Die Chroniken des Aufziehvogels (eBook)

Roman
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2020 | 1. Auflage
1008 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-8321-7047-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Chroniken des Aufziehvogels -  Haruki Murakami
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Murakamis Meisterwerk - erstmals direkt aus dem Japanischen übersetzt! Ein unzufriedener Mann von dreißig Jahren, gerade ohne Arbeit und von seiner tüchtigen Frau zur Selbsterforschung ermutigt, so einer ist Murakamis Held Toru Okada in diesem schillernden Roman. Wenn er fliegen kann, dann eher wie ein Spielzeugvogel, von wer weiß wem aufgezogen. Vor diesem Herrn Aufziehvogel tun sich plötzlich Wirklichkeiten auf, von denen er bisher nichts ahnte. Erotische, ökonomische und politische. Unbekannte dringen zu ihm vor: eine kesse, intelligente Sechzehnjährige, eine Wahrsagerin, ein alter Offizier, und alle schleppen sie ihre seltsamen Geschichten in Torus stilles Haus - Geschichten, die sich als insgeheim miteinander verbunden erweisen. Selbst über die eigene Ehe, über seine scheinbar so treue Frau drängen sich dem Helden schwindelerregende Vermutungen auf. Unter dem Alltagsleben der Großstadtgesellschaft wirken noch andere Kräfte: geheime, abgründige Begierden, die Historie des japanisch-chinesischen Krieges; oder gar so etwas Altmodisches wie das Schicksal. In diesem meisterhaften Roman erkundet Haruki Murakami die Seele des globalisierten Menschen.

HARUKI MURAKAMI, 1949 in Kyoto geboren, lebte längere Zeit in den USA und in Europa und ist der gefeierte und mit höchsten Literaturpreisen ausgezeichnete Autor zahlreicher Romane und Erzählungen. Sein Werk erscheint in deutscher Übersetzung bei DuMont. Zuletzt erschienen die Romane >Die Ermordung des Commendatore< in zwei Bänden (2018), in einer Neuübersetzung >Die Chroniken des Aufziehvogels< (2020), der Erzählband >Erste Person Singular< (2021), >Murakami T< (2022) und >Honigkuchen< (2023).

2.VOLLMOND UND SONNENFINSTERNIS

VON PFERDEN, DIE IN STÄLLEN STERBEN

Ist es möglich, dass ein Mensch einen anderen ganz und gar versteht?

Anders gefragt: Wie nah können wir einer anderen Person kommen, wenn wir uns Zeit nehmen und uns ernsthaft bemühen? Wissen wir wirklich etwas Entscheidendes über die Menschen, die wir so gut zu kennen glauben?

Etwa eine Woche nachdem ich in der Kanzlei aufgehört hatte, begann ich intensiv über diese Frage nachzudenken. In meinem bisherigen Leben hatte ich mich nie mit derartigen Fragen beschäftigt. Warum eigentlich nicht? Wahrscheinlich, weil ich alle Hände damit zu tun hatte, mein Leben zu organisieren. Vielleicht war ich auch zu beschäftigt damit gewesen, über mich selbst nachzudenken.

Der Anlass für meine Zweifel war wie in den meisten solchen Fällen völlig trivial gewesen. Nachdem Kumiko hastig ihr Frühstück hinuntergeschlungen und das Haus verlassen hatte, warf ich die Wäsche in die Maschine, machte die Betten, wusch das Geschirr ab und saugte Staub. Anschließend setzte ich mich mit dem Kater auf die Veranda und sah die Stellenanzeigen und die Sonderangebote in der Zeitung durch. Als es Mittag wurde, machte ich mir einen Imbiss, aß und ging in den Supermarkt, um fürs Abendessen einzukaufen, bei welcher Gelegenheit ich noch ein Waschmittel im Sonderangebot, Papiertaschentücher und Toilettenpapier mitnahm. Wieder zu Hause, bereitete ich das Abendessen vor, legte mich aufs Sofa und las, während ich auf die Heimkehr meiner Frau wartete.

Da ich erst seit Kurzem arbeitslos war, fand ich dieses Leben eher erfrischend. Ich musste nicht mehr mit der überfüllten Bahn ins Büro fahren und brauchte mich nicht mit Leuten auseinanderzusetzen, mit denen ich mich nicht auseinandersetzen wollte. Ich musste mich von niemandem herumkommandieren lassen und auch selbst niemanden herumkommandieren. Musste nicht mit meinen Kollegen in vollen Restaurants das Mittagsmenü essen und dabei über das Baseballspiel vom Vorabend sprechen. Wie wundervoll es war, nicht mehr hören zu müssen, dass der vierte Schlagmann der Yomiuri Giants einen Homerun bei vollbesetzten Bases erzielt hatte. Und das Wundervollste von allem war, dass ich jedes beliebige Buch zu jeder beliebigen Zeit lesen konnte. Wie lange ich so weitermachen wollte, wusste ich nicht. Aber ich liebte dieses entspannte Leben, das bisher erst eine Woche dauerte, und versuchte, nicht an die Zukunft zu denken. Es war vermutlich der Urlaub meines Lebens. Eines Tages wäre er zu Ende. Aber bis dahin würde ich ihn genießen.

Jedenfalls hatte ich seit Langem erstmals wieder Zeit, rein zu meinem Vergnügen zu schmökern, besonders Romane. In den letzten Jahren hatte ich vor allem juristische Bücher gelesen oder solche, die sich leicht in der Bahn konsumieren ließen. Obwohl niemand es ausdrücklich bestimmt hat, gilt es für jemanden, der in einer Anwaltskanzlei arbeitet, als unschicklich, wenn nicht sogar als Missetat, einen einigermaßen lesbaren Roman in der Hand zu halten. Hätte man ein solches Buch in meiner Tasche oder auf meinem Schreibtisch entdeckt, hätte man mich nicht anders angesehen als einen räudigen Hund. »Aha, du magst Romane. In meiner Jugend habe ich so was auch gelesen«, würden die Kollegen sagen.

Für sie waren Romane so etwas wie eine Jugendsünde. Auf eine bestimmte Zeit begrenzt, so wie man im Frühsommer Erdbeeren pflückt und im Herbst Weintrauben erntet.

Doch an diesem Abend bereitete mir meine Lektüre nicht die gleiche Freude wie sonst. Denn Kumiko kam einfach nicht. In der Regel war sie, auch wenn es spät wurde, um halb sieben zu Hause, und selbst bei einer Verspätung von nur zehn Minuten rief sie mich auf jeden Fall an. Sie war in dieser Hinsicht geradezu übertrieben gewissenhaft. Doch an diesem Tag kam sie nicht, obwohl es schon nach sieben war, und rief auch nicht an. Sobald sie kam, brauchte ich das Essen nur noch aufzusetzen. Es war nichts Großartiges. Es sollte pfannengerührtes Rindfleisch mit Zwiebeln, grüner Paprika und Sojabohnensprossen geben, gewürzt mit Salz, Pfeffer und Sojasauce. Zum Schluss würde ich das Ganze mit einem Schuss Bier ablöschen. Es war ein Gericht aus meiner Junggesellenzeit. Der Reis war fertig, die Misosuppe heiß, und das Gemüse lag ordentlich geschnitten auf einem großen Teller bereit. Wer nicht auftauchte, war Kumiko. Ich hatte Hunger und überlegte, ob ich meinen Teil schon einmal zubereiten sollte. Aber irgendwie hatte ich keine Lust dazu. Es wäre mir ungehörig vorgekommen.

Also setzte ich mich an den Küchentisch, trank ein Bier und knabberte ein paar Kräcker, die noch hinten im Küchenschrank lagen und schon etwas feucht geworden waren. Allmählich wanderten die Zeiger der Uhr auf halb acht, und ich konnte nur untätig zusehen, wie sie weiter vorrückten.

Es war kurz nach neun, als Kumiko endlich zu Hause ankam. Sie sah erschöpft aus. Ihre Augen waren gerötet, ein besonders schlechtes Zeichen. Rote Augen bedeuteten nicht Gutes. Ich ermahnte mich: Bleib cool, gib keine Ratschläge, sei ganz ruhig und nicht gereizt.

»Entschuldige. Wir hatten so viel Arbeit. Ich bin einfach nicht fertig geworden. Ich wollte dich die ganze Zeit anrufen, aber immer kam was dazwischen.«

»Ist schon in Ordnung. Mach dir keine Gedanken«, sagte ich, als wäre nichts. Und ich war tatsächlich nicht sonderlich verstimmt. Ich hatte so etwas selbst schon häufig erlebt. Außer Haus zu arbeiten, war wirklich kein Zuckerschlecken. Im Garten die schönste Rose zu pflücken und sie der verschnupften Oma zwei Straßen weiter ans Bett zu bringen und ihr gemütlich den ganzen Tag Gesellschaft zu leisten, war damit nicht zu vergleichen. Mitunter muss man irgendwelche überflüssigen Dinge für irgendwelche überflüssigen Leute tun. Und findet einfach keine Gelegenheit, zu Hause anzurufen. Auch wenn es höchstens dreißig Sekunden dauern würde, anzurufen und zu sagen: »Ich komme heute später«. Überall sind Telefone. Aber manchmal schafft man es eben nicht.

Ich machte mich ans Kochen. Schaltete das Gas ein und gab Öl in den Wok. Kumiko nahm sich ein Bier aus dem Kühlschrank und ein Glas aus dem Regal. Sie musterte skeptisch die Zutaten. Anschließend setzte sie sich wortlos an den Tisch und trank ihr Bier. Aus ihrer Miene schloss ich, dass sie keinen Appetit hatte.

»Du hättest ruhig schon essen können«, sagte sie.

»Kein Problem. Ich hatte keinen großen Hunger«, sagte ich.

Während ich Fleisch und Gemüse briet, stand Kumiko auf und ging ins Bad. Ich hörte, wie sie sich am Waschbecken das Gesicht wusch und die Zähne putzte. Wenig später kam sie aus dem Bad, in den Händen das Toilettenpapier und die Papiertaschentücher, die ich am Vormittag im Supermarkt gekauft hatte.

»Wieso hast du das gekauft?«, fragte sie müde.

Die Hand am Wok, sah ich Kumiko an. Mein Blick wanderte zu den Taschentüchern und dem Toilettenpapier. Ich hatte keine Ahnung, was sie mir sagen wollte.

»Ich weiß nicht, was du meinst«, sagte ich. »Das sind doch nur Taschentücher und Toilettenpapier. Es ist blöd, wenn einem so was ausgeht. Wir haben zwar noch einen kleinen Vorrat, aber Papier wird ja nicht schlecht.«

»Darum geht es mir nicht. Natürlich brauchen wir die Sachen. Ich will nur wissen, warum du ausgerechnet blaue Taschentücher und geblümtes Klopapier gekauft hast.«

»Ich weiß noch immer nicht, wovon du redest«, sagte ich geduldig. »Ja, ich habe blaue Taschentücher und geblümtes Toilettenpapier gekauft. Sie waren im Sonderangebot. Die Nase wird ja nicht blau, wenn man sie sich mit blauen Taschentüchern putzt. Die Farbe spielt doch keine Rolle, oder?«

»Doch. Ich mag keine blauen Taschentücher und auch kein gemustertes Klopapier. Wusstest du das nicht?«

»Nein«, sagte ich. »Hast du einen besonderen Grund für diese Abneigung?«

»Warum ich das nicht mag, kann ich dir nicht erklären«, sagte sie. »Du magst ja auch keine Telefonbezüge, keine geblümten Thermosflaschen und keine Jeans mit Schlag und Nieten. Und du magst es nicht, wenn ich mir die Nägel lackiere. Die Gründe dafür kannst du auch nicht im Einzelnen darlegen. Das ist eben Geschmackssache.«

Natürlich hätte ich ihr sämtliche Gründe für meine diversen Abneigungen bis ins Detail erklären können. Aber selbstverständlich tat ich es nicht. »Also gut, es ist Geschmackssache. In Ordnung. Aber hast du in den sechs Jahren, in denen wir verheiratet sind, wirklich kein einziges Mal blaue Taschentücher oder gemustertes Toilettenpapier gekauft?«

»Nein, habe ich nicht«, sagte Kumiko knapp.

»Wirklich nicht?«

»Wirklich nicht«, sagte Kumiko. »Ich kaufe nur weiße, gelbe oder rosa Taschentücher. Und das Toilettenpapier, das ich kaufe, ist definitiv nie gemustert. Ich finde es erschreckend, dass wir nun schon so lange zusammenleben und du das noch nicht gemerkt hast.«

Ich fand es ebenfalls erschreckend, dass ich in den ganzen sechs Jahren kein einziges Mal blaue Taschentücher oder gemustertes Toilettenpapier benutzt und nichts davon gemerkt hatte.

»Und wo wir schon dabei sind, lass mich dir eins sagen«, erklärte sie. »Ich hasse pfannengerührtes Rindfleisch mit grüner Paprika. Wusstest du das nicht?«

»Nein.«

»Jedenfalls mag ich es nicht. Und frag mich nicht nach dem Grund. Ich weiß nicht, warum das so ist. Ich kann den Geruch von diesen beiden Sachen zusammen in einem Topf nicht ertragen.«

»Du hast also in diesen sechs Jahren kein einziges Mal Rindfleisch mit grüner Paprika gemacht?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich esse Paprika im Salat, und ich mag Rindfleisch mit Zwiebeln. Aber Rindfleisch und Paprika würde ich niemals kombinieren.«

»Du meine...

Erscheint lt. Verlag 13.10.2020
Übersetzer Ursula Gräfe
Sprache deutsch
Original-Titel ›Nejimaki-dori kuronikuru‹
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abgründe • Alltagsleben • Aufziehvogel • Begierden • Birthday Girl • der moderne Mensch • Die Ermordung des Commendatore • Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki • direkt aus dem japanischen übersetzt • Ehe • Einsamkeit • Erotik • Folter • Geheimnisse • Geschichte • Geschichten • gewissheiten • Globalisierung • Grausamkeit • Großstadt • Großstadtgesellschaft • Japan • Japanisch-chinesischer Krieg • Japanische Literatur • Lebenssinn • Liebe • Literatur • Militär • Mister Aufziehvogel • Mord • murakami von ursula gräfe übersetzt • neuer mister aufziehvogel • Neuübersetzung • Offizier • Ökonomie • Phantasie • Pistole • Politik • Schicksal • Seele • Selbsterforschung • Sex • Sinnsuche • Spielzeugvogel • südlich der grenze westlich der sonne • tatenlosigkeit • the wind-up bird chronicle • Tod • Traum • Treue • Tüchtigkeit • Untaten • Unzufriedenheit • Von Männern die keine Frauen haben • Wahrsagerin
ISBN-10 3-8321-7047-2 / 3832170472
ISBN-13 978-3-8321-7047-9 / 9783832170479
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