Die Kunst des Kochens und Auftragens (eBook)

Gesammelte Erzählungen
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
352 Seiten
Berlin Verlag
978-3-8270-8040-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Kunst des Kochens und Auftragens -  Margaret Atwood
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Nach dem Lyrik-Sammelband Die Füchsin soll dieses Buch Margaret Atwoods Erzählungen ins rechte Licht rücken. Ohne Zweifel sind ihre Stories ein wesentlicher Teil ihres Werks, ihr Sinn für knappe Pointen und ironische Zuspitzungen machen sie zu einer Meisterin der kurzen Form.  Dies ist der Versuch, einen großen Bogen über Margaret Atwoods diesbezügliches Schaffen zu spannen. Eine exklusiv für diese Sammlung geschriebene Geschichte und ein knappes Dutzend noch nie auf Deutsch erschienener Stories verleihen diesem Projekt zusätzliche Bedeutung.

Margaret Atwood, geboren 1939 in Ottawa, gehört zu den bedeutendsten Autorinnen unserer Zeit. Ihr »Report der Magd« wurde für inzwischen mehrere Generationen zum Kultbuch. Zudem stellt sie immer wieder ihr waches politisches Gespür unter Beweis, ihre Hellhörigkeit für gefährliche Entwicklungen und Strömungen. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem renommierten Man Booker Prize, dem Nelly-Sachs-Preis, dem Pen-Pinter-Preis und dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Margaret Atwood lebt in Toronto. Auf Deutsch erschien zuletzt ihr Lyrikband »Innigst«.

Margaret Atwood, geboren 1939 in Ottawa, gehört zu den bedeutendsten Erzählerinnen unserer Zeit. Ihr "Report der Magd" wurde zum Kultbuch einer ganzen Generation. Bis heute stellt sie immer wieder ihr waches politisches Gespür unter Beweis, ihre Hellhörigkeit für gefährliche Entwicklungen und Strömungen. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem renommierten Man Booker Prize, dem Nelly-Sachs-Preis, dem Pen-Pinter-Preis und dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Margaret Atwood lebt in Toronto. Auf deutsch erschienen zuletzt ihr Roman "die Zeuginnen" und der Lyrikband "Die Füchsin".

Der Sündenesser


Deutsch von Helga Pfetsch

 

Das ist Joseph, in rotbraunen Lederpantoffeln, die an den Fersen heruntergetreten, an den Zehen abgestoßen sind, dazu trägt er eine schmuddelige Strickjacke in Schlammgelb, die nach Ausverkaufsware riecht, er zieht an seiner Pfeife, sein Haar wird langsam grau und dünn, und seine Aussprache ist so schön und präzise und britisch wie eh und je.

»In Wales«, sagt er, »vor allem in den ländlichen Gegenden, gab es ein Wesen, das als Sündenesser bekannt war. Wenn jemand im Sterben lag, schickte man nach dem Sündenesser. Die Angehörigen kochten ein Essen und stellten es auf den Sargdeckel. Natürlich hatten sie den Sarg schon fertig: Wenn sie sich einmal darauf eingestellt hatten, dass man im Begriff war, das Zeitliche zu segnen, hatte man in dieser Sache kaum mehr eine Wahl. Anderen Versionen zufolge wurde die Mahlzeit auf den Körper des Verstorbenen gestellt, was vermutlich zu eher schludrigen Essmanieren geführt haben dürfte. Wie auch immer, der Sündenesser verzehrte jedenfalls sein Mahl und bekam noch einen Geldbetrag dazu. Man glaubte, dass alle Sünden, die der Sterbende zu Lebzeiten angehäuft hatte, von ihm genommen und auf den Sündenesser übertragen wurden. Auf diese Weise wurde der Sündenesser von den Sünden anderer Leute ganz aufgebläht. Er häufte eine so schwere Sündenlast auf sich, dass keiner etwas mit ihm oder vielmehr ihr zu tun haben wollte; eine Art Syphilitiker der Seele, könnte man sagen. Man vermied es sogar, sie anzusprechen, außer natürlich, wenn es Zeit war, sie zu der nächsten Mahlzeit zu rufen.«

»Sie?«, sage ich.

Joseph lächelt, dieses schiefe Lächeln, bei dem die Zähne in der einen Mundhälfte sichtbar werden, der Hälfte, die nicht mit der Pfeife beschäftigt ist. Ein ironisches Grinsen, wölfisch, was greift es auf? Was habe ich diesmal preisgegeben?

»Ich stelle sie mir als alte Frauen vor«, sagt er, »obwohl es wahrscheinlich keinen Grund gibt, warum es nicht Männer gewesen sein sollten. Sie konnten sein, was sie wollten, solange sie nur willens waren, die Sünden zu essen. Notleidende alte Wesen, die sonst keine Möglichkeit sahen, Leib und Seele zusammenzuhalten, meinen Sie nicht? Eine Art altersbedingte geistige Hurerei.«

Er blickt mich an und grinst weiter, und ich erinnere mich an bestimmte Geschichten, die ich über ihn gehört habe, über ihn und Frauen. Er hätte drei Frauen, damit geht’s schon los. Mit mir hat er allerdings nie etwas gehabt, obwohl er immer sehr ausgedehnt versucht, mir in den Mantel zu helfen. Aber warum sollte ich mir Gedanken machen? Ich bin kein bisschen anfällig für so was. Außerdem ist er mindestens sechzig, und die Strickjacke schreit echt zum Himmel, wie meine Söhne sagen würden.

»Es brachte allerdings Unglück, eine von ihnen zu töten«, sagt er, »und es muss noch andere Einschränkungen gegeben haben. Im Grunde genommen denke ich, dass das Sündenessen viel für sich hat.«

Joseph ist nicht einer von der Sorte, die in einfühlsamem, nachsichtigem Schweigen warten, wenn man plötzlich verstummt oder nichts mehr zu sagen weiß. Wenn du ihm nichts erzählen willst, dann erzählt er eben, verdammt noch mal, dir was, und zwar meistens das Langweiligste, was ihm gerade einfällt. Ich habe schon alle Einzelheiten über seine Blumenbeete und seine drei Frauen erfahren und darüber, wie man im Keller Callas züchtet; auch über den Keller habe ich schon alles erfahren, Führungen könnte ich durch den machen. Er sagt, er findet, dass es gesund für seine Patienten ist – er bezeichnet sie nicht als »Klienten«, bei Joseph wird nicht um den heißen Brei geschlichen –, wenn sie erfahren, dass auch er ein menschliches Wesen ist, und wir erfahren es, weiß Gott, er quasselt und quasselt, bis dir endlich dämmert, dass du ihn nicht dafür bezahlst, dass er über seine Topfpflanzen redet und du zuhörst, sondern dass du ihn dafür bezahlst, dass du über deine redest und er zuhört.

Gelegentlich allerdings teilt er einem wirklich etwas mit. Ich hebe meine Kaffeetasse hoch und überlege, ob dies wohl eine solche Gelegenheit ist.

»Na gut«, sage ich, »ich beiße an. Warum?«

»Das liegt auf der Hand«, sagt er und zündet dabei, Rauchwolken speiend, seine Pfeife wieder an. »Erstens müssen die Patienten warten, bis sie sterben. Eine echte Lebenskrise, keine Verstellung und keine Erfindungen. Erst dann dürfen sie einen belästigen, erst wenn sie beweisen können, dass es ihnen ernst ist, sozusagen. Zweitens springt noch eine ordentliche Mahlzeit für jemand dabei raus.« Er lacht gepresst. Wir wissen beide, dass die Hälfte seiner Patienten sich nicht darum schert, ihm sein Honorar zu zahlen, nicht einmal das Geld, das die Regierung ihnen dafür gibt. Joseph hat die Angewohnheit, Leute zu übernehmen, die keiner sonst auch nur mit einer Kneifzange anfassen würde, nicht weil sie zu krank, sondern weil sie zu arm sind. Mütter, die von der Sozialhilfe leben, und so weiter; üble Kreditrisiken, wie Joseph selbst. Er ist einmal, als er in einer Klapsmühle arbeitete, gefeuert worden, weil er einen Betriebsrat organisieren wollte.

»Und denken Sie an die Zeitersparnis«, fährt er fort. »Ein paar Stunden pro Patient, alles in allem, im Gegensatz zu zweimal wöchentlich über Jahre und Jahre – und beides mit dem gleichen Endergebnis.«

»Das ist reichlich zynisch«, sage ich missbilligend. Normalerweise bin ich die Zynische, aber vielleicht überrundet er mich, um mich zu zwingen, aus dieser Ecke hervorzukommen. Zynismus ist, laut Joseph, eine Abwehrstrategie.

»Man brauchte ihnen nicht einmal zuzuhören«, sagt er. »Nicht ein einziges Wort brauchte man sich anzuhören. Die Sünden werden ja auf das Essen übertragen.« Plötzlich sieht er traurig und müde aus.

»Wollen Sie damit sagen, dass ich Ihre Zeit vergeude?«, sage ich.

»Nicht meine Zeit, meine Beste«, sagt er. »Ich habe endlos Zeit!«

Ich interpretiere es als Herablassung, genau das, was ich am allerwenigsten ertragen kann. Trotzdem werfe ich nicht die Kaffeetasse nach ihm. Ich bin nicht so zornig, wie ich es früher einmal gewesen wäre.

Wir haben viel Zeit darauf verwendet, auf diesen Zorn. Er rührte nur daher, dass ich die Wirklichkeit so unbefriedigend fand. Das war mein Problem. So unfertig, so schlampig, so sinnlos, so endlos. Ich wollte, dass alles einen Sinn hat.

Ich dachte, Joseph würde versuchen, mich davon zu überzeugen, dass die Realität in Wirklichkeit doch wunderbar und bestens sei, und dann versuchen, mich der Realität anzupassen, aber das tat er nicht. Stattdessen stimmte er mir zu, fröhlich und auf der Stelle. Das Leben sei in fast jeder Hinsicht ein Riesenhaufen Scheiße, sagte er. Das war axiomatisch. »Stellen Sie es sich vor als eine verlassene Insel«, sagte er. »Sie sitzen dort fest, und jetzt müssen Sie entscheiden, wie sie am besten damit fertigwerden.«

»Bis ich gerettet werde?«, sagte ich.

»An Rettung brauchen Sie gar nicht erst zu denken«, sagte er.

»Das kann ich nicht«, sagte ich.

Diese Unterhaltung findet in Josephs Büro statt, das genauso schäbig ist wie er selbst und nach unausgeleerten Aschenbechern, Füßen, seelischer Not und zweimal geatmeter Luft riecht. Aber sie findet auch in meinem Schlafzimmer statt, am Tag der Beerdigung. Der Beerdigung von Joseph, der doch nicht endlos Zeit hatte.

»Er ist von einem Baum gefallen«, sagte Karen, als sie es mir mitteilte. Sie war dazu persönlich hergekommen, statt anzurufen. Joseph traute Telefonen nicht. Der größte Teil einer Botschaft bei jedem Kommunikationsakt werde nonverbal mitgeteilt, sagte er.

Karen stand auf meiner Türschwelle und vergoss Tränen. Sie war auch eine der Seinen, eine von uns; über sie hatte ich ihn gefunden. Inzwischen bilden wir ein ganzes Netzwerk, es ist, wie wenn man einen Friseur weiterempfiehlt, wir haben ihn von Hand zu Hand weitergereicht, wie das sprichwörtliche Auge um Auge. Intelligente Frauen mit abtrennbaren Ehegatten oder überbegabten Kindern mit nervösen Ticks, intelligente Frauen in zerrütteten Lebensumständen und alle überglücklich, jemanden zu finden, der uns nicht vormachte, dass wir einfach viel zu intelligent seien und uns einer Gehirnoperation unterziehen sollten. Intelligenz sei ein Plus, behauptete Joseph. Wir sollten erst einmal sehen, wie es den Dummen erginge.

»Von einem Baum?«, fragte ich, schrie es fast.

»Zwanzig Meter, auf den Kopf«, sagte Karen. Sie fing wieder an zu weinen. Ich hätte sie am liebsten geschüttelt.

»Was zum Kuckuck hatte er denn auf einem zwanzig Meter hohen Baum zu suchen?«, fragte ich.

»Er hat ihn ausgelichtet«, sagte Karen. »Es war in seinem Garten. Der Baum hat seinen Blumenbeeten das Licht genommen.«

»Dieses alte Arschloch«, sagte ich. Ich war stinksauer auf ihn. Das war Fahnenflucht. Wie konnte er nur glauben, er sei berechtigt, auf einen zwanzig Meter hohen Baum zu steigen und damit unser aller Leben aufs Spiel zu setzen? Bedeuteten seine Blumenbeete ihm mehr als wir? »Was sollen wir nur tun?«, sagte Karen.

 

Was soll ich nur tun? ist die eine Frage. Sie kann immer durch Was soll ich nur anziehen? ersetzt werden. Für manche Leute ist das dasselbe. Ich wühle mich durch den Schrank auf der Suche nach den schwärzesten Sachen, die ich finden kann. Was ich anziehe, wird der nonverbale Teil der Kommunikation sein. Joseph wird es vermerken. Ich habe das grässliche Gefühl, dass ich in dem Bestattungsinstitut aufkreuzen werde und feststellen muss, dass sie ihn in seiner scheußlichen gelben Strickjacke und diesen ordinären rotbraunen Lederpantoffeln aufgebahrt haben.

 

Ich hätte mich gar nicht so anzustrengen brauchen mit dem...

Erscheint lt. Verlag 30.9.2021
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte aktivistin • Buchmesseschwerpunkt Kandada • Feminismus • Friedenspreis • Geschenk für beste Freundin • Kanada • Lebensgeschichten • Lebenswerk • Short Stories • Stories
ISBN-10 3-8270-8040-1 / 3827080401
ISBN-13 978-3-8270-8040-0 / 9783827080400
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