Die vergessene Heimat (eBook)

Roman nach einer wahren Geschichte
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2020 | 1. Auflage
448 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-26090-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die vergessene Heimat -  Deana Zinßmeister
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Die Geschichte von der Flucht ihrer Eltern aus der DDR kennt Britta Hofmeister seit Kindesbeinen. Sie selbst kam in der Bundesrepublik zur Welt, wuchs mit ihren Geschwistern behütet auf und hatte nie Grund, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Bis ihr Vater an Demenz erkrankt. Zunehmend verwirrt, beginnt er, von früher zu erzählen. Und bald wird klar: Was bei der Flucht 1961 wirklich geschah, hat er jahrzehntelang verschwiegen. Nun kommt die dramatische Wahrheit ans Licht und stellt die Familie vor eine Zerreißprobe ...

Deana Zinßmeister widmet sich seit einigen Jahren ganz dem Schreiben historischer Romane. Bei ihren Recherchen wird sie von führenden Fachleuten unterstützt, und für ihren Bestseller »Das Hexenmal« ist sie sogar den Fluchtweg ihrer Protagonisten selbst abgewandert. Die Autorin lebt mit ihrer Familie im Saarland.

Kapitel 3


Mittwoch, 2. August 1961

Ernst klemmte sich die braune Lederaktentasche zwischen die Beine und zündete sich eine Zigarette an. Die erste Chesterfield nach der Arbeit schmeckt am besten, dachte er und blies den Rauch weit von sich. Er hatte keine Eile. Seine S-Bahn fuhr erst in dreißig Minuten ab. Entspannt schaute er an der Überdachung des Bahnsteigs vorbei zum Himmel hinauf. Den Sommertag trübte keine Wolke. Immer noch kein Regen in Sicht, dachte er, als er seinen Arbeitskollegen Willi auf sich zueilen sah. Irgendetwas an dessen Blick gefiel ihm nicht. Auch schien er unter der sonnengebräunten Gesichtshaut bleich zu sein.

Sein Kumpel blieb dicht vor ihm stehen und sah sich nach allen Seiten um. Ernsts Blick folgte seinem. Ein Hund pinkelte an eines der abgestellten Fahrräder, Menschen hetzten an ihnen vorbei, ein Pärchen konnte sich nicht voneinander lösen. Niemand schien von den beiden Männern Notiz zu nehmen.

»Hast du das von den Kellers gehört?«, raunte sein Kumpel ihm zu.

Ernst legte die Stirn in Falten und schüttelte den Kopf.

»Sie haben sie vor zwei Tagen mitten in der Nacht abgeholt.«

Ernsts Stirnfurchen vertieften sich. Albert Keller arbeitete im selben Metallverarbeitungsbetrieb wie er und Willi. Im Gegensatz zu Ernst, der erst knapp zwei Jahre dort tätig war, hatte Albert in dem Betrieb bereits gelernt. »Ich verstehe nicht, was du mir sagen willst, Willi.«

Sein Kumpel nahm ihm die Zigarette aus der Hand und zog mehrmals daran, ohne den Rauch auszustoßen. Erst als er den Filter zu Boden fallen ließ und die Glut mit dem Absatz austrat, nebelte der Rauch seinen Kopf ein. »Sie haben die gesamte Familie abgeholt und weggeschafft«, verriet er leise.

Ernst war irritiert. Die Kellers wohnten nur einige Straßen von ihnen entfernt. Er hätte doch mitbekommen, wenn sie nicht mehr da wären. »Wie meinst du das? Wohin sind sie gebracht worden, und wer hat sie abgeholt?«

»Hast du nichts darüber gehört auf der Arbeit?«, fragte Willi erstaunt.

»Ich war allein in der Kontrolle heute.«

»Vorgestern Nacht sind zwei Planwagen vorgefahren. Kaum standen die Lkw, sprangen mehrere Soldaten von den Pritschen. Sie müssen die Wohnung der Kellers regelrecht gestürmt und das Ehepaar aus den Betten geholt haben. Ohne Erklärungen wurden sie aufgefordert, nur das Notwendigste einzupacken. Selbst Klagen, Betteln und Schimpfen hat den Kellers nicht geholfen. Noch in derselben Stunde mussten sie mit den fünf Kindern ihr Heim verlassen.« Willi fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. »Wie Verbrecher hat man sie aus ihrem Haus geführt. Die Kinder sollen laut geweint haben.«

»Warum hat man sie fortgebracht?«, fragte Ernst geschockt.

»Angeblich steht ihr Haus zu dicht am Grenzverlauf.«

»Woher weißt du das alles so genau?«

»Es war Gespräch bei uns auf der Schicht, gestern und heute.«

Hinter Ernsts zerknitterter Stirn fing es an zu klopfen, als er sich bewusst wurde, was das bedeutete. »Sie werden uns Grenzgänger fortschaffen, weil wir das Leben im Westen kennen und weil sie Angst haben, dass wir einen Aufstand anzetteln könnten.«

»Du faselst dummes Zeugs. Warum sollten wir das tun?«

»Weil die Mauer kommt. Sie werden sie bauen und uns damit vom Westen abschneiden. Dann rauchst du keine Chesterfield mehr, sondern CABINET- oder CLUB-Zigaretten. Statt Bohnenkaffee werden wir dann Muckefuck trinken«, zischte Ernst.

»Quatsch doch nicht!«, unterbrach ihn sein Kumpel. »Unser Staatsratsvorsitzender, Genosse Ulbricht, hat doch neulich erst gesagt, dass niemand die Absicht hat, eine Mauer zu bauen. Und der muss es wissen, schließlich ist er der mächtigste Mann im Staat«, gab Willi zu bedenken und sah sich erneut um.

»Politikergeschwätz«, entgegnete Ernst, dessen Gedanken hin und her sprangen. »Weiß man, wohin die Kellers gebracht wurden?«

»Einige haben versucht, das herauszufinden, aber ohne Erfolg.«

»Wahrscheinlich hat man sie ins Tal der Ahnungslosen verbannt«, schlussfolgerte Ernst.

»Tal der Ahnungslosen? Wo soll das sein?«

Ernst sah ihn ungläubig an. »So wird das Hinterland genannt, wo man weder Westfernsehen noch Westradio empfangen kann. Dort, wo es keinen Fortschritt gibt und manche ohne fließend Wasser und Strom zurechtkommen müssen. Dort, wo man die Menschen mit zensierten Medien gefügig macht, so dass sie unser Regime nicht hinterfragen. Hast du wirklich noch nie davon gehört?«

Willi verneinte.

»Na ja, eigentlich kein Wunder, dass du das nicht kennst. Du bist in Berlin geboren und aufgewachsen und hast schon immer im Westen gearbeitet. Lass dir gesagt sein, Willi: Je weiter du in unserem Land nach Osten fährst, desto unwissender sind die Menschen. Vor einiger Zeit sagte einer von dort zu mir, dass die Bundesrepublik Deutschland keine zwei Jahre mehr überleben würde, dann hätte die DDR sie eingenommen.«

Willi schüttelte den Kopf. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Menschen dort tatsächlich so denken. Jeder weiß doch, dass der Westen dem Osten weit voraus ist.«

Ernst zuckte mit den Schultern. »Wenn du stets nur Schlechtes über die BRD im Radio hörst und man dir außerdem Lügen auftischt, die du nicht überprüfen kannst, dann glaubst du jedem alles.«

Willi kratzte sich über die Kopfhaut. »Trotzdem glaube ich nicht, dass sie eine Mauer bauen werden. Wie soll das funktionieren? Sie müssten Berlin auch unterirdisch abriegeln und bis zur Kanalisation vordringen, außerdem die Häuser an der Grenze zumauern. Nee, Ernst, so was geht nicht.«

»Denk, was du willst. Ich weiß, dass es so kommen wird. Wenn es tatsächlich stimmt, dass die Kellers fortmussten, weil Albert im Westen gearbeitet hat und ihr Haus zu dicht an der Grenze stand – dann sind Leni und ich die Nächsten, die sie wegbringen werden. Unser Haus liegt ebenfalls im Sperrgebiet, keine hundert Meter von Spandau entfernt.«

»Dort, wo du wohnst, laufen mehr Soldaten rum als im Ostteil der Stadt. Ihr werdet gut überwacht. Da passiert nichts.«

Ernst hörte seinem Kumpel kaum zu. Er wusste, dass sie auf das Unmögliche gefasst sein mussten. Plötzlich zuckte ein Gedanke durch seinen Kopf, den er auf keinen Fall laut aussprechen durfte. Im Grunde durfte er ihn nicht einmal denken. Erschrocken über sich selbst drängte er ihn zurück und beugte sich hastig zur Aktentasche hinunter, die noch immer zwischen seinen Waden klemmte. Er kramte das Päckchen Zigaretten hervor und bot aus der Hocke Willi davon an. Bevor er wieder aufstand, atmete er tief durch. Im selben Augenblick fuhr ihre S-Bahn ein.

Ernst setzte sich mit einem mulmigen Gefühl in das Abteil. Um sich abzulenken, zählte er die Bäume, die auf der Wegstrecke standen. Am ersten Bahnhof im Osten mussten sie aussteigen. Als die Station Albrechtshof in Sicht kam, holte er erleichtert Luft.

Willi und er gingen zum Ausgang des Bahnhofs. Wie jeden Abend wurden die heimkehrenden Ostbürger von Grenzpolizisten erwartet, die ihre Ausweise kontrollierten. Über die Jahre kannte man die unterschiedlichen Gesichter, die sich jede Woche abwechselten. Kaum einer der Polizisten besah sich die Pässe der Männer und Frauen genauer. Sie kannten »ihre« Grenzgänger und winkten sie durch, noch bevor sie den Ausweis in die Höhe hielten. Heute jedoch standen fremde Polizisten am Ausgang. Sie prüften jeden Namen auf Listen und machten hinter manchen einen Haken.

Ernsts Hand mit dem Dokument wurde feucht, feine Schweißperlen bedeckten seine Oberlippe. Wie fast jeden Tag hatte er zwischen dem Hemdstoff und seiner nackten Haut die BILD-Zeitung versteckt. Weil es verboten war, das Tagesblatt in den Osten zu bringen, schmuggelte Ernst die Zeitung unter der Kleidung hinüber. Er wollte Leni damit eine Freude machen, denn sie interessierte sich für die Neuigkeiten, die in der DDR nicht erzählt wurden.

Schon winkte ihn der Grenzpolizist, der besonders grimmig umherschaute, zu sich und befahl: »Den Ausweis!«

Trotz des unfreundlichen Tons versuchte Ernst zu lächeln und hielt den Ausweis vor sich.

»Herr Schimpf und Frau Schande verdienen im Westen und kaufen im Osten. Doch damit ist bald Schluss«, spottete der Polizist und sah grinsend zu seinen Kollegen, die hämisch auflachten.

Ernst tat, als habe er nichts gehört. Schon zu oft hatte er sich ähnliche Beschimpfungen und Beleidigungen von fahnentreuen DDR-Bewohnern anhören müssen. Mancherorts waren an Geschäften sogar Propagandaplakate angebracht, auf denen zu lesen stand, dass Ostbürger, die im Westen arbeiteten, in diesem Laden »nicht zuvorkommend bedient werden«. Sogar in seinem Bekanntenkreis waren einige neidisch, weil er und Leni sich den guten Kaffee aus dem Westen leisten konnten und nicht den Kaffeeverschnitt aus dem Osten trinken mussten, der aus gerösteten Eicheln hergestellt wurde. Durch den günstigen Devisenumtausch bekamen sie fünf Mark Ost für eine Mark West. Dadurch konnten sie Dinge erwerben, die man sich mit einem Ostgehalt nicht kaufen konnte.

»Was ist in der Tasche?«, wollte der Volkspolizist wissen und zeigte auf die Aktentasche.

»Brotdose und Thermoskanne.«

»Herzeigen!«

Ernst holte die beiden Utensilien hervor. Der Polizist zog eine Augenbraue hoch, machte einen Haken auf die Liste, gab Ernst den Ausweis zurück und winkte ihn durch.

Als Ernst ihm den Rücken zudrehte und zum Ausgang...

Erscheint lt. Verlag 21.9.2020
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 30 Jahre Mauerfall • Autobiographisch • Berlin • DDR • DDR-Flucht • Demenz • eBooks • Eltern • Familiengeheimnis • Flucht • Grenze • kleine geschenke für frauen • Mauerfall • Ostberlin • ostflucht • Roman • Romane • Saarland • Wahre Begebenheit • Wahre Geschichte der Autorin • Wahre Geschichte der Eltern
ISBN-10 3-641-26090-6 / 3641260906
ISBN-13 978-3-641-26090-3 / 9783641260903
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