Eine Formalie in Kiew (eBook)

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2021
176 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27015-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Eine Formalie in Kiew - Dmitrij Kapitelman
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Dmitrij Kapitelman erzählt von einer Familie, die in die Fremde zog, um ein neues Leben zu beginnen, und am Ende ohne jede Heimat dasteht. 'Erst durch dieses Buch ist das Verstehen der Migration, des Nicht-Dazugehörens und des Dazwischen möglich.' Olga Grjasnowa
'Eine Formalie in Kiew' ist die Geschichte einer Familie, die einst voller Hoffnung in die Fremde zog, um ein neues Leben zu beginnen, und am Ende ohne jede Heimat dasteht. Erzählt mit dem bittersüßen Humor eines Sohnes, der stoisch versucht, Deutscher zu werden.
Dmitrij Kapitelman kann besser sächseln als die Beamtin, bei der er den deutschen Pass beantragt. Nach 25 Jahren als Landsmann, dem Großteil seines Lebens. Aber der Bürokratie ist keine Formalie zu klein, wenn es um Einwanderer geht. Frau Kunze verlangt eine Apostille aus Kiew. Also reist er in seine Geburtsstadt, mit der ihn nichts mehr verbindet, außer Kindheitserinnerungen. Schön sind diese Erinnerungen, warten doch darin liebende, unfehlbare Eltern. Und schwer, denn gegenwärtig ist die Familie zerstritten.

Dmitrij Kapitelman, 1986 in Kiew geboren, kam im Alter von acht Jahren als »Kontingentflüchtling« mit seiner Familie nach Deutschland. Er studierte Politikwissenschaft und Soziologie an der Universität Leipzig und absolvierte die Deutschen Journalistenschule in München. Heute arbeitet er als freier Journalist. 2016 erschien sein erstes, erfolgreiches Buch 'Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters', für das er den Klaus-Michael Kühne-Preis gewann. 2021 folgte 'Eine Formalie in Kiew', für das er mit dem Buchpreis Familienroman der Stiftung Ravensburger Verlag ausgezeichnet wurde.

Verfliegende Landsleute


Viel zu früh am Abfluggate in Leipzig und allein zwischen den leeren Sitzreihen, kommt mir ein Rat meiner Mutter in den Sinn. Ein ukrainischer Rat, eigentlich eher ein Verbot. Ich musste es seit Ewigkeiten nicht mehr bedenken, es war nicht nötig hierzulande.

In meinem ersten Leben aber, meinem ersten Land, schlenderten wir durch die Straßen Kiews, als mich Mama ruckartig anhielt. Ich war bedenkenlos auf einen Gullydeckel getreten. Damals-Mama beugte sich herunter, sah mir ernst in die Augen und sprach: »Zaja«, mein Häschen, »in diesem Land darfst du niemals auf Gullydeckel treten, hörst du? Du weißt nie, ob sie festgeschraubt sind, und dann fällst du rein und kommst nie wieder zu uns hoch! Versprich mir, dir das zu merken.«

Offenbar habe ich mein Versprechen gehalten. Das ist schon mal etwas, das uns unterscheidet.

»Achtung, eine Durchsage für Passagiere von Ukraine International Airlines. Flug D328 nach Kiew verzögert sich um voraussichtlich zwei Stunden. Wir bitten dies zu entschuldigen und danken für Ihr Verständnis.«

Meine deutschen Landsleute fuchteln verständnislos mit den Armen. Meine ukrainischen Landsleute zucken nur ungerührt mit den Schultern, wenig überrascht von der zweistündigen Verspätung unseres planmäßig zweistündigen Flugs. Ich hatte mich schon gewundert, warum die alle so spät zum Boarding eintrudeln. Dabei taten sie nur, was Ukrainer täglich tun — nicht an die Ukraine glauben. Als einer, der die postsowjetische Staatssäure mit der Muttermilch aufsog, hätte ich das eigentlich wissen müssen.

Mama, warum können Kanalisationsdeckel in Kiew fatale Fallen sein? Weil es die Ukraine ist. Warum kommt die Feuerwehr nicht, um einen wieder rauszuholen? Weil es die Ukraine ist. Wieso ist die Luft radioaktiv, die Chirurgin betrunken, der Notar ebenso, der Briefträger Analphabet, der Straßenhund auf nur einem Ei kastriert und jede Präsidentin am Ende der Amtszeit steinreich? Weil es die Ukraine ist, Stupid.

Und genau dorthin muss ich nun zurück, um jemanden zu bestechen. Keinen Schimmer, wen. Ich weiß nur, dass irgendjemand geschmiert gehört. Nur so kann ich deutscher Staatsbürger werden. Legal geht es nicht, auch nicht nach einem Vierteljahrhundert als hiesiger Landsmann.

Aber alles der rechtmäßigen Reihe nach.

Vor einer Weile beschloss ich also, endlich die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen. Auf einer von sibirischen Katzen vollgepissten Treppe hockend. In die Märzsonne blinzelnd, existenzielles Mittelfeld, etwas verlassen vielleicht. An jenem Tag auf der Treppe eröffnete ich mir selbst, dass es nun so weit sei. Zeit, den offiziellen deutschen Stempel zu holen, den mir die Jahre längst aufgedrückt hatten. Wie kompliziert konnte das schon sein, bei meinem Werdegang? 1994 im Alter von acht Jahren immigriert, deutsch eingeschult, sozialisiert, studiert. Berufstätig, steuerpünktlich, verfassungspatriotisch. Nicht zu vergessen hellhäutig, das bürgert hierzulande besonders verlässlich ein. Stets meine Einkäufe in weniger als sieben Sekunden verstauend, so wie es in diesen Gefilden Brauch ist seit jeher. Manchmal vermute ich, dass sogar Frau Kunze, meine Sachbearbeiterin bei der Ausländerbehörde, mich insgeheim für einen Deutschen hält. Dass sich in Gestalt von uns beiden einfach zu viele kulturelle und kommunikative Übereinstimmungen gegenübersitzen, als dass sie behaupten könnte, ich sei nicht imstande, so deutsch zu sein wie sie. Wenn alles gesagt und geschmiert ist, werde ich Frau Kunze mal fragen, ob meine Vermutung stimmt.

Früher tönte ich, mein Gesicht niemals unter einem Bundesadler sehen zu wollen. Und behauptete, es sei wegen der Shoa und der blutrünstigen Neonazis, die uns durch Leipziger Plattenbausiedlungen gejagt haben. Wegen der Zigaretten, die sie lachend an uns ausdrückten, den Kampfhunden, die sie auf uns hetzten, den Pistolen, die sie uns beim Eisessen am Kulkwitzer See an den Kopf hielten. Und den deutschen Polizisten, die nie etwas gegen die deutschen Nazis taten. Aber das war glatt gelogen. Ich war einfach zu faul für den ganzen Papierkram bei der Ausländerbehörde. Dem Dummdödel von damals war schlicht nicht klar, wie krass ein deutscher Ausweis privilegiert, wie sehr er das Leben erleichtert.

In fast alle Länder der Welt reisen können, ohne Visaanträge! Während ich als Ukrainer nach einem Vierteljahrhundert immer noch der Residenzpflicht unterliege und theoretisch nicht mal in einem anderen Bundesland als Sachsen wohnhaft gemeldet sein darf. Im Alltag kommt zwar kein Beamter darauf, mich auf unbefugtes Bundesland-Hopping zu überprüfen. Ich habe ja einen gewinnenden Mantel an und blaue Augen. Aber die gesetzliche Grube im Hinterkopf ist dennoch tief. In dieser Grube gibt es weder Freiheit noch Gleichberechtigung. Nicht mal bei den banalen Belangen. Der kaltfüßige, hadernde Blick der Vermieterin mit Perlenkette, wenn ich meinen ukrainischen Ausweis bei der Mietvertragsunterzeichnung auspacke. Als hätte ich ihr durch Aussehen und Sprache bis dahin etwas vorgemacht.

Über eine rote Ampel gehen, von der Polizei erwischt und unter Inländerkriminalität vermerkt werden. Aus dem Urlaub heimkommen, ohne dass die Bundespolizisten einen beäugen wie die personifizierte Armutsmigration. Endlich eine Stimme gegen die Faschisten in die Urne schmettern: Wählen dürfen! Das sind die Dinge, die zählen! Ukrainisch-russisch-jüdisch-deutsch, solche Identitätsoberflächen haben mich früher gejuckt, als ich dreißig und noch jünger war. Jetzt bin ich viel älter (zweiunddreißig) und weiser. Ich will ein administrativ möglichst komfortables Dasein fristen, mit so wenig bürokratischem Ballast und Begrenzungen wie möglich. Stattdessen verspüre ich eine Art zeitgeschichtlichen Eispickel im Rücken. Wer weiß, wie weit die Faschisten in Deutschland noch von der Macht entfernt sind, liebe Landsleute. Ihre Partei erhält immer mehr Stimmen. Möglich, dass Deutschsein bald wieder offiziell über Blut, Farbe, Parteibuch und Religion definiert wird. Dann ist es zu spät für mich. Ich sage es ja nicht gern, aber mit einem deutschen Pass ließe sich Deutschland notfalls sogar mit mehr Optionen verlassen. Und damit es nicht so weit kommt, benötigt dieses verwundete Land neue Demokratiedeutsche wie mich. Wir sind Frischluft, da stimmen Sie mir doch sicherlich zu? Unter uns gesprochen: Frischluft ist eine fast so feine deutsche Vokabel wie Fruchtfleisch.

Ich vereinbarte also einen Termin bei der Ausländerbehörde Leipzig und saß bald Frau Kunze im Raum B.106 des Technischen Rathauses gegenüber. »Immor harrainspoziert«, rief sie im sächsischen Singsang, grüßend und maßregelnd zugleich.

Akte auf: Kunze.

Nationalität: Sächsisch.

Geboren: Vor etwa fünfzig Jahren.

Körpergröße: In wohlständigem Maße vorhanden.

Grundhaltung: In Routine zu glaubhafter Freundlichkeit gereift.

Äußere Auffälligkeiten: Großes Grübchen, eigentlich eher ein senkrechter Grübchenstreifen, in der Mitte des Kinns. Bernsteinkettchen.

Ich hätte spielend leicht mit einem Nu, abor frailisch spiegelsächseln können. Einfach um zu sehen, wie die Güdste reagiert. Aber wozu? Unser erstes Aufeinandertreffen dauerte ohnehin nicht lange. Frau Kunze händigte mir ein Antragsformular und Merkblätter zu den geforderten Unterlagen aus. Ganz behände. Bis ich alles beisammenhatte, was verlangt wurde, dauerte es dann allerdings eineinhalb Jahre.

Auf die zwei Stunden Warterei am Flughafen kommt es jetzt also auch nicht mehr an, denke ich und zucke mit einer gelassenen restukrainischen Schulter, als Otez, mein Vater, mich anruft. Das tat er früher jeden Tag, zuletzt jedoch kaum noch. Weil ich meistens nicht rangehe. An jenem sonnigseltsamen Tag auf der Treppe traf ich auch die Entscheidung, nicht mehr mit meinen Eltern zu reden. Vielleicht traf sie auch eher mich — unvermittelt und doch überfällig.

Moment mal: eineinhalb Jahre, um alle Unterlagen zu besorgen? Ist es wirklich dermaßen kompliziert? Sie wundern sich vielleicht, liebe Landsleute. Was muss man überhaupt beweisen, um Deutscher zu werden? Und was hat das bitte mit Korruption in Kiew zu tun?

Nun, hauptsächlich geht es bei einem Einbürgerungsantrag darum, zu belegen, dass man Geld hat. Armut ist das absolute Ausschlusskriterium, der Staat holt sich keine strukturelle Schwäche in den Volkskörper. Arbeitsverträge, Steuerbescheide, Kontoauszüge, Mietauskünfte und diverse Versicherungspolicen, sehr viele Versicherungspolicen — das macht den Ausländer nachträglich deutsch.

Ein wenig kommt es auch auf den Charakter des Prätendenten an. Weshalb sonst wird ...

Erscheint lt. Verlag 25.1.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Ausländerbehörde • Auswandern • Beamte • Bestechung • Bürokratie • Erinnerung • Familie • Geburtsstadt • Gully • Hotel Ukraina • Identität • Jüdisch • Kanalisationsdeckel • Katze • Kiew • Kindheit • Korruption • Krim • Landsleute • Leipzig • Migration • #ohnefolie • ohnefolie • Oligarch • Pass • Postsowjetisch • Reise • Russisch • Sachsen • Sowjetunion • Sprache • Staatsbürgerschaft • Ukraine • Ukraine-Airlines • Ukrainisch • Visum
ISBN-10 3-446-27015-9 / 3446270159
ISBN-13 978-3-446-27015-2 / 9783446270152
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