1984 (eBook)

Roman. Neu übersetzt von Gisbert Haefs, mit einem Nachwort von Mirko Bonné
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2021 | 1. Auflage
448 Seiten
Manesse (Verlag)
978-3-641-27118-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

1984 -  George Orwell
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«Orwell told the truth.» Christopher Hitchens
Winston Smith ist Mitarbeiter im Ministerium der Wahrheit. Der Held von «1984» macht zwei entscheidende Fehler: Er verliebt sich in seine Kollegin Julia, und er vertraut sich seinem Vorgesetzten an. Das ist im Weltreich Ozeanien eine Todsünde. Orwell, laut «Observer» der größte Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, gelang mit seiner beklemmenden Vision einer Staatsdiktatur, die kein Privatleben duldet, sondern die Gedanken und Gefühle der Bürger bis ins Letzte diktiert, ein Großklassiker der Moderne. - «1984» erscheint nun in einer Neuübersetzung von Gisbert Haefs mit einem exklusiven Nachwort von Mirko Bonné.
Totalitärer Überwachungsstaat, Entmündigung des Individuums, lückenlose Observation und Manipulation, Gehirnwäsche und Geschichtsfälschung - selten hat eine bei Erscheinen noch völlig absurd anmutende Dystopie die Zukunft der Menschheit so exakt und visionär vorhergesagt wie dieser Bestseller aus dem Jahre 1948. Im Lichte von «Social Scoring», wie es in China längst praktiziert wird, haben sich die schlimmsten Befürchtungen des Autors bewahrheitet.

George Orwell wurde 1903 in Motihari/ Bengalen als Sohn eines britischen Kolonialbeamten geboren. Er besuchte Privatschulen in England, diente in der burmesischen Imperial Police, arbeitete als Lehrer und Buchhandelsgehilfe, machte als Vagabund in Südengland und Paris Erfahrungen, kämpfte auf republikanischer Seite im Spanischen Bürgerkrieg und arbeitete als freier Schriftsteller und Journalist. Neben seinen Welterfolgen »Farm der Tiere« und »1984« ist er durch zahllose politische wie literarische Essays bekannt geworden. Er starb 1950 in London.

I


Es war ein klarer, kalter Tag im April, und die Uhren schlugen dreizehn. Winston Smith drückte das Kinn auf die Brust, um dem beißenden Wind zu entgehen, und schlüpfte schnell durch die Glastüren der Victory Mansions, aber nicht schnell genug, um zu verhindern, dass ein Wirbel grobkörnigen Staubs mit ihm hineingelangte.

Im Hausflur roch es nach gekochtem Kohl und alten Fußmatten. An einem Ende hatte man ein buntes Plakat, für Innenräume eigentlich zu groß, an die Wand geheftet. Es zeigte nichts als ein riesiges Gesicht, über einen Meter breit: das Gesicht eines etwa fünfundvierzigjährigen Mannes mit dichtem schwarzem Schnurrbart und markigen, ansehnlichen Zügen. Winston ging zur Treppe. Es mit dem Aufzug zu versuchen war sinnlos. Selbst zu den besten Zeiten funktionierte er selten, und im Moment war der Strom tagsüber abgeschaltet. Das gehörte zu den Sparmaßnahmen in Vorbereitung der Hass-Woche. Die Wohnung lag im siebten Stock, und Winston, neununddreißig Jahre alt und mit einem Krampfadergeschwür über dem rechten Knöchel, ging langsam hinauf und legte mehrere Pausen ein. Auf jedem Absatz starrte gegenüber vom Aufzugsschacht das Plakat mit dem riesigen Gesicht von der Wand. Es war eines jener Bilder, die so angelegt sind, dass einem die Augen bei jeder Bewegung folgen. DER GROSSE BRUDER BEOBACHTET DICH, stand darunter.

In der Wohnung verlas eine sonore Stimme eine Reihe von Zahlen, die etwas mit der Produktion von Roheisen zu tun hatten. Die Stimme kam aus einer länglichen Metalltafel ähnlich einem matten Spiegel, die in die rechte Wand eingelassen war. Winston drehte einen Knopf, und die Stimme wurde etwas leiser, aber die Wörter waren immer noch zu verstehen. Das Gerät (Teleschirm genannt) ließ sich leiser stellen, aber nicht völlig abschalten. Er ging zum Fenster: eine schmächtige, zerbrechliche Gestalt, und der blaue Overall, Uniform der Partei, betonte die Magerkeit seines Körpers nur noch mehr. Sein Haar war sehr hell, sein Gesicht von Natur aus rötlich, die Haut rau von grober Seife, stumpfen Rasierklingen und der Kälte des eben vergangenen Winters.

Selbst durch das geschlossene Fenster wirkte die Außenwelt kalt. Unten auf der Straße wirbelten kleine Windstrudel Spiralen aus Staub und Papierfetzen auf, und trotz des Sonnenscheins und des grellblauen Himmels schien es keinerlei Farben zu geben außer auf den überall angebrachten Plakaten. Das Gesicht mit dem schwarzen Schnurrbart blickte unübersehbar von jeder Ecke. Eines hing an der Fassade genau gegenüber. DER GROSSE BRUDER BEOBACHTET DICH, sagte die Unterzeile, und die dunklen Augen blickten tief in die von Winston. Unten auf Straßenhöhe flappte die losgerissene Ecke eines anderen Plakats stoßweise im Wind, wobei das Wort ENGSOZ abwechselnd bedeckt und enthüllt wurde. In einiger Entfernung kreiste ein Helikopter zwischen den Dächern, schwebte einen Moment lang wie eine Schmeißfliege und flog dann in einem Bogen wieder weg. Es war die Polizeipatrouille, die den Leuten in die Fenster schaute. Die Patrouillen waren jedoch nicht wichtig. Wichtig war allein die Gedankenpolizei.

Hinter Winstons Rücken plapperte die Stimme vom Teleschirm weiter über Roheisen und die Übererfüllung des Neunten Dreijahresplans. Der Teleschirm empfing und sendete gleichzeitig. Der Schirm würde jedes über ein ganz leises Flüstern hinausgehende Geräusch, das Winston machte, auffangen; außerdem war er ebenso zu sehen wie zu hören, solange er im Sichtfeld der Metalltafel blieb. Natürlich konnte man nicht wissen, ob man in einem bestimmten Moment beobachtet wurde. Wie oft oder nach welchem System sich die Gedankenpolizei bei den einzelnen Schirmen einschaltete, ließ sich nur raten. Es war sogar denkbar, dass sie unausgesetzt jeden beobachteten. Jedenfalls konnten sie sich zuschalten, wann immer sie wollten. Man hatte mit der Annahme zu leben – und tat dies aus Gewohnheit, die zum Instinkt wurde –, dass jedes Geräusch, das man machte, abgehört und außer im Dunkeln jede Bewegung überwacht wurde.

Winston wandte dem Teleschirm weiter den Rücken zu. Das war sicherer; allerdings kann, wie er nur zu gut wusste, auch ein Rücken etwas verraten. Einen Kilometer entfernt ragte sein Arbeitsplatz, das Ministerium der Wahrheit, riesig und weiß über der schmutzigen Landschaft auf. Dies, so dachte er mit einer Art von vagem Abscheu – dies war London, die größte Stadt von Flugfeld Eins, der Einwohnerzahl nach drittgrößte Provinz von Ozeanien. Er versuchte, irgendeine Kindheitserinnerung hervorzukramen, die ihm sagen sollte, ob London schon immer so gewesen war. Hatte es immer dieses Panorama verfallender Häuser aus dem neunzehnten Jahrhundert gegeben, die Seiten mit Balken gestützt, die Fenster mit Pappe und die Dächer mit Wellblech geflickt, die schiefen Gartenmauern überall abgesackt? Und die zerbombten Brachen, wo Mörtelstaub in der Luft herumwirbelte und hier und da Weiderich über die Schutthügel kroch; und die Stellen, wo die Bomben größere Flächen eingeebnet hatten und Kolonien trostloser Holzbauten wie Hühnerställe entstanden waren? Aber es hatte keinen Sinn; er konnte sich nicht erinnern: Nichts blieb von seiner Kindheit außer einer Reihe greller Bilder ohne jeden Hintergrund und meistens nicht zu deuten.

Das Ministerium der Wahrheit – Miniwahr auf Neusprech* – war verblüffend anders als jedes andere Objekt in Sichtweite. Es war eine gewaltige Pyramidenkonstruktion aus glänzend weißem Beton und stieg Terrasse um Terrasse dreihundert Meter empor. Von dort, wo Winston stand, konnte man so gerade noch die drei Slogans der Partei lesen, die sich in eleganten Lettern von der weißen Fassade abhoben:

KRIEG IST FRIEDE

FREIHEIT IST KNECHTSCHAFT

UNWISSEN IST STÄRKE

Das Ministerium der Wahrheit bestand, wie es hieß, aus dreitausend oberirdischen Räumen und entsprechenden Verzweigungen unter der Erde. In ganz London gab es nur drei weitere Gebäude ähnlicher Art und Größe. Sie beherrschten die umgebende Architektur so vollständig, dass man vom Dach der Victory Mansions aus alle vier gleichzeitig sehen konnte. Sie waren die Sitze der vier Ministerien, auf die der gesamte Regierungsapparat aufgeteilt war: das Ministerium der Wahrheit, das sich mit Nachrichten, Unterhaltung, Bildung und Kultur befasste; das Ministerium des Friedens, zuständig für Krieg; das Ministerium der Liebe, das Recht und Ordnung hütete; und das Ministerium der Fülle, verantwortlich für wirtschaftliche Belange. Auf Neusprech lauteten ihre Namen Miniwahr, Minifried, Minilieb und Minifüll.

Schrecken flößte vor allem das Ministerium der Liebe ein. Es hatte überhaupt keine Fenster. Winston war nie im Ministerium der Liebe gewesen, nicht einmal auf einen halben Kilometer herangekommen. Außer in offiziellen Angelegenheiten war es unmöglich, dort hineinzugelangen, und auch dann nur, indem man ein Labyrinth aus Stacheldrahtverhauen, Stahltüren und Maschinengewehrnestern durchquerte. Sogar durch die zu den äußeren Schanzen führenden Straßen patrouillierten Wachen mit Gorillagesichtern; sie trugen schwarze Uniformen und waren mit mehrgliedrigen Schlagstöcken bewaffnet.

Winston drehte sich abrupt um. Er hatte eine Miene von ruhigem Optimismus aufgesetzt, die im Bereich des Teleschirms zu zeigen ratsam war. Er ging durchs Zimmer zur kleinen Küche. Zu dieser Tageszeit aus dem Ministerium fortzugehen hieß, auf das Essen in der Kantine zu verzichten, und er wusste, dass in der Küche nichts Essbares war außer einem Stück Schwarzbrot, das es für das morgige Frühstück aufzuheben galt. Er holte eine Flasche mit farbloser Flüssigkeit aus dem Regal; auf dem schlichten weißen Etikett stand VICTORY GIN. Der sonderte einen üblen öligen Geruch ab, ähnlich chinesischem Reisschnaps. Winston goss eine Teetasse fast voll, wappnete sich gegen den Schock und kippte alles hinunter wie eine Dosis Medizin.

Sein Gesicht wurde sofort dunkelrot, und das Wasser schoss ihm aus den Augen. Das Zeug schmeckte wie Salpetersäure, und außerdem hatte man beim Schlucken das Gefühl, eins mit dem Gummiknüppel auf den Hinterkopf zu bekommen. Im nächsten Moment ließ jedoch das Brennen im Magen nach, und die Welt begann fröhlicher auszusehen. Aus einem zerknüllten Päckchen mit der Aufschrift VICTORY CIGARETTES zog er eine Zigarette und hielt sie unvorsichtigerweise senkrecht, woraufhin der Tabak zu Boden rieselte. Mit der nächsten hatte er mehr Glück. Er ging zurück ins Wohnzimmer und setzte sich an einen kleinen Tisch links vom Teleschirm. Aus der Schublade nahm er einen Federhalter, ein Fläschchen Tinte und ein dickes Quartheft mit rotem Rücken und marmoriertem Einband.

Aus irgendeinem Grund war der Teleschirm im Wohnzimmer an einer ungewöhnlichen Stelle angebracht. Statt wie üblich an der Kopfseite, von wo aus er den ganzen Raum beherrscht hätte, war er in die Längswand eingelassen, dem Fenster gegenüber. Auf einer Seite gab es einen kleinen Alkoven, in dem Winston jetzt saß; als die Wohnungen gebaut wurden, hatte er wohl ein Bücherregal aufnehmen sollen. Wenn er im Alkoven saß und sich zurücklehnte, konnte Winston außerhalb der Reichweite des Teleschirms bleiben, was die Sicht anlangte. Natürlich konnte man ihn hören, aber solange er in dieser Position verharrte, war er nicht zu sehen. Zum Teil hatte ihn die ungewöhnliche Ausgestaltung des Raums zu dem angeregt, was er nun tun wollte.

Angeregt worden war er aber auch von dem Buch, das er gerade aus der Schublade geholt hatte. Es war ein besonders...

Erscheint lt. Verlag 18.1.2021
Reihe/Serie Penguin Edition
Nachwort Mirko Bonné
Übersetzer Gisbert Haefs
Sprache deutsch
Original-Titel 1984
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1984aesthetic • Bestseller Schweiz • Booktok • China • Diktatur • Donald Trump • dystopianbooks • Dystopie • dystopie fantasy • eBooks • Geheimdienst • Manipulation • NSA • Roman • Romane • Social Scoring • TikTok • Überwachung • Überwachungsstaat • Zukunftsvision
ISBN-10 3-641-27118-5 / 3641271185
ISBN-13 978-3-641-27118-3 / 9783641271183
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