Revolution morgen 12 Uhr (eBook)

Roman

(Autor)

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2021 | 1. Auflage
224 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-2784-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Revolution morgen 12 Uhr - Minu D. Tizabi
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Es könnte der perfekte Sommer sein: Sean ist Anfang 20, jeder Tag ist ein neuer Hitzerekord, und in wenigen Wochen geht die Fußball-Weltmeisterschaft endlich los. Aber anstatt das Leben zu genießen, ist Sean am Tiefpunkt angekommen: er sitzt mit Depressionen in der Psychiatrie fest, und sein Herz rast von einer Panikattacke zur nächsten. Das einzige, woran er sich festhält, sind die seit Monaten allabendlich eintreffenden mysteriösen Anrufe aus Frankreich. Sie lotsen Sean und seine neuen Freunde aus der Psychiatrie schließlich auf eine lebensverändernde Odyssee über Berlin nach Paris - quer durch ein Europa, dessen Pflaster im Sommer 2018 in jeder Hinsicht ein heißes ist. Minu Tizabi erzählt mit viel Humor und Klugheit von der Magie des Zufälligen, vom Erwachsenwerden, wenn man die Dinge etwas anders wahrnimmt, und davon, wie eben wirklich alles mit allem zusammenhängt.



Minu Dietlinde Tizabi wurde, begleitet von großem Medieninteresse, im Alter von 14 Deutschlands jüngste Abiturientin. Anschließend studierte sie Medizin in Heidelberg, woraufhin sie mit 22 Deutschlands jüngste Ärztin wurde. Seit ihrer Kindheit schreibt sie auf Deutsch und Englisch. 'Revolution morgen 12 Uhr' ist Minu Tizabis Debütroman.

RAUM, DER. SUBSTANTIV. Du stehst in einem Raum und hast die Augen geschlossen. Du bist vollkommen frei. Solange du sie nicht öffnest, kann das jeder Raum sein. Das Leben oder sogar der Tod. Solange du die Augen nicht öffnest, ist alles möglich.

1. Kapitel
Tropfendes Gold


Ich öffne die Augen.

Glücklicherweise passt er gerade noch so durch den Türrahmen. Keuchend bewegt er sich auf den Heißwasserautomaten zu und pult mit den wurstigsten Fingern, die ich je gesehen habe, einen orangefarbenen Teebeutel aus der Packung. Das will was heißen, bin schließlich selbst übergewichtig.

»He, macht dieser Tee glücklich?«

Da haben wir’s, denke ich. Mein erster Verrückter.

Ich bediene mich einer aufgesetzten Umgänglichkeit, die ich mir extra für Situationen wie diese zurechtgelegt habe.

»Ich weiß nicht, hab ihn noch nicht probiert. Vielleicht.«

»Aber gell, der macht glücklich?«

»Wie gesagt, ich kenn den nicht.«

»Wie heißt du? Erwin heiße ich. Weißt du, mein Bruder, der fehlt mir halt.«

Ich habe es auf den Platz am Fenster abgesehen und versuche, mich an Erwin vorbeizuquetschen, doch es ist unmöglich. Etwas unbeholfen weicht Erwin zurück und lässt mich passieren. Gleich darauf setzt er sich auf den Stuhl zwischen Spüle und Esstisch und versperrt mir damit den Rückweg.

»Weißt du, der fehlt mir halt, mein Bruder.«

»Das – das tut mir leid. Meiner auch.« Wieder so ’ne Halbwahrheit.

»Wie heißt du?«

Noch ehe ich antworten kann, schwingt die Tür auf, und ein Mädchen mit zusammengebundenen dunkelbraunen Haaren kommt rein, um sich am Wasserspender eine der mit Namen beschrifteten Klinikflaschen abzufüllen.

»Semra! Semra! Weißt du, mein Bruder, der fehlt mir halt.«

»Hm, ja, ich weiß«, sagt sie, ohne aufzusehen.

Ich räuspere mich. »Äh, hallo. Ich bin Sean.«

Sie schaut kurz zu mir rüber. Ausdrucksloses Gesicht, dicke Brille. »Hallo Sean«, sagt sie in einer Stimme, die so ebenmäßig ist, dass sie computergeneriert sein könnte.

»Das ist die Semra«, sagt Erwin und glotzt abwechselnd sie und mich an. »Semra ist ’ne Frau. Ich bin ein Mann. Und du bist auch ein Mann.«

»Ich weiß«, sage ich etwas unkomfortabel.

Semra dreht ihre Flasche zu und verlässt den Raum. Wieder Stille. »Ja, weißt du, mein Bruder …«

»Ja, geht mir auch so.«

Erwin starrt noch eine Weile rüber, dann steht er umständlich auf. Sein olivgrünes T-Shirt reicht nicht ganz über seinen Bauch, ich kann seinen Nabel sehen. Er dreht sich um, greift sich einen Teller von der Spüle und dann, oh mein Gott, beugt er sich runter zum Kühlschrank.

Was jetzt kommt, würde man im Land meines Vaters Mooning nennen (die deutsche Sprache hat dafür leider keine so prägnante Bezeichnung). Wie sich herausstellt, hängt Erwin nämlich die Hose halb herunter. Das Bücken tut dazu das Übrige.

Dass er mich gerade mit seinem Vollmond anstrahlt, scheint er nicht zu bemerken. Obwohl er mir leidtut, kann ich nicht verhindern, dass sich ob der Absurdität der Situation ein dämliches Grinsen auf meinem Gesicht festsetzt. Ich beiße mir auf die Lippen und versuche, es in den Griff zu kriegen, bevor mich hier noch jemand sieht. Hier, in der Teeküche einer Psychiatrie sitzend, wie ich die mir entgegengestreckten Arschbacken eines 180-kg-Mannes anlache.

Gott sei Dank hat Erwin das Objekt seiner Begierde inzwischen gefunden. Er packt eine Tiefkühlpizza aus, eine mit viel Salami, und legt sie auf den Teller.

»So kannst du die aber nicht essen«, werfe ich ein. »Die musst du erst mal aufbacken.«

»Ja, backen muss ich die.« Erwin nimmt die Pizza in die Hand, macht allerdings keinerlei Anstalten, sich zu bewegen. Vermutlich weiß er nicht, wie das geht. Ich stehe auf, zwänge mich mühsam an ihm vorbei und schalte den Backofen ein.

Und er bewegt sich doch. Unangenehm dicht auf mich zu.

»Tust du mir die backen?«

Überrascht schaue ich Erwin an. Der kratzt sich derweil ausgiebig an den Pobacken. Widerwillig nehme ich die Pizza entgegen, schmeiße sie in den Ofen und begebe mich erst mal Richtung Toiletten, um mir die Hände zu waschen.

Vor dem Waschbecken bricht es dann aus mir heraus, das Lachen. Ich kann nicht anders, ich lache und lache, dabei wäre mir eher zum Heulen zumute, denn seit heute bin ich einer von ihnen. Die Spülung geht, und ein hagerer Mann mittleren Alters kommt aus der Kabine nebenan. Er sieht mich entgeistert an, nickt dann stumm und verschwindet, ohne darauf zu warten, dass ich das Waschbecken freigebe.

Der muss wohl gedacht haben, ich sei verrückt.

An dieser Stelle wäre es vielleicht angemessen, ein bisschen was zu mir zu sagen. Ich heiße Sean Christophe, bin 24 Jahre alt, Student der Mathematik und der klassischen Philologie, und mache mir nicht viel aus Nationalitäten. Dafür umso mehr aus meinem Namen. Ich heiße Sean, nicht Shaun und auch nicht Shawn. Mein Vater ist Brite, meine Mutter Französin, ich bin in Paris geboren und in Deutschland aufgewachsen. Ich bin sozusagen das Vorzeigekind der Europäischen Union, oder zumindest war ich das bis zu einem gewissen 23. Juni (ein Datum, das übrigens auch in die Geschichte des Frauenfußballs eingehen wird, und zwar ebenso unrühmlich). Ist uns ja schließlich egal, wenn nachher ewige Dunkelheit herrscht; Hauptsache, es gab kurz vorm Schluss noch mal das große, dumme Leuchten. Aber seit jenem 23. Juni 2016 bin ich in den Augen besonders spaßiger Zeitgenossen so etwas wie ein wandelnder Brexit-Witz.

Zwischen 2016 und heute liegt bereits ein ganzes, ›2017‹ betiteltes Kalenderjahr, auch wenn ich das kaum glauben kann. Ebenso wenig, wie ich mich an eine Zeit erinnern kann, in der Smartphones noch nicht existierten und das Internet unendlich langsam und nur am anderen Ende einer traumatisierenden Folge von Modem-Tönen zu finden war. Schon seltsam, wie die Zeit vergeht.

Aber wenigstens kann man den Fußball inzwischen streamen. Die entsprechenden Abos gönne ich mir. Ansonsten bin ich eher bodenständig. Zu meinem Leidwesen bin ich ein reasonably vernünftiger Mensch und komme nicht viel herum. Zumindest tagsüber.

Nachts ist das anders. Nachts bereise ich ferne Länder. Lebe eine Vielzahl von Leben, die mir sonst verwehrt geblieben wären. Besuche Rockfestivals in Japan, lungere in den weniger gut beleuchteten Straßen New Yorks herum oder tauche ab in die unendlichen Tiefen des Pazifischen Ozeans. So weit, bis die ganze Welt mir ein Dach ist und mich für alle Ewigkeiten auf den Meeresboden hinabdrückt. Nachts bin ich viele.

Duftendes Gold tropft ins makellose Weiß, und wieder tropft es nicht für mich.

Ich scheue den Kaffee wie eine Primzahl den dritten Teiler. Es ist verrückt, ich sehne mich so sehr nach ihm, und es gibt ihn hier sogar gratis. Aber zurzeit wage ich nicht einmal einen einzigen Tropfen davon in meine geschmacklose Tasse Milch zu kippen, wegen des verdammten Pulses.

So bleibt mir nichts, als in der Teeküche zu sitzen und sehnsüchtig den Kaffeeduft fremder Tassen zu inhalieren. Wenigstens den kann ich mir gönnen, ohne meinen Puls zu gefährden.

Oder?

Quatsch. Ich versuche den Gedanken abzuschütteln. Das ist schließlich genau das, was mir das Ganze hier überhaupt erst eingebrockt hat.

Aber …

Aber sicher ist sicher. Ich verlasse den Raum erst mal. Hier herrscht ohnehin gerade das große Schweigen.

Später bin ich dann doch etwas zerknirscht, dass ich wieder vor so ’ner blöden und vor allem komplett irrationalen Angst eingeknickt bin, und beschließe, der Teeküche noch eine Chance zu geben. Erwin und die anderen less-than-redseligen Leute haben sich inzwischen verzogen; dafür sitzen jetzt zwei Frauen am Tisch und spielen irgendwas mit Zahlen. Ich zögere zunächst, denn nach meiner Art von Runde sieht das nicht gerade aus. Aber was soll’s; Gelegenheiten muss man nehmen, wie sie kommen. Die ältere von beiden, Typus Hausfrau mit rundlichem Gesicht und Pagenschnitt, macht einen netten Eindruck. Sie erinnert mich ein bisschen an meine Mutter, wie sie war, als ich mich noch gerne an sie erinnert hab. Zaghaft trete ich ein und frage, ob ich mich dazusetzen kann.

Eine knappe Stunde später habe ich das Gefühl, Ute und Fine schon mein halbes Leben zu kennen. Fine redet nicht viel, doch wenn sie es tut, ist es immer eine scharfsinnige Beobachtung, die aus ihr herauskommt – wie zum Beispiel, dass mein Tee schon viel zu lange zieht oder dass ich mal wieder eine Zahl übersehen habe, die ich hätte kombinieren können. Anfangs fällt es mir noch schwer, die Spielregeln im Blick zu behalten, und dass ich Mathe studiere, nehmen mir die beiden nicht ab. Ute erzählt mir, dass sie das Spiel von ihrer Schwester geschenkt bekommen hat. Sie fragt, ob ich auch Geschwister habe. Dass ich darauf kurz überlegen muss, bringt die beiden erneut zum Lachen. Ich schlürfe meinen Tee und lache mit ihnen, und diesmal ist es keine aufgesetzte Umgänglichkeit wie vorhin. Diesmal ist die Stimmung gelöst, das Eis gebrochen, und nach einer Weile beherrsche ich auch das Zahlenspiel bestens – als es wieder einmal passiert.

Wie immer geht alles ganz schnell. Mein Puls ist plötzlich da, war vielleicht nie weg, pocht im Handgelenk. Schmerzen in der Herzregion. Ignorieren – geht...

Erscheint lt. Verlag 19.7.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Auerhaus • Berlin • Coming of Age • Europa • Freundschaft • Fußballweltmeisterschaft • Liebesgeschichte • Paris • Psychose • Roadtrip • Sinn des Lebens Roman • tschick
ISBN-10 3-8412-2784-8 / 3841227848
ISBN-13 978-3-8412-2784-3 / 9783841227843
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