RCE (eBook)

#RemoteCodeExecution. Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
704 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30322-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

RCE -  Sibylle Berg
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»Eine Pause im Irrsinn. Noch eine Anstrengung, das Aussterben zu verhindern, in einer seltsamen Entschlossenheit vereint. Es ist der letzte Versuch.« Sibylle Bergs neuer Roman setzt da an, wo »GRM« endet - in unserer neoliberalen Absurdität, in der der Einzelne machtlos scheint. Der Kapitalismus ist alternativlos geworden. Das beste aller Systeme hat wenigen zu absurdem Reichtum verholfen und sehr vielen ein menschenwürdiges Dasein genommen. Die Krise ist der Normalzustand, Ausbeutung heißt nicht mehr »Kolonialismus« sondern »Förderung strukturschwacher Länder«. Inflation, Seuchen, Kriege, Diktatoren, Naturkatastrophen, Müllberge. Und die Menschheit vereint nur noch in ihrer Todessehnsucht. Die Lage scheint ausweglos. Aber in einem abhörsicheren Container brennt noch Licht. Fünf Hacker programmieren die Weltrettung. Manchmal gibt es diese historischen Momente, in denen Mauern eingerissen werden, Frauen studieren und wählen dürfen, Rassismus nur noch in einigen Köpfen existiert, Geschlechter keine Rolle mehr spielen, in denen verschwindet, was Menschen für hundert Jahre für ein Naturgesetz hielten. 

Sibylle Berg lebt in Zürich. Ihr Werk umfasst 27 Theaterstücke, 15 Bücher und wurde in 34 Sprachen übersetzt. Berg ist Herausgeberin von drei Büchern und verfasst Hörspiele und Essays. Sie erhielt diverse Preise und Auszeichnungen, u.a. den Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor, den Nestroy-Preis, den Schweizer Buchpreis, den Grand Prix Literatur, den Bertolt-Brecht-Preis und den Johann-Peter-Hebel-Preis. Bei Kiepenheuer & Witsch erschienen zuletzt die Romane »GRM/Brainfuck« (2019) und »RCE« (2022) sowie der Gesprächsband »Nerds retten die Welt« (2020).

Sibylle Berg lebt in Zürich. Ihr Werk umfasst 27 Theaterstücke, 15 Bücher und wurde in 34 Sprachen übersetzt. Berg ist Herausgeberin von drei Büchern und verfasst Hörspiele und Essays. Sie erhielt diverse Preise und Auszeichnungen, u.a. den Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor, den Nestroy-Preis, den Schweizer Buchpreis, den Grand Prix Literatur, den Bertold-Brecht-Preis und den Johann-Peter-Hebel-Preis. Bei Kiepenheuer & Witsch erschienen zuletzt der Roman »GRM/Brainfuck« (2019) und der Gesprächsband »Nerds retten die Welt« (2020).

Inhaltsverzeichnis
Zweieinhalb Jahre vor dem Ereignis –

 

Ben, der in einem Bus in London

auf zwei Plätzen saß. Von vier im Bus installierten Kameras beobachtet, die die Sicherheit der Busreisenden gewährleisteten.

Der Vorteil, Ben zu sein, war – gepflegte Einsamkeit im öffentlichen Raum, denn außer Leuten, die zu viel Crystal Meth geraucht hatten, mieden die meisten eine körperliche Nähe zu Menschen, die aus zwei Metern und hundertzehn Kilo Fett, Muskeln und schlechter Laune bestanden.

Ben war schon immer aufbrausend gewesen. Würde sein ehemaliges Lehrpersonal sagen, wenn sie nach Bens imaginärem Amoklauf befragt werden würden.

Die Psychologen, wenn er welche hätte, würden sagen: »Hier liegt ein typischer Fall von Impulskontrollstörung vor.«

Oder einfach: Ben hatte den ganzen Schwachsinn noch nie verstanden.

Den Drill vom Kindergarten an. Das Wählen der beliebten Kinder im Sportunterricht, die Verächtlichmachung von allem, was nicht »normal« schien, das Einpeitschen des Wettbewerbs in Kinderhirne, bis sie jeden Spaß am Lernen und auch am Leben verlernt hatten und nur noch voller Angst waren – Angst, dass die Eltern den Job verlören,

Angst, sitzen zu bleiben und später keine großartige Karriere zu machen. Kinder, die sich einnässten und unter Psychopharmaka standen. Kinder, die zu verstörten Jugendlichen wurden und danach direkt zu Rentnern. Oder Arbeitslosen, oder tot.

Aber die größte Panik, egal aus welcher Schicht die Kinder stammten, war – gar keine Arbeit zu bekommen, sich ihr Leben nicht verdienen zu dürfen.

Ben hatte seine Tabletten, irgendwelche musste ja jedes westliche Kind nehmen, um für die Zukunft gerüstet zu sein, immer ausgespuckt.

Sein Hass war mit ihm gewachsen, mit seinem Körper, der ständig bebte. Die Haare wie rote Antennen in der Luft. Das Gesicht voller Sommersprossen.

Ben sah aus wie ein miserabel gelaunter Feuerlöscher, aber das wäre eine Untertreibung. Er war richtig geladen.

Er war vierundzwanzig und seit über zehn Jahren Hacker. Seit über zehn Jahren sah er, dass sich fast – alles so entwickelte, wie er es geahnt hatte.

Der Bus fuhr an Häusern vorbei, die früher eher Ställe als Menschenunterkünfte gewesen waren und in denen Sozialhilfeempfänger entspannt auf ihr Aussterben gewartet hatten. Nun hatten die Häuser Isolierglasfenster, bunte Anstriche und wurden von Programmierern, Systemanalytikern und Entwicklern bewohnt. Früher Spitzenverdiener, war alles, was ein »IT« oder »digital« in der Berufsbezeichnung hatte, inzwischen in der neuen Mitte der Gesellschaft angelangt. Bei denen, die sich selbstausbeutend im Homeoffice oder in Sichtbeton-Co-Working-Spaces mit Chill Lounge saßen und vierzehn Stunden am Tag absolut öde Jobs machten. IT-Sicherheit für Versicherungen, Onlineshopping-Bezahlsysteme für Kaufhäuser, Digitalentwickler bei den Wasserwerken oder 3-D-Statistiker, die Produktchancen für Softdrink-Hersteller errechneten. Es gab ein Überangebot an IT-Fachleuten, die unterdessen keine Helden mehr waren, sondern den Status von Fernmeldetechnikern hatten.

Einer von ihnen stieg in den Bus.

Der

 

 

 

Mann in Bens Alter

Intelligenz: durchschnittlich

Ethnie: pink

Gesundheitszustand: Anabolikamissbrauch, fit wie ein Schuh

Kreditwürdigkeit: korrekt verschuldet

Sexualität: Selbstbefriedigung

 

hatte bereits die Aura früherer mittvierzigjähriger Versicherungsmitarbeiter. Leute, die es gab, ehe sie durch Geräte ersetzt worden waren.

Der Mann in Bens Alter trug die neuen Ohrhörer, die gleichzeitig die Gehirnströme maßen, um Musik der Stimmung entsprechend aus Playlisten abzuspielen. Seit deren Markteinführung wurden zunehmend Menschen wegen angeblich subversiver Aktionen verhaftet. Sie badeten nackt in Brunnen oder grillten ihre Insektenburger vor Shoppingmalls.

Egal.

Der Mann in Bens Alter betrachtete die schönen bunten Häuser. In einem davon lebte er und war stolz darauf. So ein schöner ehemaliger Stall stand ihm zu, denn er hatte es durch seiner Hände Arbeit ganz nach oben gebracht. Also fast.

Der Mann in Bens Alter hatte sich auf Entmietungen spezialisiert. Erst nur als Hobby, weil er sich für Menschen interessierte, ihr Verhalten und ihre sogenannten Gefühle. Später professionell.

In England wurden jeden Tag ein paar Hundert Menschen aus ihren Wohnungen entfernt, um die im Anschluss als Anlagemasse zu verwenden oder sie nach der Beseitigung des Humankapitals anzustreichen und für den fünffachen Preis neu zu vermieten.

Diese Entmietungen waren eine ständige Quelle für Konflikte, denn kaum jemand begrüßte die Möglichkeiten, die eine Veränderung des Umfelds mit sich brachte. Weinende Frauen, Mütter gar, Kinder, die sich ebenfalls weinend an die weinenden Mütter aller Geschlechtszugehörigkeiten klammern. Kranke Alte, bettlägerige kranke Alte, in denen Katheder steckten. Männer, die durchdrehten, Schusswaffengebrauch, die Einsatztruppe und so weiter. Ein immenser Kostenfaktor. Der Mann in Bens Alter hatte ein System der friedlichen Entmietung entwickelt, sprich, er hatte eine AI programmieren lassen, die, mit den Daten des zu Entmietenden gespeist, das perfekte Vorgehen berechnete.

Ein Drei-Phasen-Programm der liebevollen Trennung von Menschen und Materie, das immer mit einer emotionalen Ansprache begann, in der sich der zu Entmietende als –

Mensch?

wahrgenommen sah – denn die Leute verfielen in Panik, wenn der Verlust eines Ortes drohte, wo sie ihren Krempel unterbringen konnten.

 

Die zweite Phase des Programms bestand aus emotionaler Zuwendung des Entmieters, eine virtuelle Berührung eventuell, ein verstehender Blick

und die geheime Information, die den zu Entmietenden zur Kooperation bewegen würde.

Die finale Phase basierte auf der Datenauswertung des zukünftigen Obdachlosen. Seine größten Ängste und Schwächen wurden ermittelt und das Wissen wurde eloquent eingesetzt.

Sagen wir zum Beispiel, der Mensch neigte zum Hass auf Muslime – so wurde der Einzug von siebenundsechzig Strenggläubigen in das Haus bestätigt.

Dasselbe konnte bei jeder Hass- und Angststörung angewandt werden. Von Spinnen über Schlangen, Rottweilerzüchtern über LSBTTIQQAA*-Bars im Erdgeschoss.

 

Das System war so perfekt, dass die Entmietung innerhalb von fünfzehn Minuten abgeschlossen werden konnte.

Und das muss man sich jetzt einmal vorstellen. Diese Effektivität. Früher hatte die vom Steuerzahlenden entlohnte Polizei einschreiten müssen, damit das Volk sich selber auf die Straße setzte.

Der Mann in Bens Alter hatte vor einigen Tagen aus Gründen des Respekts persönlich die Entmietung seiner Eltern durchgeführt. Und das ist doch verrückt, denn

bis vor Kurzem hatte er selbst noch auf dem Sofa ihres Ein-Raum-Appartements gewohnt. Seine Mutter war Röntgenassistentin, der Vater Lehrer. Gewesen. Die beiden bekamen ihr Grundeinkommen und verbrachten ihr Leben im Bett. Leider in Bromley, wo gerade andere Pläne bestanden. Ein Plattforminhaber hatte den gesamten Stadtteil über seine Anlagefirma gekauft und wollte

irgendwas. Ohne Menschen.

 

In diesem Moment wurde bekannt, dass die japanische Regierung plante, das durch den Reaktoren-Unfall von Fukushima verseuchte Wasser ins Meer abzuleiten

 

– hoppla!,

 

zur selben Zeit wurde

Ben aus seinen Sitzen im Bus in London geschleudert.

Eine Bodenwelle brachte eine kurzfristige Bewegung, einen Moment der Menschlichkeit. Der kleinen Schreie, des peinlich berührten Lachens ob des eigenen Schrecks,

ehe alle wieder in sich zurückfanden.

Die Straßen außerhalb des Zentrums waren in einem Zustand wie in den Sechzigerjahren des letzten Jahrtausends. Die Oligarchen oder Philantropen, wie sie im Westen genannt wurden, zahlten keine Steuern, der Mittelstand war zu klein, um verrückte Dinge wie Infrastruktur oder etwa ein Gesundheitssystem zu finanzieren. Das war dann auch privatisiert worden. Seitdem lief der Laden.

Jeder Mensch konnte eigenverantwortlich seinen Körper wie einen Tempel behandeln und sich gesund ernähren, Sport treiben und für mentalen Überfluss sorgen.

Ben suchte im Netz nach etwas, das er während des Suchvorgangs schon wieder vergessen hatte. Er war auf der Homepage der CIA hängen geblieben. Wie um die These zu bebildern, dass wegen der ständigen Verfügbarkeit von Informationen und Ablenkungen bereits die zweite Generation der Menschheit komplett verrückt geworden war, unfähig, sich zu konzentrieren oder so etwas wie – Gedanken zu entwickeln. Ein paar Milliarden reizüberflutete Menschen, abhängig von der Dauererregung, auf die das Gehirn in seiner langsamen Evolutionsgeschichte komplett unvorbereitet war. Die Abhängigen jagten nach schnellen emotionalen Kicks beim Lesen von mehr oder weniger stabilem Schwachsinn und wussten nicht mehr, ob es ihnen wohl war, ob sie litten, oder dass es eine größere Palette an emotionalen Zuständen gab, außer Erregung, Ablenkung und scheinbarer Verfügbarkeit von

allem.

Ben hatte sein Ziel erreicht.

Er hatte, nach dem Scheitern des Hacks vor fünf Jahren, wieder für die Kapitalisten gearbeitet. Er testete in White-Hat-Teams die...

Erscheint lt. Verlag 5.5.2022
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bertolt-Brecht-Preis • Dystopie • grime • grm • GRM Brainfuck • GRM Nachfolger • GRM Zweiter Band • Hacker • Hacking • Internet-Überwachung • Kapitalismus-Kritik • Literatur über Hacker • Neuer Roman Sibylle Berg • Remote Code Execution • Schweizer Grand Prix Literatur • System-Umsturz • Überwachungsstaat • Welt-Revolution • Widerstand
ISBN-10 3-462-30322-8 / 3462303228
ISBN-13 978-3-462-30322-3 / 9783462303223
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