Geschichte des Balkans (eBook)

Von den Anfängen bis zur Gegenwart
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
130 Seiten
Verlag C.H.Beck
978-3-406-80675-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Geschichte des Balkans -  Marie-Janine Calic
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'Der Balkan', soll Winston Churchill bemerkt haben, 'produziert mehr Geschichte, als er verarbeiten kann.' Ganz unterschiedliche Reiche, Religionen und Sprachgruppen haben den Raum zwischen den slowenischen Alpen, dem Schwarzen Meer und der Ägäis über Jahrhunderte geprägt. Dadurch ist eine einzigartige ethnische, religiöse und kulturelle Vielfalt entstanden. Bis heute sind Konflikte über Staaten, Grenzen und nationale Identitäten ungelöst, wie sich zuletzt bei der blutigen Auflösung Jugoslawiens gezeigt hat. Die renommierte Südosteuropa-Expertin Marie-Janine Calic führt in die ebenso faszinierende wie wechselhafte Geschichte der Region ein und hilft dabei, Mythen und Legenden von Fakten zu unterscheiden. Denn ohne Kenntnis der Vergangenheit lassen sich die Länder des Balkans nicht verstehen.

Marie-Janine Calic lehrt als Professorin für ost- und südosteuropäische Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Bei C.H.Beck sind von ihr erschienen: "Geschichte Jugoslawiens" (2020), "Südosteuropa" (2019), "Tito" (2022).

2. Begriffe, Konzepte, Forschungstraditionen


Was uns der Balkan angeht


Am südöstlichen Rand Europas gelegen, nimmt die Balkanhalbinsel eine bedeutende geostrategische Position zwischen Europa und Asien ein. Seit der Antike strebten fremde Mächte danach, die Region zu beherrschen, um die militärisch und ökonomisch bedeutenden Verkehrsverbindungen zu kontrollieren sowie Bodenschätze, landwirtschaftliche Erzeugnisse und Arbeitskräfte auszubeuten. Für die Balkanvölker wurde jahrhundertelange Fremdherrschaft zum Schicksal.

Als im 14. Jahrhundert die Osmanen nach Europa drängten, betrachtete die christliche Welt den Balkan als Bollwerk gegenüber dem Islam. Jedoch hielt die Antemurale Christianitatis dem Ansturm nicht lange stand; schon bald verlief die Kulturgrenze zum Orient mitten durch das südöstliche Europa. Die frühneuzeitliche Türkenfurcht wurde zum Instrument innerer macht- und religionspolitischer Auseinandersetzungen. Zudem haben Kreuzzüge und Türkenkriege das westliche Bild vom Orient, antiislamische Vorurteile eingeschlossen, dauerhaft geprägt.

Im 19. Jahrhundert wurde die Zukunft des Osmanischen Reiches, des «kranken Mannes am Bosporus», zum erstrangigen internationalen Problem, das bis heute nachwirkt. Weil der Sultan im Zeitalter des Nationalismus immer mehr Länder aufgeben musste, stritten sich die europäischen Mächte um sein Erbe, teils diplomatisch, teils mit kriegerischer Gewalt. Die Einschätzung Bismarcks, der Balkan sei «nicht die gesunden Knochen eines einzigen pommerschen Grenadiers wert», war bald überholt. Denn als es im Zeichen des Imperialismus um die Aufteilung der Welt in Einflusssphären ging, wirkte sich jegliche Veränderung in der Balkanregion auf das internationale System aus. Nur so lässt sich erklären, dass das Attentat von Sarajevo 1914 den Ersten Weltkrieg entfesseln konnte.

Auch im 20. Jahrhundert behielt der Balkan seine herausragende Bedeutung für die internationale Politik: Während des Kalten Krieges verlief der Eiserne Vorhang mitten durch sein Territorium. Mit den Ostblockländern Rumänien, Bulgarien und anfangs auch Albanien, den beiden NATO-Mitgliedern Griechenland und Türkei sowie dem blockungebundenen Staat Jugoslawien bildete die Region die Konstellation der bipolaren Weltordnung «in der Nussschale» ab. Es handelte sich weiterhin, wie es ein amerikanischer Diplomat formulierte, um «eines von drei bis vier Gebieten, mit denen man, wenn man es schlecht anstellte, einen Weltkrieg … auslösen» konnte.

Wer glaubte, nach dem Ende des Kommunismus habe Südosteuropa seine geopolitische Bedeutung verloren, wurde bald belehrt. Der gewaltsame Zerfall Jugoslawiens löste 1991 den ersten Krieg nach 1945 auf europäischem Boden aus. Mehr als 100.000 Menschen kamen durch ihn zu Tode, Millionen verloren ihre Heimat, Hunderttausende flohen ins Ausland. Der NATO-Luftkrieg in Kosovo und Serbien 1999 erhob die «humanitäre Intervention» zum völkerrechtlich verankerten Prinzip. Erstmals beteiligte sich die Bundeswehr an einem Kampfeinsatz; seitdem darf sie militärische Gewalt auch jenseits der Landesverteidigung einsetzen. Deutschland hat dadurch seine außen- und sicherheitspolitische Rolle grundsätzlich neu definiert.

Seit Jahrzehnten leben Millionen Menschen mit einem Balkanhintergrund in Deutschland und anderen EU-Ländern. Dazu zählen zuallererst die Familien der früheren Gastarbeiter, die hier seit Jahrzehnten zu Hause sind. Hinzu kommen jene, die die Region nach 1989/90 als Geflüchtete, als Arbeitsmigranten oder infolge von Braindrain verlassen haben. Jeder vierte Bürger aus den Westbalkanstaaten lebt heute in der EU, insgesamt etwa 4,6 Millionen Menschen. Ihre Heimatländer bilden geographisch gesehen den «Innenhof Europas», wie es ein Politiker ausdrückte. Die rund 17,5 Millionen Balkanbewohner besitzen eine europäische Perspektive, werden also früher oder später unsere Mitbürger in der EU sein.

Dass dem Balkan auch heute noch eine «geostrategische Schlüsselbedeutung» zukommt, wie es in den Erklärungen der EU steht, hat nicht erst der Ukraine-Krieg in Erinnerung gerufen. In den letzten Jahren haben China, Russland, die Türkei und die Golfstaaten mit billigen Krediten, medialer Desinformation und religiöser Mission größeren Einfluss gewonnen. Die Region wurde zum Einfallstor fremder Interessen, die Europa beunruhigen, und zum Schauplatz eines «New Great Game», durch das die Konstellationen der künftigen multipolaren Welt neu ausgehandelt werden.

Abgesehen davon, dient die südöstliche Halbinsel als Transitraum der außereuropäischen Welt: Grenzüberschreitende Kriminalität, Migration und hybride Bedrohungen fanden und finden ihren Weg über die Balkanroute nach Westeuropa. So haben die Konflikte in Nah- und Mittelost Hunderttausende Asylsuchende dort entlanggetrieben; Tausende strandeten an den EU-Außengrenzen oder in Aufnahmelagern der Region. Nicht zuletzt in ihren menschlichen Dimensionen ist die jüngste Geschichte der Region also eng mit der unseren verflochten.

Balkan, Südosteuropa, Westlicher Balkan


Wer in früheren Zeiten auf dem Landweg von Mitteleuropa nach Konstantinopel reiste, musste eine – bis ins 19. Jahrhundert weitgehend unerforschte – Bergkette namens «Balkan» überwinden. Geographen stellten sie sich als natürliche Barriere vor, die vom Schwarzen Meer bis zu den Alpen verlaufe und die südöstliche Halbinsel Europas vom übrigen Kontinent separiere. Dieser Irrtum reicht bis in die griechische Antike zurück, als das Gebirge noch Haemus hieß. Tatsächlich durchquert es aber lediglich Bulgarien und heißt dort Stara planina (Altes Gebirge). Wo der Name «Balkan», der aus dem Wortschatz der Osmanen stammt, herkommt, ist nicht ganz geklärt. Er soll «steiles Gebirge» oder «bewaldeter Berg» bedeutet haben. Die Türken sprachen ihrerseits von «Rumelien», dem «römischen Land», da sie es einst von Byzanz (Ostrom) erobert hatten.

Bis zum 19. Jahrhundert kannte man in Westeuropa nur die «Europäische Türkei». Erst der Berliner Geograph Johann August Zeune prägte 1808 den Begriff der «Balkanhalbinsel», als es üblich wurde, Großregionen nach natürlichen Gegebenheiten zu benennen. Dies suggerierte einen geographisch-historisch-kulturell zusammengehörigen Raum, analog zur Iberischen Halbinsel oder dem Kaukasus. Andere Gelehrte, die den geographischen Irrtum erkannten, schlugen vor, korrekter von der «südosteuropäischen Halbinsel» zu sprechen, so der österreichische Diplomat und Gelehrte Johann Georg von Hahn im Jahr 1861. Aber einmal eingeführt, bürgerte sich der griffige Name «Balkanhalbinsel» oder einfach «der Balkan» im allgemeinen Sprachgebrauch ein.

Im turbulenten Jahrhundert zwischen dem ersten serbischen Aufstand (1804) und den Balkankriegen (1912/13) wurde der Balkan zum sprichwörtlichen Pulverfass. Die Völker kämpften für Freiheit und unabhängige Nationalstaaten, weshalb die europäische Öffentlichkeit vornehmlich Krisen, Konflikte und andere Kalamitäten wahrnahm. Weil das Osmanische Reich immer mehr Gebiete an die neu entstandenen Nationalstaaten verlor, sprachen die Großmächte jetzt von Balkanisierung. Die bis heute gebräuchliche Metapher bezeichnete zerfallende innere Ordnung und Kleinstaaterei sowie, in den Worten des Journalisten Paul Scott Mowrer, «eine von verschiedenen Rassen hoffnungslos durchmischte Region». So wurde der Balkan zum Synonym für Rückständigkeit, Irrationalität und Ethnogewalt. Historische Klischees flossen in die mentale Landkarte mit ein, gespeist aus dem mittelalterlichen Konflikt zwischen West- und Ostkirche, den frühneuzeitlichen Türkenkriegen und der seit Jahrhunderten gärenden Rivalität zwischen Christentum und Islam. Als Jugoslawien in den 1990er Jahren gewaltsam zerbrach, kehrten die stereotypisierenden Narrative und Deutungsmuster zurück.

Aufgrund der negativen Konnotationen ist die Bezeichnung «Balkan» in der Region nicht wohlgelitten. Lieber versteht man sich als Teil Südost- oder Mitteleuropas, was irgendwie zivilisierter klingt. Bereits in den 1980er Jahren beriefen sich die oppositionellen Intellektuellen in Ungarn, Polen und der Tschechoslowakei auf «Mitteleuropa», um sich von Russland abzugrenzen, dem aus ihrer Sicht fremden, barbarischen Osten. Sie nahmen für sich die Tradition einer zivilisierten bürgerlich-liberalen Kultur und humanen Lebensart in Anspruch. Auch Slowenen, Kroaten und Rumänen sehen sich heute gerne als Mitteleuropäer, bestenfalls aber als Südosteuropäer.

Erst nach dem Zerfall Jugoslawiens kam in den 1990er Jahren mit dem «Westlichen...

Erscheint lt. Verlag 13.7.2023
Reihe/Serie Beck'sche Reihe
Beck'sche Reihe
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Regional- / Landesgeschichte
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Schlagworte Ägäis • Albanien • Alpen • Balkan • Balkanhalbinsel • Bulgarien • ethnische Vielfalt • Geschichte • Grenzen • Griechenland • Jugoslawien • Konflikte • Kosovo • Kroatien • Legenden • Mazedonien • Mythen • nationale Identitäten • Osmanisches Reich • Reiche • Religionen • Schwarzes Meer • Serbien • Slowenien • Sprachgruppen • Staaten • Südosteuropa
ISBN-10 3-406-80675-9 / 3406806759
ISBN-13 978-3-406-80675-9 / 9783406806759
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