Lektionen (eBook)

Spiegel-Bestseller

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022 | 2. Auflage
720 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61311-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Lektionen -  Ian McEwan
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Roland Baines ist noch ein Kind, als er 1959 im Internat der Person begegnet, die sein Leben aus der Bahn werfen wird: der Klavierlehrerin Miriam Cornell. Roland ist junger Vater, als seine deutsche Frau Alissa ihn und das vier Monate alte Baby verlässt. Es ist das Jahr 1986. Während die Welt sich wegen Tschernobyl sorgt, beginnt Roland, nach Antworten zu suchen, zu seiner Herkunft, seinem rastlosen Leben und all dem, was Alissa von ihm fortgetrieben hat.

Ian McEwan, geboren 1948 in Aldershot (Hampshire), lebt bei London. 1998 erhielt er den Booker-Preis und 1999 den Shakespeare-Preis der Alfred-Toepfer-Stiftung. Seit seinem Welterfolg ?Abbitte? ist jeder seiner Romane ein Bestseller, viele sind verfilmt, zuletzt ?Am Strand? (mit Saoirse Ronan) und ?Kindeswohl? (mit Emma Thompson). Ian McEwan ist Mitglied der Royal Society of Literature, der Royal Society of Arts, der American Academy of Arts and Sciences und Träger der Goethe-Medaille.

Ian McEwan, geboren 1948 in Aldershot (Hampshire), lebt bei London. 1998 erhielt er den Booker-Preis und 1999 den Shakespeare-Preis der Alfred-Toepfer-Stiftung. Seit seinem Welterfolg ›Abbitte‹ ist jeder seiner Romane ein Bestseller, viele sind verfilmt, zuletzt kamen ›Am Strand‹ (mit Saoirse Ronan) und ›Kindeswohl‹ (mit Emma Thompson) in die Kinos. Ian McEwan ist Mitglied der Royal Society of Literature, der Royal Society of Arts, der American Academy of Arts and Sciences und Träger der Goethe-Medaille.

Dies war die Erinnerung eines Schlaf‌losen, kein Traum. Wieder die Klavierstunde – der orangerot geflieste Boden, ein hohes Fenster und in dem kahlen Raum in der Nähe der Krankenstation ein neues Klavier. Er war elf Jahre alt und versuchte sich an Bachs erstem Präludium aus Band eins des Wohltemperierten Klaviers, vereinfachte Fassung; von diesen Bezeichnungen wusste er aber nichts. Er fragte sich nicht, ob das Stück berühmt war oder eher unbekannt. Es war ohne Zeit, ohne Herkunft. Dass sich jemand die Mühe gemacht hatte, diese Noten zu schreiben, wäre ihm nicht in den Sinn gekommen. Sie waren einfach da, die Musik ein Schulding, dunkel wie ein Kiefernwald im Winter, allein für ihn da, sein ureigenes Labyrinth kalter Sorgen. Er würde nie hinausfinden.

Direkt neben ihm auf der Klavierbank saß die Lehrerin. Rundes Gesicht, aufrecht, parfümiert, herb. Ihre Strenge verdeckte ihre Schönheit. Nie lächelte sie, blickte ihn nie verärgert an. Manche Jungen behaupteten, sie sei verrückt, aber das bezweifelte er.

Er machte einen Fehler, genau da, wo er ihn immer machte, und sie lehnte sich herüber, um ihm zu zeigen, wie es ging. Ihr Arm an seiner Schulter fest und warm, ihre Hände mit den lackierten Nägeln genau über seinem Schoß. Mit einem unangenehmen Kribbeln verebbte seine Aufmerksamkeit.

»Hör doch. Das hier muss leichter, fließender klingen.«

Doch als sie die Stelle spielte, hörte er kein leichtes Fließen. Ihr Parfüm betörte seine Sinne, machte ihn taub. Der schwere, süßliche Geruch, hart wie etwas Greifbares, wie ein abgeschliffener Flusskiesel, drängte sich in seine Gedanken. Zwei Jahre später fand er heraus, dass es Rosenwasser war.

»Noch einmal«, sagte sie mit leicht ansteigendem, warnendem Ton. Sie war musikalisch, er nicht. Er wusste, dass sie in Gedanken woanders war, dass seine Bedeutungslosigkeit sie langweilte – noch so ein tintenklecksender Internatsjunge. Seine Finger drückten die klanglosen Tasten. Er konnte die blöde Stelle auf der Seite sehen, ehe er sie erreichte; und es geschah, ehe es geschah, der Fehler kam ihm entgegen, die Arme ausgestreckt wie eine Mutter, bereit, ihn an sich zu drücken, immer derselbe Fehler, der ihn abholen kam, wenn auch ohne Hoffnung auf einen Kuss. Und so geschah es. Sein Daumen führte ein Eigenleben.

Gemeinsam hörten sie den falschen Ton zu rauschender Stille verhallen.

»Tschuldigung«, flüsterte er vor sich hin.

Ihr Missfallen äußerte sich als rasches Ausatmen durch die Nase, wie ein umgekehrtes Schniefen, das er nicht zum ersten Mal hörte. Ihre Finger fanden die Innenseite seines Oberschenkels, direkt unter dem Saum der grauen Shorts, und kniffen fest zu. Am Abend würde da ein winziger blauer Fleck sein. Ihre Hand fühlte sich kühl an, als sie unter seinen Shorts bis dahin hochwanderte, wo der Gummizug seiner Unterhose die Haut einschnürte. Er wich zurück, stand von der Bank auf und wurde rot.

»Setz dich. Noch mal von vorn!«

Ihre Strenge löschte aus, was gerade geschehen war. Es war vorbei, und schon zweifelte er an seiner Erinnerung, zauderte, eine weitere verstörende Kollision mit dem Verhalten der Erwachsenen. Nie sagten sie einem, was sie wussten. Sie verbargen vor einem die Grenzen ihrer eigenen Ignoranz. An dem, was geschehen war, was immer es auch gewesen sein mochte, musste er selbst schuld sein, und Ungehorsam widersprach seinem Naturell. Also setzte er sich, hob den Kopf, sah auf dem Papier die finstere Säule der untereinandergereihten Notenschlüssel und begann von vorn, noch holpriger als beim letzten Mal. Es konnte kein Fließen geben, nicht in diesem Wald. Allzu schnell näherte er sich wieder der blöden Stelle. Die Katastrophe war unentrinnbar, das Wissen darum machte sie unausweichlich, und so senkte sich sein idiotischer Daumen, als er hätte reglos bleiben sollen. Er hörte auf zu spielen. Der nachhallende Misston klang wie sein laut ausgesprochener Name. Sie packte mit Daumen und Fingerknöchel sein Kinn, drehte sein Gesicht zu ihr. Selbst ihr Atem roch nach Parfüm. Ohne den Blick abzuwenden, griff sie nach dem dreißig Zentimeter langen Lineal auf dem Klavierdeckel. Noch einmal würde er sich nicht schlagen lassen, aber als er von der Bank rutschte, um aufzustehen, sah er es nicht kommen. Sie erwischte ihn am Knie, mit der Kante, nicht mit der flachen Seite. Ein brennender Schmerz. Er wich einen Schritt zurück.

»Du tust, was ich dir sage. Setz dich!«

Es brannte, aber er würde nicht hingreifen, jetzt noch nicht. Er sah sie ein letztes Mal an, ihre Schönheit, ihre eng anliegende, hochgeschlossene Bluse mit den Perlknöpfen, die diagonalen, fächerförmigen Stoff‌falten rund um den Busen, darüber ihr ruhiger, korrekter Blick.

Er lief vor ihr davon, so schnell er konnte, lief an einer Kolonnade von Wochen, Monaten vorbei, bis er dreizehn und es spät am Abend war. Wie schon seit Monaten sah er sie in seinen Wachträumen vor dem Einschlafen, diesmal aber war es anders, das Gefühl wild, das kalte Flattern im Bauch das, was man wohl Ekstase nannte. Alles war neu, gut oder schlecht, und alles war seins. Nichts hatte sich je so mitreißend angefühlt, wie jenen Punkt zu überschreiten, an dem eine Umkehr unmöglich war. Zu spät, kein Zurück mehr, wen kümmerte es? Verblüfft kam er zum ersten Mal in die eigene Hand. Kaum hatte er sich erholt, setzte er sich im Dunkeln auf, stieg aus dem Bett und ging zur Toilette, zum ›Scheißhaus‹, um den milchigen Klecks in seiner Hand zu untersuchen, der Hand eines Kindes.

Dann gingen seine Erinnerungen in Träume über. Er zoomte näher heran, noch näher, durch das schimmernde Universum hinab zum Blick vom hohen Gipfel über einen fernen Ozean, ein Blick wie der des dicken Cortés in jenem Gedicht, das die ganze Klasse als Strafarbeit fünfundzwanzigmal abschreiben musste. Ein Meer sich windender Geschöpfe, kleiner als Kaulquappen, Millionen und Abermillionen, dicht gedrängt bis hin zum gewölbten Horizont. Noch näher, bis er in der Menge einen Bestimmten fand und ihm folgte auf seinem Weg, sah, wie er mit den Geschwistern um die Wette durch rosige, glatte Tunnel schwamm, alle anderen überholte, die erschöpft hinter ihm zurückblieben. Endlich war er angekommen, allein vor einem Rund, prachtvoll wie die Sonne, sich langsam im Uhrzeigersinn drehend, gelassen und voller Wissen, gleichmütig wartend. Wenn nicht er, dann würde es jemand anders sein. Und als er durch dichte blutrote Vorhänge eindrang, kam aus der Ferne ein Heulen, dann plötzlich das Sonnengesicht eines schreienden Babys.

Er war ein erwachsener Mann, ein Dichter, zumindest sah er sich gern als solcher, der sich, verkatert und mit Fünf-Tage-Bart, aus den Untiefen eines kurzen Schlummers erhob und vom Schlafzimmer ins Zimmer des schreienden Babys taumelte, es aus dem Bettchen hob und an sich drückte.

Dann war er unten im Haus, das Kind, in eine Decke gewickelt, schlief an seiner Brust. Ein Schaukelstuhl und auf dem Couchtisch daneben ein Buch über die Probleme der Welt, das er sich gekauft hatte, obwohl er wusste, dass er nie dazu kommen würde, es zu lesen. Er hatte eigene Probleme. Er saß vor dem Verandafenster und blickte durch die feuchte, diesige Dämmerung in einen schmalen Londoner Garten auf einen einsamen kahlen Apfelbaum. Links davon eine umgestürzte grüne Schubkarre, die seit irgendeinem vergessenen Tag im Sommer nicht mehr bewegt worden war. Etwas näher ein runder Metalltisch, den er schon seit einer Ewigkeit lackieren wollte. Der kalte, späte Frühling ließ noch nicht erkennen, dass der Baum tot war, dieses Jahr würden keine Blätter mehr sprießen. In der heißen, drei Wochen anhaltenden Dürre im vergangenen Juli hätte er ihn trotz Sprengverbot retten können, aber er war zu beschäftigt gewesen, um Eimer mit Wasser durch den Garten zu schleppen.

Er schloss die Augen, und sein Kopf sank nach hinten, doch schlief er nicht, sondern erinnerte sich wieder. Hier das Präludium, wie es gespielt werden sollte. Lang her, dass er dort war, wieder elf, und mit dreißig Jungen zu einer alten Wellblechbaracke lief. Sie waren zu jung, um zu verstehen, wie elend ihnen war, und zum Reden war ihnen zu kalt. In kollektivem Zaudern bewegten sie sich wie ein corps de ballet im Gleichklang und eilten stumm einen steilen Rasenabhang hinab, um sich im Dunst aufzustellen und gehorsam auf den Beginn des Unterrichts zu warten.

Drinnen, genau in der Mitte, stand ein Kohleofen, und kaum aufgewärmt, gerieten die Jungen außer Rand und Band. Hier konnten sie das, anders als sonst, denn der Lateinlehrer, ein kleiner freundlicher Schotte, hatte die Klasse nicht im Griff. An der Tafel stand von seiner Hand: Exspectata dies aderat. Darunter in der krakeligen Schrift eines Jungen: Der lang erwartete Tag ist gekommen. In eben dieser Baracke, so war ihnen erzählt worden, hatten sich Männer in ernsteren Zeiten einst auf den Krieg zur See vorbereitet und die Mathematik des Minenverlegens gelernt. Hier erledigten sie auch ihre Schularbeiten. Und hier und jetzt stolzierte ein großer Junge, ein berüchtigter Schulhof‌tyrann, zur Tafel, beugte sich vornüber und bot sardonisch grinsend seinen Hintern dar, auf das der vom Schotten halbherzig mit einem Turnschuh vertrimmt wurde. Jubelrufe für den Halbstarken; niemand sonst hätte sich das getraut.

Als Lärm und Chaos anschwollen und etwas Weißes über die Tische segelte, fiel ihm ein, dass Montag war – wieder einmal, dieser lang erwartete...

Erscheint lt. Verlag 28.9.2022
Übersetzer Bernhard Robben
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • 21. Jahrhundert • abbitte • Affäre • Autobiografisch • Barpianist • Berlin • Bestseller • Brexit • Britisch • britische Literatur • Corona • DDR • Deutschland • Dissident • Ehe • England • Englische Literatur • englischer Autor • Familie • Familiengeheimnisse • Geschichte • Internat • Klavier • Klavierunterricht • Krebs • Kuba-Krise • Lehrerin • Leidenschaft • Libyen • Liebe • Liebenau • Literaturbetrieb • London • Mauerfall • Militär • Missbrauch • Murnau • Mutterschaft • Offizier • Ost-Berlin • Pandemie • Politik • Schriftstellerin • Sehnsucht • Sexueller Missbrauch • Stasi • Trauer • Unschuldige • Vaterschaft • Weiße Rose • Wende • Widerstand
ISBN-10 3-257-61311-3 / 3257613113
ISBN-13 978-3-257-61311-7 / 9783257613117
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