An den Flüssen, die strömen (eBook)

Roman
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2022 | 1. Auflage
224 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-13707-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

An den Flüssen, die strömen -  António Lobo Antunes
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Die beeindruckende Chronik einer Krankheit.
In seinem persönlichsten, ergreifendsten Buch erzählt der weltberühmte Schriftsteller António Lobo Antunes ganz offen von seiner Erkrankung an Krebs. Er berichtet von den zwei langen Wochen, die »Senhor Antunes«, sein literarisches Alter Ego, in einem Krankenhaus verbringt, mit seinem Schicksal hadert, sich Operation und Behandlung unterzieht und sein Leben Revue passieren lässt. Seine täglichen Aufzeichnungen halten den Kampf ums Überleben fest, hier mischen sich Fieberträume und Verzweiflung, Schmerzen und Ängste, Erinnerungen an seine Kindheit, seine Eltern, aber auch an die Landschaft, die ihn prägte.

António Lobo Antunes wurde 1942 in Lissabon geboren. Er studierte Medizin, war während des Kolonialkriegs 27 Monate lang Militärarzt in Angola und arbeitete danach als Psychiater in einem Lissabonner Krankenhaus. Heute lebt er als Schriftsteller in seiner Heimatstadt. Lobo Antunes zählt zu den wichtigsten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. In seinem Werk, das mittlerweile mehr als dreißig Titel umfasst und in vierzig Sprachen übersetzt worden ist, setzt er sich intensiv und kritisch mit der portugiesischen Gesellschaft auseinander. Er erhielt zahlreiche Preise, darunter den »Großen Romanpreis des Portugiesischen Schriftstellerverbandes«, den »Jerusalem-Preis für die Freiheit des Individuums in der Gesellschaft« und den Camões-Preis.

21. März 2007


Vom Fenster des Krankenhauses in Lissabon aus sah er weder die Leute, die hineingingen, noch die Autos zwischen den Bäumen, noch einen Krankenwagen, er sah den Zug hinter den Kiefern, Häuser, noch mehr Kiefern und im Hintergrund das Gebirge, das der Nebel von ihm wegrückte, er sah den Vogel seiner Angst ohne einen Zweig, auf den er sich mit den zitternden Lippen seiner Flügel niederlassen konnte, die igelige Frucht eines Kastanienbaumes, der früher am Eingang des Gartens gestanden hatte, jetzt war sie in ihm, der Arzt nannte sie Krebs, und stumm wurde sie immer größer, kaum hatte der Arzt sie Krebs genannt, begann die Totenglocke der Kirche zu läuten, und ein Trauergeleit mit offenem Sarg und einem Kind darin zog sich zum Friedhof hin, weitere Kinder wachten, als Seraphim verkleidet, über den Sarg, Leute, von denen nur das Schurren der Stiefel zu hören war, und daher waren es keine Leute, Sohlen, Sohlen, als die Großmutter bei ihm an der Mauer aufhörte, sich zu bekreuzigen, spürte er den Duft der Kompotte in der Speisekammer, Gläser auf jeder Treppenstufe, und solange die Gläser unversehrt waren, passierte gar nichts, um ein Haar hätte er, als er auf der Krankentrage ausgestreckt nach der Untersuchung herausgeschoben wurde, den Arzt gefragt

– Es ist doch gar nichts passiert oder?

und es war gar nichts passiert, denn die Gläser waren unversehrt, die vor vielen Jahren gestorbene Großmutter war hier bei ihm, lebendig, der vor noch längerer Zeit verstorbene Großvater las, den Taubheitsapparat im Ohr, die Zeitung, das Schweigen des Großvaters schüchterte ihn ein, bewirkte, dass der Igel sich in seinen Eingeweiden weitete, piekste, schmerzte, ich lege ihn auf eine Granitplatte, haue mit dem Hammer darauf, und die Krankheit ist zermalmt, jemand, den er nicht sehen konnte, schob seine Krankenliege den Korridor entlang, er bemerkte den Regen, Gesichter, Schilder, die Haushälterin des Herrn Vikars unter dem Vordach, während er dachte

– Sie schieben meinen Sarg

sie bot ihm Weintrauben an

– Wie wäre es mit ein paar Weintrauben Junge?

und verschwand sofort wieder, es beunruhigte ihn, sich nicht an den Namen der Haushälterin des Herrn Vikars erinnern zu können, er erinnerte sich an die Schürze, die Pantoffeln, das Lachen, er erinnerte sich nicht an ihren Namen, und da er sich nicht an ihren Namen erinnerte, würde er nicht wieder gesund werden, der Großvater faltete die Zeitung auf dem Sofa zusammen und würdigte ihn keines Blickes, er wollte bitten

– Können Sie nichts für mich tun?

aber er konnte allenfalls die zur Muschel geformte Hand am Ohr erhoffen

– Was?

und zu niemandem gewandte zusammengezogene Augenbrauen

– Was hat er gesagt?

also kreiste der Vogel seiner Angst weiter, er schaut auf seine Zehenwurzeln und die Finger, die Armen, die das Betttuch gepackt halten, diejenigen, die auf den Fahrstuhl warteten, ließen die Krankentrage zuerst hinein, starrten ihn einen Augenblick lang an und vergaßen ihn, er konnte nicht glauben, dass sie sich nicht an ihn erinnerten, der Großvater hatte ihm während der Weinlese einen Strohhut mit kaputtem Gummiband, aufgesetzt, warum bloß haben alle Strohhüte ein kaputtes Gummiband und warum fehlt fast allen Tassen ein Stückchen Henkel, er war sechs, sieben Jahre alt, er fand Glimmersteine und drehte sie hin und her, damit sie das Licht reflektierten, er konnte sich nicht vorstellen, dass sie von der zum Gebirge gewandten Veranda aus nicht bemerkten, wie er mit einer leeren Streichholzschachtel auf der Jagd nach Insekten in der Kletterpflanze war und niemals welche fing, er war nicht im März, bei Regen im Krankenhaus, er war im August in der kleinen Stadt, wenn sie ihn losschickten, Botengänge zu machen, wechselte er den Bürgersteig, bevor er das Haus erreichte, von dessen Stufen aus ihm Dona Lucrécia in ihrem Rollstuhl mit dem Spazierstock zuwinkte

– Komm mal her Junge

und niemand war da, der ihn beschützte, so wie ihn jetzt niemand beschützte, Dona Lucrécia erwartete ihn mitten auf der Station, in die man ihn brachte, er beschloss, vom Pfleger zu verlangen

– Werfen Sie zuerst einmal Dona Lucrécia raus

er hätte wetten mögen, dass eine muschelförmige Hand

– Was?

und die Zeitung kam mittags, mein Gott, wie sich alles wiederholt, was ist heute passiert, außer dem Krankenhaus und der Krankheit, immer, wenn der Großvater die Brille in die Tasche steckte, die Gewissheit, dass sich ein oder zwei Finger zusammen mit den Brillengläsern im Futter verloren, Dona Lucrécias Spazierstock

– Komm mal her Junge

und die Grimmigkeit der ununterbrochen kauenden Wangen, dieser Korridor, der nach der Apotheke in der kleinen Stadt roch, in der man sich erzählte, dass es früher im Winter bei der Schule Wölfe gegeben hatte, ihre Fußspuren waren auf dem Boden zu sehen und Überreste von Kälbern, die ihm nach der morgigen Operation glichen, eine Krankenhausärztin spähte durch die Tür wie früher seine Mutter, bevor sie das Licht ausmachte

– Schön ruhig sein

wenn das Licht brannte, die Mutter ohne Licht ein dunkler Umriss, Schritte, die sich in den Tausenden von Zimmern der Wohnung verteilten, oder keine Schritte, wie Perlen einer Kette, wenn die Schnur reißt, in wie viele Wesen die Mutter sich verwandelte, wenn sie wegging, Herrschaften, und keines blieb bei ihm, rettete ihn vor der Nacht, der Duft der Kompotte in der Speisekammer kam und ging, er war so dumm zu befehlen

– Duft bleib bei mir

fühlte sich noch einsamer und ängstlicher, was für eine merkwürdige Bezeichnung in Bezug auf ihn, Krebs, wie undenkbar zu sterben, und Sohlen, Sohlen in der kleinen Stadt, und eine Hündin steht da und schaut, auch wenn sie nicht weiß, was mit ihr passiert, ihr Geruchssinn weiß es, sie ahnen Unglück voraus, heulen mit zu den Hinterläufen zurückgeworfenem Hals, die Großmutter

– Hoffentlich hat der Schuster nicht zu viel getrunken damit er die Glocke ordentlich läutet

und vom Läuten der Totenglocke erschrecken die Tauben, wechseln zur verlassenen Kapelle über, kommen am Abend zurück und lassen sich auf den Giebeln des Rathauses nieder, ärgern sich über einen herabfallenden Kiefernzapfen und das fehlende Schmierfett der Gespanne, ein Esel bleibt unvermittelt mit gebleckten Zähnen stehen und schluchzt, schluchzt, der Großvater hört etwas, ohne das Geringste zu verstehen, und es ist, morgen operiere ich Sie, denn er blickt misstrauisch um sich, er sprach nie, wenn er herausfand, dass man über ihn redete, lächelte er, probier es mal mit dem Lächeln deines Großvaters, kein Lächeln, ein um Verzeihung bittender Gesichtsausdruck oder eine demütige Zustimmung, wenn er dich fütterte, hielt er dir den Löffel hin, und sein Mund rundete sich dabei, er wischte dich mit dem Taschentuch ab, ohne die Krümel zu treffen, fing wieder von vorn an

– Nur noch zweieinhalb

dies auf der zum Gebirge gewandten Veranda, und die Kastanienbäume still, das Geschirr still, fast alles still in der Kindheit, nur nicht die Pumpe, die Grünalgen aus dem Brunnen holte, das Knistern des Mais und der Verrückte, der, eine Wolldecke über den Schultern, den Ziegen verkündete

Die ganze Welt gehört mir ihr Armseligen kein Stern bewegt sich wenn ich es ihm nicht befehle

er im Krankenhaus benutzt keine Worte, wozu, der Verrückte hatte alles im Griff

– Bringen Sie mir das hier in Ordnung Borges

und im Wohnzimmer über dem Schlafzimmer schlug jemand kräftig mit den Absätzen, vergnügt, die Sätze unterstreichend, Senhor Borges ging um einen Bretterzaun herum, und das Buchenwäldchen verschluckte ihn, Nervosität versetzte ihm einen Krallenhieb aus Angst und Tränen ins Herz, schwierig, es heimlich im Gleichgewicht zu halten, kein Schrei, trotz so vieler Schreie in ihm, jede Geste, die er nicht machte, schrie, jede Kopfbewegung schrie, jedes Stück Haut am Betttuch schrie, würden die Absätze einen Augenblick lang schweigen, würden sie hören

– Was ist mit dem Kleinen los?

los ist, dass faule Zellen in den Eingeweiden ihn überfallen, die Lunge, die Knochen, die Leber zerstören, und als Seraphim verkleidete Kinder mit wacklig an die Schultern gehefteten Flügeln, wie schrecklich und komisch der Tod doch ist, er macht sich über dich lustig, verachtet dich, im Geschichtsbuch die Geburtsdaten und Todesdaten der Könige, die ihm gleichgültig waren, da es nicht seine waren, der Bischof schloss Dom João II. die Augenlider, und Dom João II.

– Noch nicht

die Urgroßeltern im Album ebenfalls

– Noch nicht

der mit dem Schnurrbart, der Glatzkopf, der in der Hauptmannsuniform mit Medaillen, wenn er eine Seite umblätterte, sofort ein vergilbtes

– Noch nicht

das er sich zu hören weigerte, das Herz geriet aus dem Gleichgewicht, ohne dass es ihm bewusst wurde, denn die Wangen nass, als der braune Ochse starb, mussten sie ihm die Knöchel brechen, damit er in die Grube passte, die Lider des Ochsen

Noch nicht

obwohl sie von Schmeißfliegen bedeckt waren, und wir kümmern uns nicht um sein Leiden oder die nassen Wangen, er erinnerte sich an den Klang der Erde auf der Trommel der Lende, an einen Regenwurm, den eine Hacke in zwei Teile getrennt hatte, die sich gegenseitig gierig verschlangen, und an die Eidechse, die lernte, ein Stein in einem Mauerspalt zu sein, und da spielte der Vater im Hotel der Engländer von der Wolframmine Tennis, und er rannte, um die Bälle zu finden, die über den Zaun hüpften, den letzten bekam er beim Schwimmbad zu fassen, wo eine blonde Ausländerin sich abtrocknete, und er stand da, den Ball an die Brust gedrückt,...

Erscheint lt. Verlag 2.5.2022
Übersetzer Maralde Meyer-Minnemann
Sprache deutsch
Original-Titel Sôbolos Rios Que Vao
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2022 • AlterEgo • Angst • Behandlung • eBooks • Erfahrung • Erinnerung • Gegenwartsliteratur • Krankenhaus • Krankheit • Krebs • Medizin • Neuerscheinung • Operation • Portugal • Roman • Romane • Schmerz • Überleben • Verzweiflung
ISBN-10 3-641-13707-1 / 3641137071
ISBN-13 978-3-641-13707-6 / 9783641137076
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