Patong (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
352 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-26804-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Patong -  David Pfeifer
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Mit einem Vorwort von Bela F Felsenheimer
Mert geht immer rein in die Angst. Wenn er in Stress gerät, greift er an. Das funktioniert gut bei den meisten Gegnern, die er häufig unter Druck setzen kann, bis sie ihre Deckung sinken lassen. Doch im wahren Leben zerstört er damit mehr, als er gewinnen kann. Seine Karriere, seine große Liebe, sich selbst. Außerhalb des Rings ist die Angst sein größter Gegner. Doch er kämpft weiter, weil er nichts anderes gelernt hat, als anzugreifen und niemals aufzugeben.
Die Neuausgabe des Kultromans »Schlag weiter, Herz« unter dem Titel »Patong«.

David Pfeifer, Jahrgang 1970, Österreicher, wuchs in München auf, bevor es ihn 1993 nach Hamburg zog, um für das legendäre Magazin Tempo zu arbeiten. Weitere Stationen waren der Stern und Vanity Fair. 2014 wurde er leitender Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung. Er schreibt Romane und Sachbücher, zuletzt erschien Die Rote Wand. Schlag weiter Herz war 2013 sein erster Roman bei Heyne Hardcore, der jetzt unter dem Titel Patong neu aufgelegt wird. Seit 2020 ist er Süd-Ost-Asien-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung und lebt in Bangkok.

2


Merts Leben begann in dem Moment, als er Nadja begegnete. Mert sagte und tat nichts mehr, ohne es an ihr auszurichten. Er verhielt sich trotz oder wegen ihr. Alles, was er alleine erlebte, war erst von Bedeutung, nachdem er es ihr erzählte. Was Nadja nicht von ihm wusste, würde mit ihm verschwinden.

Nadjas Schönheit wollte entschlüsselt werden. Ihre Augen standen nah beieinander, meistens blickte sie skeptisch. Sie trug ihre schwarzen Haare kurz geschnitten. Ihre Gesichtszüge sahen aus wie geschnitzt, was sie älter wirken ließ, obwohl sie noch jünger war als Mert. Bei dieser ersten Begegnung fühlte er sich, als habe er einen Schatz entdeckt, der anderen verborgen blieb. Doch das Auffälligste war nicht Nadjas Aussehen, sondern ihre Anwesenheit.

Sie saß im Bus der Hamburger Boxauswahl, auf dem Weg zu einem Vergleichskampf gegen die Ukraine in Schwerin. Ein Dutzend junger Männer verschiedener Gewichtsklassen verteilte sich im Bus, alle so voller Kraft, dass sie kaum gerade sitzen konnten. Beine hingen über Armlehnen, Köpfe ragten in den Gang.

Mert hatte verschlafen, nachdem er die halbe Nacht mit seinem Vater gestritten hatte, wegen Geld, das in der Haushaltskasse fehlte. Im Nieselregen war er dem Bus hinterhergesprintet, an der zweiten Ampel hatte er ihn eingeholt. Wasser und Schweiß tropften an ihm herunter, seine Sporttasche schnitt in seine rechte Schulter und verzog seinen Trainingsanzug zu einer betonfarbenen Stoffmasse. Mert war in einem denkbar schlechten Zustand, um seinem Schicksal gegenüberzutreten.

Ein paar Sekunden stand er im Gang, um wieder zu Atem zu kommen. Einige der Jungs schliefen im Sitzen, die Hauben ihrer Kapuzenpullis tief ins Gesicht gezogen. Andere grüßten mit einem Kopfnicken. Mert schob sich durch den Mittelgang, seine Tasche blieb an Armlehnen und schlafenden Kollegen hängen. Nadja saß entgegen der Fahrtrichtung an einem der kleinen Tische neben Felix Borau, dem Star der Hamburger Boxauswahl. Sie wirkte wie eine Porzellantasse in einem Maschinenraum.

Als Mert an ihrer Reihe vorbeiging und sich umdrehte, sah sie ihn mehrere Sekunden an, und ihre Ausdruckslosigkeit schien etwas zu verschleiern. Sie lächelte kurz, bevor sie sich in das Buch flüchtete, das aufgeschlagen auf dem Tisch vor ihr lag. Mert fing Felix’ Blick auf, der wortlos sein Revier sicherte. Zwei Bankreihen weiter fand Mert einen freien Platz und ließ sich hineinfallen. Keine Stelle an seinem Körper war trocken geblieben.

Während der Bus durch den Regen fuhr, packte Mert seine Kampfkleidung aus der Sporttasche. In der Reihe neben ihm döste ein Fliegengewichtler, auf dessen grauem Sweatshirt in großen Lettern »Boxen« gedruckt stand. Der Junge hatte sich in seinen Pulli gewickelt wie in eine Decke. Mert streifte sich die nassen Sachen ab und kramte in seiner Tasche. Zwischen Duschgel, Boxhandschuhen und Kopfschutz fand er einen ausgeblichenen Guns-N’-Roses-Pullover. Er wischte sich mit einem Handtuch trocken und suchte nach seinem Deo. Der Junge auf der anderen Seite des Gangs drehte sich im Halbschlaf zur Seite und motzte. »Whoa Alter, du stinkst.«

Mert sprühte Unmengen von Deo unter seine Achseln, was seinen Nachbarn endgültig aufweckte.

»Das ist ja abartig, willst du uns vergasen?« Der Junge schob seine Kapuze zurück und sah Mert nackt in der Bankreihe neben sich sitzen. »Alter, wenn du nicht doppelt so groß wärst wie ich, würde ich alle wach machen, damit sie das sehen können.«

Mert schlüpfte in seine Kampfhose. Danach streckte er seine Faust zum Gruß über den Gang.

»Mert.«

»Ali«, erwiderte der Junge, als er mit seiner Faust einmal oben und einmal unten auf Merts Faust klopfte.

Mert kannte Ali Örgen, den einzigen Hamburger Verbandsboxer, der einen ähnlich beeindruckenden Kampfrekord vorzuweisen hatte wie Felix Borau. Deutscher Meister im Fliegengewicht, Jugendeuropameister. Mert hatte ihm öfter beim Sparring zugesehen. Ali boxte technisch überragend, schnell und stark. Er war ein Titan im Ring. Aber in Zivilkleidung wirkte er wie ein Zwerg, 1,62 Meter groß, was Mert besonders deutlich auffiel, als Ali neben ihm im Bus hockte und in seinem großen Sweatshirt wie ein Kind aussah.

Mert zog sein Vereinsshirt an und den alten Pullover darüber. Auf seiner Brust war nun »Appetite for Destruction« zu lesen, und das passte sehr gut zu seinen Absichten.

Der Bus glitt knapp oberhalb der vorgeschriebenen Geschwindigkeit durch den Regen nach Schwerin. Mert fühlte sich ausgelaugt, doch er konnte nicht schlafen. Er suchte nach einer Stellung, in der er zur Ruhe kam, landete aber immer in einer Position, aus der er in Nadjas Richtung sehen konnte. Felix Borau schien Mert zu beobachten. Beide kannten sich vom Verbandstraining. Felix war die Geheimwaffe des Hamburger Boxverbandes, Kaderboxer der ehemaligen DDR mit erstklassiger Grundausbildung.

Um der Beobachtung durch Felix zu entgehen, stand Mert auf und stellte sich in den Gang. Erst als ihm bewusst wurde, dass seine Aktion eine Folgeaktion verlangte, schob er sich zum Verbandstrainer nach vorne. Thorsten Gersch blickte von seinem Kreuzworträtsel auf und sah Mert fragend an.

»Noch irgendwelche Tipps, Trainer?«

»Ran an den Mann und harte Haken schlagen, das ist doch deine Spezialität.«

Gersch hatte es aufgegeben, eine Kampftaktik mit Mert zu besprechen. Mert tat, was er konnte, und durfte mit, weil Gersch sonst keinen konkurrenzfähigen Schwergewichtler im Aufgebot hatte. Mit seinen 182 Zentimetern Körpergröße wäre Mert im Halbschwergewicht besser aufgehoben gewesen, aber er hatte Probleme, unter dem Limit von 81 Kilogramm zu bleiben. Und im Halbschwergewicht war an Felix sowieso kein Vorbeikommen.

Obwohl Merts Gegner laut Kampftabelle zehn Zentimeter größer war, würde er schlagbar sein.

»Der hat nur sechs Kämpfe gemacht«, erklärte Gersch.

»Warum tritt der Russe eigentlich gegen mich an, wenn er so wenig Kämpfe hat?«

»Kiew ist nicht in Russland, sondern in der Ukraine, und wir haben dich mit null Kämpfen angemeldet.«

Mert wollte etwas einwenden. »Im Schwergewicht hast du null Kämpfe«, sprach Gersch weiter, »und es macht deinem Gegner auch keinen Spaß, wenn er umsonst zum Wettbewerb fährt. Geht ja nicht um die Olympiateilnahme.«

Als die Hamburger Boxer die Mehrzweckhalle betraten, wurden gerade Stuhlreihen aufgestellt. Der Ring war auf ein Holzpodest gebaut, der Boden mit schwerem, blauem Leinen bezogen. Techniker verschraubten die Spannhaken der Ringseile im Hallenboden. Einer der Ringrichter lehnte sich mit dem Rücken zu allen vier Seiten in die Seile, um deren Elastizität zu prüfen. Die Halle war rechteckig, knapp unter der Decke verlief eine Borte kleiner Fenster, die Tageslicht einließen. Obwohl draußen noch Schilder hingen, die zur Einweihungsfeier einluden, wirkte die Halle abgenutzt.

Die Umkleidekabine der Hamburger war so klein, dass nur ein Mann darin Seil springen konnte. Sie würden sich beim Aufwärmen abwechseln müssen. Die Boxer warfen ihre Taschen ab und schlugen dann in der Halle die Zeit tot. Der Nachmittag verging mit Wiegen und einer ungelenken Begrüßung der Kollegen aus der Ukraine. Merts Gegner, Piotr Androwitsch, sah aus wie ein 94 Kilo schwerer Säugling. Mert gruselte vor ihm. Androwitsch lag sogar drei Kilo über dem Limit fürs Schwergewicht, Gersch akzeptierte ihn trotzdem als Gegner. Nach dem Händeschütteln verteilten sich die Boxer in der Halle, und Mert beschwerte sich mit gedämpfter Stimme bei Gersch. »Der wiegt zehn Kilo mehr als ich. Ich brauche eine Leiter, um den zu treffen.«

»Sie bescheißen beim Gewicht, wir bescheißen bei den Kämpfen. Auf die Art hast du dir einen Sieg wenigstens verdient«, erwiderte Gersch.

»Beschwer dich nicht. In meiner Gewichtsklasse haben sie keinen aufgeboten. Ich bin umsonst mitgefahren«, sagte Ali, der neben ihnen zur Umkleide trottete und sich missmutig in der Halle umsah. »Wahrscheinlich haben die wegen Tschernobyl gar keine so kleinen Russen.«

»U-kra-ine!«, wies Gersch ihn zurecht.

Es wurde aufsteigend nach Gewichtsklassen geboxt. Nur Mert und Androwitsch würden außer der Reihe den vorletzten Kampf bestreiten. Die Hauptattraktion des Abends sollte die Begegnung im Halbschwergewicht werden, zwischen Felix Borau, dem deutschen Meister, und Vasily Lukaschinsky, dem Militärmeister der Ukraine.

In der Halle war es zu kalt, um sich zum Schlafen in einer Ecke einzurollen, also trieb Mert sich herum und aß Schokolade, belegte Brötchen, Äpfel und Bananen, die den Boxern auf einem Tapeziertisch hergerichtet worden waren.

Als er den Witz mit den Bananen und den Gurken zum dritten Mal gehört hatte, fragte Mert endlich nach, was es damit auf sich hätte – und zwar ausgerechnet Felix und Gersch, die auf dem Weg in die Umkleidekabine waren.

»In der DDR hatten wir keine Bananen«, erklärte Felix. »Wegen der Planwirtschaft«, ergänzte Gersch.

»Und deswegen hält man uns für so blöd, eine Gurke mit einer Banane zu verwechseln«, schloss Felix. Gersch nickte. »Dummer Witz«, fügte er hinzu. Mert fand den Witz eigentlich ganz gut. Aber nachdem er ihn noch zweimal hörte, bekam er Mitleid mit den Schwerinern, die ihn bestimmt schon viel öfter gehört hatten.

Mert versuchte sich in Winkeln der Halle aufzuhalten, aus denen er Nadja beobachten konnte. Seit ihrer Ankunft saß sie regungslos in der ersten Reihe und las. Hinter ihr stellten die Ordner weiter Stühle auf, rüstige Senioren richteten auf einem Tresen Plastikbecher, Limonaden, Wurst- und Käsebrote an, die freiwillige Feuerwehr baute eine Zapfanlage auf, und erste Zuschauer sicherten...

Erscheint lt. Verlag 13.4.2021
Vorwort Bela B Felsenheimer
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Boxen • Drama • eBooks • Hamburg • Liebesgeschichte • Liebesromane • Million Dollar Baby • Patong • Rocky • Roman • Romane • Sport • Süddeutsche Zeitung • Thailand • Wettboxen
ISBN-10 3-641-26804-4 / 3641268044
ISBN-13 978-3-641-26804-6 / 9783641268046
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