Oberkampf (eBook)
320 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-32162-3 (ISBN)
Hilmar Klute ist Streiflicht-Redakteur der Süddeutschen Zeitung. Er hat einige Bücher veröffentlicht, darunter den zeitkritischen Essay Wir Ausgebrannten (2012). 2015 erschien bei Galiani seine »ebenso kluge wie gründliche und liebevolle« (FAZ) Ringelnatz-Biografie War einmal ein Bumerang. Sein literarischer Debütroman Was dann nachher so schön fliegt erschien 2018 und wurde von der Presse hochgelobt; 2020 folgte der Roman Oberkampf. Hilmar Klute lebt in Berlin.
Hilmar Klute ist Streiflicht-Redakteur der Süddeutschen Zeitung. Er hat einige Bücher veröffentlicht, darunter den zeitkritischen Essay Wir Ausgebrannten (2012). 2015 erschien bei Galiani seine »ebenso kluge wie gründliche und liebevolle« (FAZ) Ringelnatz-Biografie War einmal ein Bumerang. Sein literarischer Debütroman Was dann nachher so schön fliegt erschien 2018 und wurde von der Presse hochgelobt; 2020 folgte der Roman Oberkampf. Hilmar Klute lebt in Berlin.
2
Die Agentur hatte Jonas ebenso schnell abgewickelt, wie er sie fünf Jahre zuvor zusammen mit Corinna aufgebaut hatte. Corinna wollte die leeren Räume nicht sehen, sie halte das nicht aus, hatte sie gesagt, ihr widerstrebe die »kalte Entsorgungssituation«, diese merkwürdige Formulierung hatte sie in einer Mail an Jonas benutzt. Die Computer waren bereits alle verkauft, die weißen Schreibtische mit Klebezetteln versehen. Noch zwischen den Jahren sollte das Mobiliar abgeholt werden, eine Start-up-Firma hatte einen guten Preis dafür geboten. In die Räume würde wieder eine Agentur einziehen, diesmal eine, die Champagner aus aller Welt an Luxus-Caterer vermittelte. Wenn es in dieser Welt keine herkömmliche Arbeit mehr geben sollte, wird es immer noch originelle Köpfe geben, die Angebot und Nachfrage erfinden, dachte Jonas. Und wenn jede herkömmliche Art von Dienst beendet sein wird, werden die Kreativen ihre Fiktion von Arbeit an den Mann bringen. Die leeren Räume kamen ihm auf einleuchtende Weise friedlich vor, so als sei hier die einzig richtige Entscheidung getroffen worden. Fabian hatte einen Computerausdruck mit Anweisungen für die Putzkolonne auf einen der Tische geklebt, Vorsichtsmaßnahmen zum Schutz der Möbeloberflächen und der Elektrik – dieser Mann sorgte noch im Untergang dafür, dass alles mit Präzision und Ordnung vonstattenging.
Jonas setzte sich an seinen Schreibtisch und wählte die Nummer von Richard Stein. Er wusste, dass der Alte erst gegen Mittag ansprechbar war, seine Nächte fielen gemeinhin relativ kurz aus, weil er nicht schlafen konnte und bis in den Morgen las oder fernsah. Zwei- oder dreimal hatte er bereits mit Stein geredet, und jedes Mal hatte Jonas den Eindruck gewonnen, Stein sei nicht überzeugt von ihrem gemeinsamen Vorhaben. Andererseits war er eitel genug, die Aussicht auf eine umfassende Biographie nicht zurückzuweisen. Es galt also, ein Spiel zu spielen, in dem es darum ging, den Narzissmus des Alten als Spielart des Genialen zu begreifen und Stein auch den Eindruck zu vermitteln, dass ein so großes Vorhaben wie das einer Biographie ausschließlich den ganz Großen zustünde. Für Jonas war das Spiel genauso hilfreich, weil er sich den Mann auch ein bisschen größer machen musste, als er eigentlich war. Richard Stein war sein Bewährungshelfer für die Zeit nach den Klugen Köpfen. Er war Jonas’ nächstes »Projekt«, so nannte man ja heutzutage die Verwirklichung von Träumen.
Das erste Mal hatte Jonas ihn vor etwa zwanzig Jahren bei einer Lesung in Köln erlebt. Die Routine, mit der Stein seine Texte las, hatte Jonas damals enttäuscht. Er hatte einen fiebernden Baudelaire erwartet, einen einsamen, leidenschaftlichen Bohemien, der an beiden Enden brannte, wie es manchmal so schön blöd über eigentlich bloß hysterische Menschen hieß. Aber Stein war ein Profi, ein Berufsschriftsteller, der lächelnd Hände schüttelte, Bücher signierte, Fotos anschaute, die Leser ihm hinhielten, und der sich fachmännisch erinnerte, obwohl Stein, jedenfalls hatte Jonas den Eindruck, außer sich selbst keinen Menschen auf diesen Fotos erkannt hatte. Jonas hatte sich kurz zuvor Steins Roman Gewalt gekauft, eine Erzählung von knapp 150 Seiten, in Großdruck und in schönes Leinen eingebunden. Stein fragte ihn, ob er eine Widmung hineinschreiben sollte. Jonas sagte, der Name reiche völlig. Eigentlich brauchte er nicht einmal den Namen, diese elende Widmerei ging ihm schon immer auf die Nerven, warum, bitte, sollte ein Buch mehr wert sein, wenn der Schriftzug des Autors dort hineingekritzelt war? Jonas wollte möglichst nah ran an Richard Stein. Er wollte ihn von Nahem betrachten, ihm für ein paar Minuten in die Augen sehen, um sich auszumalen, wie viel Leben dieser Mann wirklich in seine Bücher gerettet hatte. Natürlich war ein Blick, war ein Gesicht kein Indiz für irgendetwas, das sich im Buch als Wahrheit behauptete. Als Jonas vor dem damals noch nicht alten, aber mit Grandezza alternden Mann stand, kam ihm der einerseits lächerliche, andererseits fabelhafte Gedanke, dass Richard Stein zu schön sei, um auch noch wirtschaftlichen Erfolg zu haben. Mit diesem Mann hatten sich ausschließlich die Musen zu beschäftigen, die Steuerberater durften nicht einmal in seine Nähe geraten. Es konnte nicht sein, dass eine Akademie Richard Stein für seine Bücher mit Preisen auszeichnete. Jonas wünschte sich diesen Schriftsteller als verfluchten und verachteten Poeten, dessen Anhänger ebenfalls als verdächtig zu gelten hatten. Natürlich wusste Jonas, dass es anders war. Jonas hatte jedes Mal aufgelacht, wenn Richard Stein wieder mit einem hoch dotierten Literaturpreis geehrt wurde, seine Bücher von Literaturfonds gefördert und er selbst mit einem Stipendium in Rom oder Kalifornien versorgt wurde. Natürlich kannte er die Lobreden, die Zeugnisse großer internationaler Schriftsteller, die in Richard Stein ein Jahrhundertgenie erkannt hatten und mit eindringlichen Worten vor die lesende Welt traten, um sie zu beschwören, die Bücher dieses Mannes zu kaufen. Einer schlug ihn sogar für den Literaturnobelpreis vor.
Nach der Lesung in Köln wollten die Veranstalter Stein zum Essen ausführen, aber Stein lehnte ab mit dem Verweis auf seine Müdigkeit; er ziehe das Hotel vor, weil er am nächsten Morgen den ersten Thalys nach Paris nehmen müsse. Die Enttäuschung über die Absage war den Leuten wie der Abdruck eines Faustschlags ins Gesicht geschrieben; wie gerne hätten sie sich mit dem schlanken Mann gezeigt, dessen graue Löwenmähne fast bis auf die Schultern reichte; einen Dichter im Maßanzug, und dazu in Deutschland, wo Autoren bestenfalls in Tommy-Hilfiger-Pullis an die Pulte treten und nur dann ein ausgeleiertes Sakko anziehen, wenn sie den Wilhelm-Raabe-Preis bekommen. Richard Stein war perfekte und abweisende Eleganz! Jonas konnte sich nicht vorstellen, dass dieser Mann in Köln in einen dieser küchendunstigen Fressschuppen ging oder in einen Kölsch-Keller, wo der Köbes mit dem Körbchen herumlief und kleine trübe Biere an die Gäste verteilte.
Aber exakt in einem solchen Keller saß Jonas mit dem Dichter – eine Viertelstunde, nachdem Stein seine Gastgeber abgeschüttelt hatte. Es hatte sich einfach ergeben, jedenfalls kam es Jonas so vor. Stein hatte es darauf angelegt, mit Jonas ein Bier trinken zu gehen, das hatte er ihm später einmal gestanden. Irgendetwas habe ihn interessiert an Jonas, wahrscheinlich die Frage, die Jonas ihm nach dem Signieren gestellt hatte, nämlich, ob es eigentlich eine Qual sei, sich sein ganzes Leben lang schreibend mit sich selbst zu beschäftigen.
Jonas erinnerte sich an die verrauchte große Kneipe, an die Japaner, die am Nebentisch Sülze aßen und sich dabei fassungslos ansahen; an die schlagenden Pendeltüren der Toilette, den Essensgeruch und den Zigarrendampf, der von ein paar Corpsstudenten produziert wurde, die sich in ihrer radikalen Gediegenheit groß vorkamen. Richard Stein saß wie ein Modezar vor ihm, im knitterigen Flanellanzug. Das Jackett legte er nach einer Weile ab und hockte dann im fliederfarbenen Hemd da, ein Kölsch nach dem anderen trinkend. Jonas war nicht sicher, ob Stein sich den Anschein des Volkstümlichen geben wollte, um Jonas zu irritieren; aber es war so wenig Aufgesetztes an diesem Mann, der einfach dasaß und Jonas nach seinem Studium ausfragte und wissen wollte, was Jonas demnächst tun werde, wenn er sein Examen hinter sich habe. Schreiben, hätte Jonas jetzt gerne geantwortet. Schreiben wie Sie, mit einem Notizbuch durch die Stadt ziehen und nicht darüber nachdenken, wen das Geschriebene interessieren könnte. Sondern einfach diesen Wahnsinn betreiben, der Wirklichkeit mit einem Notizbuch hinterherzurennen und ihr damit an den Kragen zu gehen. Den Mut zu haben, stärker zu sein als das, was die sogenannten Lebensbedingungen sind. Er wollte keine Bewerbungen schreiben; er wollte sich bei sich selbst bewerben, sein Talent sollte bitte dafür sorgen, dass aus ihm, Jonas, ein Weltenerkunder wurde.
Aber es war nicht einmal ein temporärer Weltenbummler aus ihm geworden; die Studienjahre hatte er fast durchweg in Köln verbracht, der von seinem Geburtsort Duisburg nächstgelegenen Großstadt. Und danach gab es ein paar Assistentenjobs am Germanistischen Institut, Einführungsseminare für Erstsemester, Übungen und ein Archivierungsprojekt in Zusammenarbeit mit dem Kölner Stadtarchiv. Kleine Posten für den Lebenslauf, der bei erfolglosen Menschen länger ausfällt als bei den Glückseligen, die in vier, fünf großen Schritten durchs Leben marschieren. Je mehr Praktikumsstellen eine Vita aufweist, desto geringer ist ihr Wert. Es war kein schlechtes Leben gewesen bis zu den Klugen Köpfen. Jonas war eigentlich immer irgendwo angestellt gewesen, es gab kaum Leerläufe in den vergangenen zwanzig Jahren: Pressesprecher im Kulturamt, Reiseleiter bei Studiosus und ein paar gemütliche Jobs bei verschiedenen Agenturen. Jonas gehörte der Agenturen-Generation an, für jede Sehnsucht gab es irgendwann eine Agentur, später gab es für jede Sehnsucht eine App, aber das begann in der Zeit, als Jonas bereits mit den Klugen Köpfen ein gutes Auskommen gefunden hatte.
An diesem Abend in Köln hatte Richard Stein ihm nichts versprochen und, was Jonas am trübsten empfand: Er hatte ihm kein Versprechen abgenommen. Wenn Richard Stein ihn wenigstens befeuert hätte, selbst zu schreiben, und sei es auch nur, um in einen intensiven Briefwechsel mit ihm zu treten und auf diese Weise einen schönen, aufschlussreichen Nachlassposten im Literaturarchiv Marbach zu bauen! Irgendwann, spät in der Nacht, standen sie vor dem Taxistand, gaben sich die Hand und dann stieg...
Erscheint lt. Verlag | 20.8.2020 |
---|---|
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Ausnahmezustand • Bataclan • Bohème • Charlie Hebdo • Frankreich • Gegenwartsliteratur • Hilmar Klute • Paris • Schriftsteller • Streiflicht • Süddeutsche Zeitung • Terror-Anschlag • Terror-Attentat • Terrorismus • Was dann nachher so schön fliegt |
ISBN-10 | 3-462-32162-5 / 3462321625 |
ISBN-13 | 978-3-462-32162-3 / 9783462321623 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 1,9 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich