Der Schlaf in den Uhren (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
900 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77514-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Schlaf in den Uhren -  Uwe Tellkamp
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August 2015: Fabian Hoffmann, der einstige Dissident, steht als Chronist in Diensten der »Tausendundeinenachtabteilung« von Treva. Hier, in den Labyrinthen eines unterirdischen Reichs, arbeitet die »Sicherheit« an Aktivitäten, zu denen einst auch die Wiedervereinigung zweier geteilter Staaten gehörte. In diese Welt ist Fabian einem ihrer Kapitäne, Deckname »Nemo«, gefolgt, um herauszufinden, wer seine Schwester und seine Eltern verraten hat. Zugleich ist Fabian mit einer Chronik befasst, die zum 25. Jahrestag der Wiedervereinigung erscheinen soll. Doch es kommt anders. Fabian gerät auf eine Reise, die ihn tief in die trevische Gesellschaft und ihre Utopien hineinführt.

Er analysiert Ordnungsvorstellungen und Prinzipien der Machtausübung, die Verflechtungen von Politik, Staatsapparat und Medien, beobachtet die Veränderungen im alltäglichen Leben. Immer mehr löst sich dabei seine Chronik von ihrem ursprünglich amtlichen Auftrag, streift zurück bis in das Dresden seiner Kindheit, in die stillstehende Zeit vor zwei Epochenjahren. Auf seiner Suche nach Ordnung und Sinn kämpft Fabian gegen die Windmühlen der Macht, die Fälschungen der Wirklichkeit, den Verlust aller Sicherheiten - und gibt doch den Traum von einer befreiten Zukunft nicht verloren.



Uwe Tellkamp, geboren 1968 in Dresden, Romancier, Erz&auml;hler und Essayist, legte 2008 nach Erscheinen seines zweiten Romans, <em>Der Eisvogel</em> (2005), mit dem Roman <em>Der Turm</em> sein bislang umfangreichstes Prosawerk vor, in dem er die Vorwende- und Wende-Zeit der DDR zum Thema macht. Mit einem Ausschnitt aus dem Roman <em>Der Schlaf in den Uhren</em> gewann er 2004 den Ingeborg-Bachmann-Preis. Neben anderen Auszeichnungen wurde ihm 2008 der Uwe-Johnson-Preis, im selben Jahr der Deutsche Buchpreis und 2009 der Deutsche Nationalpreis zuerkannt. Eine Verfilmung des <em>Turms</em> erfolgte 2012.

I.Vigilie: Nemo


[unleserlich] … ist die Ordnung. Wir von der Sicherheit haben nie daran gezweifelt. Er ist das Wort, und das Wort ist bei Ihm, der alles sieht und hört, nichts bleibt Ihm verborgen. Wie uns. Wir sind die Mitarbeiter des Systems, das Ihm auf Erden am nächsten kommt, wir, die Sicherheit. Es wäre falsch, uns zu den Ungläubigen zu rechnen. Die besten Köpfe unserer Behörde und der Kirche, die uns für Feinde hält, haben das immer gewußt.

Schon nach der ersten Wegbiegung befiel mich die alte Unsicherheit. Hier unten war nichts mehr zu hören außer dem Rieseln und Tropfen des Wassers, hin und wieder ein Hallen wie von einer Sprengung, ein ferner Pfiff der Schwarzen Mathilde, deren Tunnel weiter oben durch den Berg verlief. Ich nahm den Helm ab und wischte mir den Schweiß von der Stirn, die Wetterschächte waren lange nicht mehr gewartet worden. Einzelne Lichter hingen wie Zitronen an den Stiegen und vor den mit römischen Ziffern gekennzeichneten, vom Felsendom abzweigenden Gängen, ich fischte einen Kiesel aus der Manteltasche, warf ihn in die Schwärze, erst nach Sekunden ein Aufprall, Echos aus zunehmender Tiefe.

Mich aus der Verfassung zu befreien, die mich ans Gestern heftet, scheint nicht nur unmöglich, sondern Verrat zu sein; der Alte vom Berge verwies mich in die Abteilung zur Klärung von Sachverhalten:

– Wir haben davon noch keinen Begriff, sagte er, wir stehen immer noch am Anfang unserer Forschungen.

Waren sie anfangs noch nach außen gerichtet, in das Andere, wie hier gesagt wird, so richteten sie sich inzwischen auf die Kohleninsel selbst, ins Innere, und vielleicht bin nur ich ein leidenschaftlicherer Erkunder gewesen als Altberg, einer meiner Lehrer, oder »Nemo«, Lektor und Chronist, er genoß die Protektion eines der mächtigsten Mandarine unserer Behörde, Marn, Leiter der Hauptverwaltung Aufklärung, des Lektorats I im Literaturkombinat.

Die Kohleninsel ein Labyrinth zu nennen wäre untertrieben, es gibt Labyrinthe auf mehreren vertikalen und horizontalen Ebenen, die den Archipelagus durchziehen, wie wir unser Gebiet vorzugsweise nennen. Der einfache und Staatsname erscheint uns unpassend und allzu oberflächlich. Wir dachten, wenn wir handelten, stets an das Ganze, nicht nur an den Klecks, dessen amtliche Bürger wir waren. Labyrinthe, manche in der Gestalt von Sternspindeln und Scheibengalaxien, deren Arme sich langsam und gleichmäßig in die Tiefe fraßen. Wie jede Behörde brauchten auch wir immer mehr Platz, die Abteilung Ozeanien glich, betrachtete man ihren Aufriß, einem Schneckenkegel, das Gerücht sagte, es sei möglich, von den Gängen unserer Kohleninseln zu denen der befreundeten Dienste zu gelangen, über Hunderte Kilometer, von unserer und von ihrer Seite gegraben. Labyrinthe, die ins scheinbare Nichts führen, seit Jahrzehnten tote Bereiche, die Totenkammern, wurde gesagt, wo nicht mehr im Umlauf befindliche Akten lagern und hinter verplombten Türen die Vergangenheit. In anderen Verzweigungen drangvolle Enge, viele der leitenden Mitarbeiter, sogar der Minister, hatten ihre Lieblingsaufenthalte, arbeiteten, wenn der Sommer oben zu heiß wurde, gern unter Tage, in der Stille der Welt hier unten.

Man mußte es beherrschen, wie eine Aufgabe oder ein Gedächtnis, dachte ich, dieses System, dieses Körpersystem aus Wegen, Schluchten, Verzweigungen. Wir hier unten sind die Liebhaber der Erinnerung und die Feinde des Vergessens. Es gibt bei uns eine der besten Bibliotheken, wir haben eine Neigung zur Geographie, zur Geschichte, die Kartenwerkstatt mit ihren Kupferstechern bekommt regelmäßig den Dank der Chefs und einen der begehrten Präsentkörbe.

– Gute Landkarten werden in Kupfer gestochen und auf Leinen gezogen, gute Landkarten, sagte der Alte vom Berge, werden für die Ewigkeit gemacht. Kostet uns ein Heidengeld, aber auch wir haben unsere Schwächen und Steckenpferde. Frag Meister Sperber nach seiner Sammlung menschlicher Abgründe. Ein schöner alter Geländeschnitt ist wenig gegen seine Kartographien.

Ich hatte einmal versucht, einen Lageplan zu zeichnen, doch hatte mich der Alte vom Berge an die ungeschriebenen Gesetze erinnert, eines davon wurde, wenn auch nicht offiziell, Sport und Spiel genannt, es wies auf die Freiheit hin, die das Auswendigwissen verschafft: Kenntnis und Gedächtnis, mit Mut verbrüdert, brauchten nichts Schriftliches, nichts, was etwas zeigte, und nichts, was verriet.

– Dabei sind wir hier unten auf Schriftliches versessen, sagte Altberg, nur was geschrieben ist, existiert, das ist auch eines der ungeschriebenen Gebote, ironischerweise. Man muß sich vor die Schreibmaschine setzen oder das Blatt Papier mit Handschrift bedecken, dann baut man sich hier eine Bleibe. Wir schätzen die Eleganz, wir ahnen, wo sie möglich wäre, aber wir begegnen ihr nur selten, hatte Altberg hinzugefügt, wir haben viel Sinn für Ästhetik. Während ich mit der Grubenlampe in die Gänge leuchtete, erinnerte ich mich daran, daß es auf der Kohleninsel Ost noch üblich war, Akten in preußischer und österreichischer Weise zu führen, letztere mit dem k.k. Aktenknoten versehen, viel verbindet uns mit Wien, und nicht nur der Minister hat bedauert, daß es von den sowjetischen Genossen, unseren Freunden, nicht besetzt geblieben ist. Eine Stadt wie geschaffen für uns. Ich verstehe, daß Altberg den Antrag gestellt hat, wieder Stahlfedern einzuführen, solches Schreibgerät, getaucht in die Kanzleitinte der Firma »Barock«, verbessert die Qualität der Texte ungemein, wobei es innerhalb der Kohleninsel die Blau- und die Schwarzfraktion gibt: Die einen bevorzugen das eigens für uns gemischte, zur Erhöhung der Farbbrillanz mit teuer importiertem Indigo statt einheimischem Färberwaid versetzte Dunkelblau, die anderen die Jahrhunderte überdauernde Eisengallustinte, die freilich den Nachteil hat, zu rosten und das Papier zu zerstören. Altberg und »Nemo« bringen es fertig, stundenlang vor alten Akten zu sitzen und sich an der Schönheit der Kanzleischrift zu berauschen, der Eleganz der Schnörkel und der Feinheit der Linien, mit denen man früher, als man noch wußte, daß Schnelligkeit allein nur Ungeduld ist, die Beute umgarnte. Eine Weile hat man hier unten erwogen, zur Sütterlinschrift zurückzukehren.

– Wenn uns die Amerikaner eines Tages doch kidnappen, sagte Altberg, werden sie nichts als Galimathias vorfinden. Die Amerikaner scheitern an der Sütterlinschrift. Sie wollen an unsere Stoffe und Hinterlassenschaften, sie glauben etwas vom Dritten Reich zu verstehen, wollen uns anzapfen, doch daraus wird nichts werden, wenn wir endlich beginnen, die Schrift der Väter zu übernehmen. Wissen Sie, daß Hitler die Fraktur gehaßt hat? Das sei die Schwabacher Judenletter. Und dabei hängt die Fraktur unabtrennbar am Dritten Reich, jeder halbwegs klischeebewußte Filmregisseur weiß das und läßt, wenn er Deutschland und Nazis inszenieren will, ein Schild mit Frakturschrift in die Kamera halten. Da steht dann natürlich »Arbeit macht frei« oder »Jedem das Seine« drauf, bestimmt nie »Ich liebe dich«. Die Fraktur ist unverdient gestorben, wir sollten ihr Gerechtigkeit widerfahren lassen. Jeder Grafiker wird Ihnen sagen, daß die Fraktur viel besser aussieht als die runden Schriften, die wir inzwischen benutzen. Das Leben schreibt sowieso in gebrochener Schrift. Aber man predigt tauben Ohren.

Meine hat er damit nicht gemeint. Wir in den Lektoraten haben die alte Schrift wieder eingeführt. Altberg verschwieg taktvoll, daß es auch auf der Kohleninsel Bequemlichkeit und Dummheit gibt, Verständnislosigkeit und sogar Feindseligkeit zwischen einzelnen Abteilungen, die Organisation Kleist wirft seit Jahr und Tag alles, was aus den Lektoraten kommt, in den Papierkorb, sie, die sich die Praktiker nennen, glauben, daß wir, die Theoretiker, wie sie sagen, nichts als unterbeschäftigte, überbezahlte Spinner sind, die von der Realität so weit entfernt kreisen wie Pluto von der Sonne.

Ich bin Mitarbeiter nicht nur der Lektorate, sondern auch der Chronik, des Zeitarbeiterkollektivs, wir haben unsere Neigungen hier unten, eine davon ist die Beschäftigung mit Uhren. Sie gehören zu den faszinierendsten menschlichen Erfindungen. Wir besitzen eine nicht unbedeutende Sammlung, und für die Uhrmacher aus Glashütte, Künstler ihres Fachs, haben wir immer viel...

Erscheint lt. Verlag 16.5.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bestseller bücher • buch bestseller • DDR • Deutscher Buchpreisträger • Ingeborg-Bachmann-Preisträger • Mauerfall • neues Buch • Spiegel-Bestseller-Liste • Wende • Wiedervereinigung
ISBN-10 3-518-77514-6 / 3518775146
ISBN-13 978-3-518-77514-1 / 9783518775141
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