Gesammelte Erzählungen (eBook)

Stefan-Heym-Werkausgabe

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
624 Seiten
C. Bertelsmann (Verlag)
978-3-641-27843-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Gesammelte Erzählungen -  Stefan Heym
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Ein Querschnitt durch ein einzigartiges Schriftstellerleben
Diese Zusammenstellung der Erzählungen von Stefan Heym gibt einen repräsentativen Querschnitt durch ein einzigartiges Schriststellerleben. Wie kaum ein anderer mußte Heym Unrecht, diktatorische Gewaltanmaßung und Verfolgung erleben. Er floh vor den Nazis, vor McCarthy, und auch in der DDR war er den Machthabern immer unbehaglich. Die Erzählungen geben allein durch die Orte, an denen sie entstanden sind, ein Abbild seiner Biographie. Sie zeugen zudem von der Entwicklung des Autors Heym, eines Sich-Vergewisserns der schriftstellerischen Mittel. Und nicht zuletzt ist seinen Texten der menschliche Blick jenseits ideologischer Gewissheiten eigen, den Heym sich allen Widrigkeiten zum Trotz bewahrt hat.

Diese Ausgabe wurde um die bisher unveröffentlichten Erzählungen »Bericht über eine Literaturkonferenz« und »Der Urenkel« erweitert.

Stefan Heym, 1913 in Chemnitz geboren, emigrierte, als Hitler an die Macht kam. In seiner Exilheimat New York schrieb er seine ersten Romane. In der McCarthy-Ära kehrte er nach Europa zurück und fand 1953 Zuflucht, aber auch neue Schwierigkeiten in der DDR. Als Romancier und streitbarer Publizist wurde er vielfach ausgezeichnet und international bekannt. Er gilt als Symbolfigur des aufrechten Gangs und ist einer der maßgeblichen Autoren der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Er starb 2001 in Israel. »Gesammelte Erzählungen« erscheint im Rahmen dieser Werkausgabe erstmals als E-Book.

Golem anno 35


Professor G., der Röntgenologe, drehte sich aufatmend um und sagte zu seiner Assistentin: »Bitte, meine Liebe, reichen Sie mir doch die Zigaretten herüber.« Er zündete sich eine an. »So weit wären wir fertig mit dem Kerl. Die objektiven Voraussetzungen des Lebens sind da. Chemisch wenigstens. Die Zusammensetzung der Materie entspricht genau der der lebenden Zellen. Fehlt nur noch das Leben selbst …«

»Warum haben Sie eigentlich den Haufen Materie wie einen Menschen geformt?« fragte die Assistentin.

Der Professor blieb eine Weile stumm, dann sagte er heiser: »Ach – eigentlich unbewußt. Spielerei. Atavistische Erinnerungen.«

Die Assistentin lächelte. Sie wußte, es war mehr. Sie glaubte an die Genialität ihres Lehrers.

»Schalten Sie den Strom ein«, befahl der Professor übertrieben ruhig.

Sie spürte, er wollte, daß seine Ruhe sich auf sie übertrage. Trotzdem zitterten ihre Hände, als sie den Haupthebel nach unten drückte, als der Strom knisternd durch die Transformatoren fuhr und durch die gläserne Isolierschale, unter der der menschenähnliche Kloß gehäufter Chemikalien lag, ein dünnes bläuliches Strahlen zu sehen war.

Von irgendwoher schlug es elf Uhr. »Gehen Sie jetzt«, sagte Professor G. »Sie haben fünfzehn Stunden Arbeit hinter sich. Sie werden jetzt zwei Stunden schlafen, dann kommen Sie, mich abzulösen.« Er erwartete, daß sie sich fügen werde. Wortlos drehte er an einem Regulator. Das Licht unter dem Glase wurde rötlich. »Also, in zwei Stunden!«

Die Assistentin ging ins Nebenzimmer und warf sich aufs Sofa. Plötzlich spürte sie die Müdigkeit, die sich den ganzen spannenden Tag nicht bemerkbar gemacht hatte, wie ein schweres Gewicht auf ihrem Gehirn. Doch konnte sie nicht schlafen. Nebenan geschah vielleicht das Wunder! Dann zogen ihr allerhand Gedanken durch den Kopf. Der junge Schriftsteller Landau, der sie liebte und noch weniger Geld hatte als sie, weshalb sie so vernünftig war, ihm nein zu sagen. Der Professor, der seinem Lebenserfolg entgegenwartete – vielleicht fiel auch für sie etwas ab. Und dann … Nein, sie konnte nicht schlafen. Sie zählte die Minuten. Die Viertelstunden. Punkt eins öffnete sie die Tür zum Laboratorium.

Das Licht unter dem Glas war jetzt von grünlich-gelber Farbe, der Kloß schien dunkelrot zu glühen. Die Funken, die von Pol zu Pol sprangen, gaben ein ziehendes, sirrendes Geräusch von sich.

Der Professor sah gespannt auf sein Werk. »Noch nichts«, konstatierte er. »Wir haben jetzt achttausend Volt.«

Die Assistentin prüfte die Luft. Ein leichter Ätherdunst war zu spüren. »Was ist das?« fragte sie.

»Die Luft verändert sich bekanntlich ein wenig bei derart starken elektrischen Energien«, dozierte der Professor milde. »Nichts Beunruhigendes. Sie müssen aufpassen, daß die Farbe der Materie nicht noch heller wird. Dann beginnt der Verbrennungsprozeß. Sollte sich die Farbe also zu verändern anfangen, gehen Sie sofort mit dem Strom herunter. Im übrigen rufen Sie mich – Sie wissen schon, wann …«

Die Assistentin nickte. Das Wunder!

Sie saß im Stuhl und wartete. Der Ätherdunst war angenehm. Wie ein milder Rausch. Sie fühlte sich froh und leicht, zum Schweben leicht. Eben wollte sie, nur auf ein paar Sekunden, die Augen schließen, da rührte sich der Kloß. Plötzlich waren Augen da, kleine, stumpfe Augen. Hände, die nach irgend etwas tasteten. Ganz leicht hoben sie den gläsernen Sarg – das Lebewesen richtete sich auf, mit einer Handbewegung schob es die einhüllenden Strahlen beiseite, der Strom war unterbrochen, es wurde ganz still.

Mitten in die Stille hinein räusperte sich der Kloß. »Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle?« Er sprach etwas mittelalterlich, aber sonst ganz normal. »Josef Habakuk Golem. Zur großen Familie der Golems gehörig. Sie werden von uns gehört haben?«

Die Assistentin war platt. Sie konnte nur nicken.

»Haben Sie hier immer so schlechte Luft?« fragte er. »Gehen wir ein bißchen auf die Gasse. Aber bitte nicht ins Ghetto. Mein Cousin erzählte mir, wie museal es da früher war. Jetzt ist ja nichts mehr los. Und die schäbigen Reste sind so langweilig …« Er war schon auf dem Vorsaal, zog sich den Pelz des Professors an und setzte den grauen Schlapphut auf. »Machen Sie sich ruhig erst fertig. Bißchen Rouge auf die Lippen, Nase pudern – ich habe Zeit.«

Die Assistentin gehorchte wortlos. Dann nahm der Kloß ihren Arm, schloß vorsichtig die Wohnungstür hinter sich – »der Alte muß ja nicht gleich wissen, daß wir uns ein bißchen amüsieren gegangen sind, nicht? Wenn man so jahrelang nur von Legende gelebt hat, ist man etwas hungrig nach solideren Genüssen. Verstehen Sie?«

Sie gingen durch die nächtlichen Straßen. In dem frisch gefallenen Schnee hinterließen die Füße Josef Habakuk Golems merkwürdig plumpe Spuren. Die zierliche Assistentin verschwand fast neben seiner Riesenfigur.

»Mein Cousin hat mir viel von der kleinen Loew erzählt«, begann der Golem die Konversation. »Sie war nicht größer als Sie – wie heißen Sie übrigens? Margit. Sehr hübscher Name. Ja. Wer die kleine Loew war? Mein Gott, die Tochter vom Rabbiner, Sie wissen doch. Sie war ein bißchen spröde, das lag in der Zeit – immer mußte gleich geheiratet werden. Und mein Vetter hatte doch bloß die alte Formel und keine richtigen Papiere. Mit Papieren, und wenn er ein solides Geschäft gehabt hätte, wäre alles in Butter gewesen. Aber so? – Heute sind die Mädchen Gott sei Dank etwas aufgeklärter. Haben Sie übrigens Geld für ein Taxi? Nein? Ich leider auch nicht. Ich finde es unverantwortlich von den Herrschaften, die uns da auf die Welt bringen, daß sie uns nicht gleichzeitig ein paar Tausender mitgeben. Na, im Lokal wird’s schon gehen. Notfalls box ich ein paar Kellner nieder. Muskeln haben wir Golems ja alle. Fühlen Sie mal!«

Die Assistentin fühlte. Das war ja allerhand. Da konnte der schwächliche Landau nicht mit. Ihr wurde ganz anders.

Josef Habakuk Golem schwadronierte weiter. »Ich habe so meine Pläne«, sagte er. »Wenn ich nicht zum Militär muß – aber Ihr Professor hat mir ja dankenswerterweise die plattesten Plattfüße, die man sich denken kann, angeformt –, also dann geh ich zum Varieté. Der echte Golem! Wenn das nicht zieht! Bloß den richtigen Manager müßte man haben … Und dann kriegen Sie immer Freikarten. Sie und Ihr Freund – Sie haben doch einen?«

Die Assistentin verneinte. Der arme Landau war vollkommen vergessen neben diesem riesenhaften, imposanten Mann.

»So? Das ist aber traurig. Die kleine Loew hatte auch keinen. Sie war ein bißchen eingebildet. Und wenn die Weiber eingebildet sind, kann’s ihnen nur ein Mann recht machen, der sie alle vierzehn Tage gründlich ohrfeigt. Jaha – wenn ich mein Vetter gewesen wäre! Aber der war etwas beschränkt, müssen Sie wissen. Der hatte ja nur die Formel, während ich sehr komplizierte Strahlen habe. Das ist ein Unterschied! Daher kam all das Unglück. Wenn ich mein Vetter gewesen wäre, ich hätte mich einen Dreck um die kleine Loew gekümmert, ich hätte eine begüterte Witwe geheiratet, eine, die keine Komplexe, aber sonst alles hat – na, und was meinen Sie, was ich für ein braver Steuerzahler gewesen wäre, damals, wo’s doch keine Krise gab? – Heute muß man sehen, daß man sich durchschlägt, wie es eben geht …«

An der Ecke stand ein Würstelmann. Golem ging hin, sah ihn sehr von oben herab an, zeigte seine Faust, nahm sich zwei Paardln und eine Schachtel Memphis und begann sich seines Lebens zu freuen.

»Sie sind eigentlich verdammt hübsch, Margit«, konstatierte er kauend. »Entschuldigen Sie, daß ich Ihnen nichts anbiete – aber wenn man so lange nichts gegessen hat. Und mehr wollte ich dem Armen doch nicht stehlen …« Aber eine Zigarette steckte er ihr zwischen die Lippen. »Ich hätt nicht übel Lust, mit Ihnen was anzufangen, Margit. Ziehen Sie kein Gesicht. Ich weiß schon, Sie denken: So plötzlich kann man doch nicht! – Schauen Sie, ein Golem weiß nie, wie lange er lebt. Da muß man sich rasch entschließen. Da kann man nicht vier Wochen erst schöne Augen machen und dann Hände küssen und die ganzen lächerlichen Umstände … Wo gehen wir eigentlich hin?«

Margit wußte es nicht.

Der Golem blies überlegend Rauch durch die Nase. »Zu Zeiten meines Cousins war neben dem jüdischen Rathaus eine ganz nette Kneipe, aber nicht sehr anständig – weibliche Bedienung, Sie verstehen? Manchmal waren die ganzen Honoratioren des Ghettos da und rissen aus, wenn mein Vetter hereinkam. Sie dachten, der Rabbiner habe ihn geschickt, um sie zu kontrollieren … Dabei wollte mein armer Vetter nur in Ruhe sein Pilsner trinken und seinen Schmerz wegen der kleinen Loew ausweinen – die Kellnerinnen haben ihn denn ja auch getröstet … Nur, ich glaube, man wird unnötigerweise auch diese Kneipe applaniert haben. Wissen Sie was? Gehen wir einfach die Fochova-Straße hinunter. Irgendwo wird schon was sein.«

Josef Habakuk Golem legte seinen schweren Arm um Margits schmale Schultern. Ihr wurde angenehm warm. Das waren die komplizierten Strahlen, dachte sie.

»Sie kommen wohl überhaupt nicht viel in Lokale?« fragte er weiter. »Leben ganz der Arbeit? Das ist ja sehr brav, aber Sie sollten auch etwas Abwechslung haben. Immerzu den alten Professor um sich – da wär ich lieber wieder ein Chemikalienkloß. Aber da werden wir schon Abhilfe schaffen, kleine Margit, was?«

Sie bogen...

Erscheint lt. Verlag 13.9.2021
Reihe/Serie Stefan-Heym-Werkausgabe, Erzählungen
Übersetzer Stefan Heym
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bericht über eine Literaturkonferenz • Berlin • Chicago • eBooks • Gesamtausgabe • Große Veränderungen bieten große Gegenheiten • New York • Prag • Roman • Romane • Schmähschrift • Stefan Heym Werkausgabe • Wachsmuth-Syndrom • Werkausgabe
ISBN-10 3-641-27843-0 / 3641278430
ISBN-13 978-3-641-27843-4 / 9783641278434
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