loszuschlagen – den Frost. Einer der älteren Männer, der alte Sigmund, der in den vergangenen Wochen noch mit den letzten Alten im Dorf zum Volkssturm einberufen worden war, um die Befestigungen zu verteidigen, hatte es gesagt. Die Flüsse und Seen und der morastige Boden bildeten ein natürliches Hindernis, hatte er erklärt, das ein Vorankommen für die Soldaten nahezu unmöglich machte, aber sobald der Boden und die Gewässer ausreichend gefroren waren, würde sie nichts mehr aufhalten. Rosa hatte aufmerksam zugehört und war seitdem jeden Morgen und Abend zum Teich gegangen, der hinter dem Hof lag, um die Eisschicht zu prüfen – voller Unruhe, wenn sie dicker wurde, und erleichtert, wenn sie bei milderen Temperaturen wieder ein wenig schmolz. Schon vor einigen Wochen hatte sie vorsichtshalber die wenigen Wertsachen, die sie besaß, in den Saum ihres Mantels eingenäht, einen Koffer mit den wichtigsten Dingen gepackt und den Mädchen erklärt, dass sie vielleicht verreisen würden. Als sie gestern wieder zum Teich gegangen war, hatte sie festgestellt, dass die Eisdecke so fest war, dass sie ihr Gewicht trug, und sie wusste – sie durfte nicht länger warten. Der kleine Hof, den sie seit dem Tod ihres Mannes nur mit der gelegentlichen Hilfe eines alten Gesellen bewirtschaftete, lag außerhalb eines Dorfs am östlichen Rand von Ostpreußen – in malerisch idyllischer Umgebung, aber nur unweit des knapp dreißig Kilometer breiten Grenzgürtels, der zur Frontzone geworden war. Man brauchte weiß Gott kein militärischer Experte zu sein, um vorherzusehen, dass sie die Ersten sein würden, die von den Russen überrollt und ihre Rache zu spüren bekommen würden.

Ihre beiden Töchter waren erst elf, noch Kinder, und sie musste sie in Sicherheit bringen. Daran würde sie auch der Gauleiter nicht länger hindern, hatte Rosa entschieden. Sie würde mit den Mädchen so weit wie möglich nach Westen Richtung Küste gehen, nach Elbing oder Braunsberg. Von dort konnte man den Zug nach Berlin oder das Schiff nach Danzig nehmen, wenn es zum Äußersten kam. Rosa presste die Lippen aufeinander. Wenn die Russen erst hier waren, würde der Gauleiter nichts mehr zu sagen haben. Falls sie kontrolliert werden würde, hatte sie sich eine Geschichte von einer kranken Cousine in Braunsberg zurechtgelegt, die ihre Hilfe bräuchte. Bei Morgengrauen hatte sie Emma und Alice geweckt. Die Mädchen hatten keine Fragen gestellt, als sie sie zur Eile angetrieben und ihnen befohlen hatte, zwei Lagen Kleidung übereinander anzuziehen. Anschließend hatte sie ihnen schnell noch etwas zum Frühstück gegeben, bevor sie aufgebrochen waren.

Rosa wandte den Blick nach rechts, zu einem schmalen verschneiten Weg, der in einiger Entfernung in einen Wald führte. Die Äste der Bäume waren oben zusammengewachsen und so ineinander verschlungen, dass sie an ein Tor erinnerten. Rosa kannte den Weg. Mit dem Pferd konnte man bei gutem Wetter von ihrem Hof aus in zwei Stunden hierhergelangen. Im Sommer konnte man in dem Wald wilde Brombeeren und Himbeeren finden. Köstlich süße Früchte. Wie die Erinnerung aus einem anderen Leben kam es ihr vor, wenn sie jetzt daran dachte. Kurz nach ihrer Hochzeit war sie mit Erwin manchmal am Sonntag hierhergeritten, und auch später in seinem letzten Heimaturlaub hatten sie diesen Ausflug einmal unternommen, als er schon so müde und resigniert war und in den Nächten diese schrecklichen Albträume gehabt hatte. Schweißgebadet war er aus dem Schlaf hochgefahren. »Wir haben so Furchtbares getan, so unendlich viel Furchtbares«, hatte er im Bett geflüstert. Leichenblass wie ein Geist war er gewesen. Sie hatte versucht ihn zu beruhigen. »Aber du kannst nichts dafür. Du hast nur getan, was man dir befohlen hat«, hatte sie gesagt. Doch er hatte sie nur angeschaut, als würde sie nichts verstehen. Am nächsten Tag hatte sie ihn überredet, mit ihr in die Wälder zu reiten. Sie hatte einige der süßen Himbeeren gepflückt, und während seine Augen ihr gefolgt waren, hatte auf seinen Lippen ein wehmütiges Lächeln gelegen, als hätte er schon da gespürt, dass dies ihr letztes Beisammensein sein würde.

Rosa starrte zu den verschlungenen Bäumen, und für einen Moment befiel sie das Gefühl, sie müsse sich das Bild der Landschaft, die dabei war, unter dem Schnee zu verschwinden, noch einmal gründlich einprägen, weil sie all das hier vielleicht nie wiedersehen würde. Konnte das sein? Dass sie nie wieder zurückkehren würden?

Plötzlich spürte sie einen Zug an ihrer Hand.

»Mutti?« Alice war neben ihr stehen geblieben. Rosa zog sie entschlossen weiter mit sich. »Wir haben keine Zeit stehen zu bleiben, Alice.«

»Aber ich kann nicht mehr!«

»Na komm. Ein bisschen wird es schon noch gehen«, sagte sie und bemühte sich, die Kleine aufmunternd anzuschauen. Als sie in ihr Gesicht blickte, erschrak sie jedoch. Für einen Außenstehenden waren die Zwillinge schwer auseinanderzuhalten, aber sie selbst hatte ihre Töchter immer mühelos unterscheiden können. Alice war die Lebhaftere und Wildere der beiden, die stets...

Erscheint lt. Verlag 27.7.2020
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Anne Gesthuysen • Annette Hess • Berlin • Berlin Roman • Carmen Korn • DDR • deutsche Familiengeschichte • Deutsche Teilung • Die geliehene Schuld • eBooks • Familiensaga • Historische Romane • Kalter Krieg Roman • Mauerbau • Roman • Romane
ISBN-10 3-641-20920-X / 364120920X
ISBN-13 978-3-641-20920-9 / 9783641209209
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