Dunkelblum (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
528 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30358-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Dunkelblum -  Eva Menasse
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Jeder schweigt von etwas anderem. Auf den ersten Blick ist Dunkelblum eine Kleinstadt wie jede andere. Doch hinter der Fassade der österreichischen Gemeinde verbirgt sich die Geschichte eines furchtbaren Verbrechens. Ihr Wissen um das Ereignis verbindet die älteren Dunkelblumer seit Jahrzehnten - genauso wie ihr Schweigen über Tat und Täter. In den Spätsommertagen des Jahres 1989, während hinter der nahegelegenen Grenze zu Ungarn bereits Hunderte DDR-Flüchtlinge warten, trifft ein rätselhafter Besucher in der Stadt ein. Da geraten die Dinge plötzlich in Bewegung: Auf einer Wiese am Stadtrand wird ein Skelett ausgegraben und eine junge Frau verschwindet. Wie in einem Spuk tauchen Spuren des alten Verbrechens auf - und konfrontieren die Dunkelblumer mit einer Vergangenheit, die sie längst für erledigt hielten. In ihrem neuen Roman entwirft Eva Menasse ein großes Geschichtspanorama am Beispiel einer kleinen Stadt, die immer wieder zum Schauplatz der Weltpolitik wird, und erzählt vom Umgang der Bewohner mit einer historischen Schuld. »Dunkelblum« ist ein schaurig-komisches Epos über die Wunden in der Landschaft und den Seelen der Menschen, die, anders als die Erinnerung, nicht vergehen. »Die ganze Wahrheit wird, wie der Name schon sagt, von allen Beteiligten gemeinsam gewusst. Deshalb kriegt man sie nachher nie mehr richtig zusammen. Denn von jenen, die ein Stück von ihr besessen haben, sind dann immer gleich ein paar schon tot. Oder sie lügen, oder sie haben ein schlechtes Gedächtnis.«

Eva Menasse, geboren 1970 in Wien, begann als Journalistin und debütierte im Jahr 2005 mit dem Familienroman »Vienna«. Es folgten Romane und Erzählungen (»Lässliche Todsünden«, »Quasikristalle«, »Tiere für Fortgeschrittene«), die vielfach ausgezeichnet und übersetzt wurden. Preise (Auswahl): Heinrich-Böll-Preis, Friedrich-Hölderlin-Preis, Jonathan-Swift-Preis, Österreichischer Buchpreis, Bruno-Kreisky-Preis, Jakob-Wassermann-Preis und das Villa-Massimo-Stipendium in Rom. Eva Menasse betätigt sich zunehmend auch als Essayistin und erhielt dafür 2019 den Ludwig-Börne-Preis. Ihr letzter Roman »Dunkelblum« war ein Bestseller und wurde in neun Sprachen übersetzt. Sie lebt seit über 20 Jahren in Berlin.

Eva Menasse, geboren 1970 in Wien, begann als Journalistin und debütierte im Jahr 2005 mit dem Familienroman »Vienna«. Es folgten Romane und Erzählungen (»Lässliche Todsünden«, »Quasikristalle«, »Tiere für Fortgeschrittene«), die vielfach ausgezeichnet und übersetzt wurden. Preise (Auswahl): Heinrich-Böll-Preis, Friedrich-Hölderlin-Preis, Jonathan-Swift-Preis, Österreichischer Buchpreis, Bruno-Kreisky-Preis, Jakob-Wassermann-Preis und das Villa-Massimo-Stipendium in Rom. Eva Menasse betätigt sich zunehmend auch als Essayistin und erhielt dafür 2019 den Ludwig-Börne-Preis. Ihr letzter Roman »Dunkelblum« war ein Bestseller und wurde in neun Sprachen übersetzt. Sie lebt seit über 20 Jahren in Berlin.

1.


In Dunkelblum haben die Mauern Ohren, die Blüten in den Gärten haben Augen, sie drehen ihre Köpfchen hierhin und dorthin, damit ihnen nichts entgeht, und das Gras registriert mit seinen Schnurrhaaren jeden Schritt. Die Menschen haben immerzu ein Gespür. Die Vorhänge im Ort bewegen sich wie von leisem Atem getrieben, ein und aus, lebensnotwendig. Jedes Mal, wenn Gott von oben in diese Häuser schaut, als hätten sie gar keine Dächer, wenn er hineinblickt in die Puppenhäuser seines Modellstädtchens, das er zusammen mit dem Teufel gebaut hat zur Mahnung an alle, dann sieht er in fast jedem Haus welche, die an den Fenstern hinter ihren Vorhängen stehen und hinausspähen. Manchmal, oft, stehen auch zwei oder sogar drei im selben Haus an den Fenstern, in verschiedenen Räumen und voreinander verborgen. Man wünschte Gott, dass er nur in die Häuser sehen könnte und nicht in die Herzen.

In Dunkelblum wissen die Einheimischen alles voneinander, und die paar Winzigkeiten, die sie nicht wissen, die sie nicht hinzuerfinden können und auch nicht einfach weglassen, die sind nicht egal, sondern spielen die allergrößte Rolle: Das, was nicht allseits bekannt ist, regiert wie ein Fluch. Die anderen, die Zugezogenen und die Eingeheirateten, wissen nicht viel. Sie wissen, dass das Schloss abgebrannt ist, dass die Nachkommen der Grafen jetzt in verschiedenen, weit entfernten Ländern leben, zum Heiraten und zum Taufen aber üblicherweise zurückkommen, woraufhin es große Feste gibt für den ganzen Ort. Die Kinder holen aus den Bauerngärten Blumen und winden Girlanden, die alten Frauen kramen ihre hundertjährigen Trachten heraus, und alle stellen sich entlang der Herrengasse auf und winken. Mit nadelspitzem Lächeln nehmen die ausländischen Bräute wahr, dass hier, trotz der vor Langem erfolgten republikanischen Übernahme, noch auf die Untertanen Verlass ist, zumindest alle heiligen Zeiten einmal.

Begraben lassen sich die Grafen allerdings schon lange nicht mehr hier. Die Gruft kann besichtigt werden, doch sie wird nicht mehr belegt. Zwar hat man die Grafen zwanzig Jahre nach dem Krieg erst unter Hinweis auf die undichte Familiengruft überhaupt wieder nach Dunkelblum gelockt. Unmittelbar nach dem Krieg dagegen hatte man sie – wer genau, ist unbekannt – mit erstaunlicher diplomatischer Kunst ferngehalten: Die Nachrichten, die man zum Zustand der Brandruine übermittelte, waren stark übertrieben. Abreißen, leider, alles abreißen, lautete der mit Tränen und Erschütterung vorgetragene Befund, und die kurz zuvor verwitwete Gräfin im Exil glaubte ihren ehemaligen Verwaltern und Pächtern und Sekretärinnen und Zofen oder wer immer dahintersteckte oder wer immer weitertrug, was er vom Hörensagen wusste oder zu sagen gezwungen worden war. Vielleicht wollte die Gräfin es glauben. Für einen Lokalaugenschein war sie zu faul oder zu feige, für ein Gutachten zu wenig flüssig. Und so wurde das Schloss abgerissen und eine gigantische Menge an bestem Baugrund wurde frei, in einer vormals unerreichbaren, zentralen Lage. Irgendjemand musste damals davon profitiert haben, denn jemand profitiert immer. Seither ist der Ortskern von Dunkelblum baulich und atmosphärisch zweigeteilt: in die jahrhundertealte, bäuerlich-verwinkelte Hälfte, weiß gekalkt und mit blauen oder grünen Fensterläden, und in die andere, schauerlich zweckmäßige, Blech und Silikon, praktisch und abwaschbar, so wie man damals, zur Zeit des Wiederaufbaus, auch innerlich gern gewesen wäre.

Zurück auf Stippvisite kam also, zwanzig Jahre später, der leutselige älteste Sohn der Gräfin, dem man vieles nachsagen konnte, nur nicht, dass er sentimental gewesen wäre. Die Vorfahren safteln!, trompetete er, ließ die Gruft öffnen und abdichten, was dort abzudichten war. Dann segnete der Herr Pfarrer alles mit Nachdruck für die Ewigkeit ein, und die Gruft wurde wieder geschlossen. Damals soll es noch Dunkelblumerinnen gegeben haben, die Durchlaucht nach der Zeremonie die Hand küssten, knicksend. Der Ferbenz hingegen hat genau zur gleichen Zeit einen allgemeinen Frühschoppen im Café Posauner plakatieren lassen. Aber diesem Spaltungsversuch war kein Erfolg beschieden: Wenn der Graf und der Pfarrer riefen, wussten die meisten, was sich gehörte, auch wenn man ansonsten mehrheitlich der Meinung vom Ferbenz war. Der Graf ging vor. Er war ja so selten da. Und so saß der Ferbenz mit dem harten Kern seiner Getreuen im Café Posauner und sie tranken sich die Nasen rot, und obwohl es aussah wie eine Niederlage, wusste jeder von ihnen, dass sie alle sich für immer merken würden, wer da gewesen, und vor allem, wer nicht da gewesen war; und wer von den Anwesenden einen Stiernacken hatte – das waren die meisten –, dem rötete er sich bereits vor Vorfreude, weil mit der Abreise des Grafen die Machtverhältnisse in Dunkelblum schon bald wiederhergestellt sein würden.

 

Seit die Grafen ihre Gruft ver- und damit ihren Exodus besiegelt hatten, war die Zeit im Grunde stehengeblieben. Zwar wechselten die Jahreszeiten und Rocklängen, und die Fernsehprogramme wurden bunter und mehr. Die Dunkelblumer alterten regulär vor sich hin, aber weil sie reichlich tranken, bemerkte man ihr Altern lange kaum, die Äuglein blitzend, die Wangen rosenrot, bis Freund Flüssigmut und -trost schließlich schnell und erbarmungslos zuschlug. Er war ein Profikiller: Der, den er sich aussuchte, begann morgens beim Aufstehen bloß ein bisschen zu husten, beim Frühstück spuckte er die erste von den vielen, immer schneller aufeinanderfolgenden Portionen Blut und nach höchstens einer Viertelstunde und einer beeindruckenden Sauerei, die den Hinterbliebenen zwar hinterblieb, aber so gut wie nie zur Mahnung gereichte, war die Angelegenheit auch schon vorüber. Fritz, der Dodl, der sich über jeden Auftrag freute wie ein Kind, wurde verständigt und nahm am selben Tag in seiner Werkstatt Maß an den schönen Eichenbrettern, um das sogenannte Holzpyjama zu tischlern. Dazu pfiff er einen Ragtime.

Die Trinker, denen das bisher noch nicht passiert war, hielten es daher auch nicht für wahrscheinlich. Seit Jahrzehnten saß Ferbenz mit den Heuraffl-Brüdern, mit Berneck, dem geflickten Schurl und dem jungen Graun entweder im Café Posauner oder in der mit Bauernkeramik und geflochtenem Stroh verschandelten Jugendstilbar des einst so eleganten Hotel Tüffer, erklärte seinen Mittrinkern Welt und Geschichte und intrigierte so lange gegen den jeweiligen Bürgermeister, den Sparkassendirektor oder den Fremdenverkehrsobmann, bis einer davon zur Tür hereinkam, zwei Runden zahlte und Ferbenz’ unumschränkter Unterstützung versichert wurde. Dabei trank Ferbenz selbst wenig, tat aber mit großem Geschick als ob. Er wusste in jeder Lebenslage, wie man unbeschadet davonkam.

Nur zwei Ecken vom Tüffer entfernt, in der Tempelgasse 4, räumte Antal Grün unermüdlich wie eine Ameise in seinem Greißlerladen herum. Er war Nichttrinker und hielt aus Erfahrung vieles für möglich, obwohl er nie darüber sprach. Drei sehr fadenscheinige Grausträhnen von der rechten Schläfe quer über den Kugelkopf bis übers Ohr gekämmt und in seinem blauen Arbeitsmantel, packte er frische Ware aus und abgelaufene Ware wieder ein, zerrte Kartons und Kisten von da nach dort, belegte Semmeln für das Dutzend Schulkinder, deren Eltern sich solchen Luxus leisten konnten und aus Angeberei auch leisten wollten, las älteren Damen zuvorkommend das Kleingedruckte auf den Bauchbinden der Wollknäuel vor (20 Prozent Dralon, 80 Prozent Polyacryl, nein, meine Werteste, das scheint ganz ohne Baumwolle zu sein) und zog besonders gern eine neue Papierrolle in seine Registrierkassa ein. Jedes Mal staunte er, dass es wieder klappte. Jedes Mal stellte er sich besorgt vor, dass der Mechanismus versagen und das Papier sich kräuseln, es nicht aufgenommen, sondern abgewiesen, ja ausgespien werden könnte. Diese Vorstellung jagte ihm kaltes Unbehagen ein. Wenn er sich darein verbohrte, musste er sich zur Ablenkung ausführlich die Hände waschen gehen. Und erst, wenn wirklich gar nichts mehr zu tun war, wenn die Papierrolle dick und neu, jedes Regal gefüllt, der Steinfußboden gekehrt war, dann erst drehte er nachdenklich an dem neumodischen Metallständer mit den Zeitungen und Postkarten, den er sich kürzlich von einem dubiosen Vertreter mit ausländischem Akzent aufschwatzen hatte lassen und in dem nun, irgendwie merkwürdig, sogar historische Fotografien des Dunkelblumer Schlosses angeboten wurden, nachkoloriert.

Der praktische Arzt Doktor Sterkowitz dagegen trank schon, aber mäßig, und auch nur, weil man das hier so machte. Woanders hätte er Kautabak gekaut oder Zuckerbällchen gegessen, er legte auf ein harmonisches Miteinander mehr Wert als in Dunkelblum üblich. Sterkowitz saß fast immer im Auto, derzeit einem protzorangenen japanischen Modell, und machte Hausbesuche. Er beharrte darauf, dass Hausbesuche ihm selbst mehr Flexibilität schenkten, weil er die, die ohnehin nicht sehr krank oder überwiegend hypochondrisch waren, einfach auslassen konnte, falls er bei den Bettlägerigen länger brauchte. Die Sprechstunden, die er trotz seines Hausbesuch-Services drei Vormittage lang abzuhalten gezwungen war, verliefen daher noch chaotischer, als sie es schon mit regulärer Zeiteinteilung gewesen wären. Impfkinder plärrten, fiebrige Alte kollabierten und mehr als einmal fing er eine beidseitige Lungenentzündung im letzten Moment mit einem antibiotischen Breitbandcocktail ab, weil selbst nach Jahrzehnten nicht alle wussten, dass Doktor Sterkowitz grundsätzlich und nicht bloß im Notfall ins Haus kam, oder...

Erscheint lt. Verlag 19.8.2021
Zusatzinfo Stadtplan (s/w) illustriert von Nikolaus Heidelbach, mit Figurenverzeichnis auf Vor- und Nachsatz
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • Batthyany • Das Literarische Quartett • Dorf • Dorfgemeinschaft • Dunkelblum • Erinnerung • Eva Menasse • Geschichtsschreibung • Judenverfolgung • Jüdische Geschichte • Jüdisches Leben • Juli Zeh • Literarisches Quartett • Massaker • Nazi-Vergangenheit • Österreich • Österreich-Ungarn • Rechnitz • Schweigen • Über Menschen • Unterleuten • Wende • Würgeengel • ZDF
ISBN-10 3-462-30358-9 / 3462303589
ISBN-13 978-3-462-30358-2 / 9783462303582
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