Eine Arbeiterin -  Didier Eribon

Eine Arbeiterin (eBook)

Spiegel-Bestseller
Leben, Alter und Sterben | Das große neue Buch des Autors von »Rückkehr nach Reims«
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
272 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77866-1 (ISBN)
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»Das ist also das Leben meiner Mutter gewesen, dachte ich, das Leben und das Alter einer Arbeiterin. Noch wusste ich nicht, dass ich dieser Aufzählung bald ein drittes Wort würde hinzufügen müssen.«

Eigentlich hatte Didier Eribon sich vorgenommen, ab jetzt regelmäßig nach Fismes zu fahren. Doch seine Mutter stirbt wenige Wochen nach ihrem Umzug in ein Pflegeheim in dem kleinen Ort in der Champagne. Wie in Rückkehr nach Reims wird dieser Einschnitt zum Ausgangspunkt für eine Reise in die Vergangenheit. Eribon rekonstruiert die von Knappheit und Zwängen bestimmte Biografie einer Frau, die an einen brutalen Ehemann gekettet blieb und sich sogar in ihren Träumen bescheiden musste. »Meine Mutter«, hält er fest, »war ihr ganzes Leben lang unglücklich.«

Didier Eribons neues Buch ist hochpolitisch: Er legt schonungslos dar, wie sehr die Politik, aber auch die Philosophie, ja wir alle die skandalöse Situation vieler alter Menschen lange verdrängt haben. Zugleich erweist er sich erneut als großer Erzähler: Anhand suggestiver Episoden und berührender Erinnerungen zeigt er, wie wichtig Familie und Herkunft für unsere Identität sind. Er kauft ein Dialekt-Wörterbuch, um noch einmal die Stimme seiner Mutter im Ohr zu haben. So entfaltet der Soziologe das Porträt einer untergegangenen Welt: des Milieus der französischen Arbeiterklasse - mit ihren Sorgen, ihrer Solidarität, ihren Vorurteilen.



Didier Eribon, geboren 1953 in Reims, ist ein franz&ouml;sischer Soziologe, Autor und Philosoph. Sein im Original 2009 erschienenes Buch <em>R&uuml;ckkehr nach Reims</em> (st 5313) machte ihn 2016 auch im deutschsprachigen Raum ber&uuml;hmt. Der autofiktionale Essay wurde als literarisches Ereignis und als Schl&uuml;sseltext zum Aufstieg des Rechtspopulismus rezipiert.

1


Am Ende bin ich also nur zwei Mal in Fismes gewesen. Und dies zu einer Zeit, als ich noch dachte, dass dieser dreißig Kilometer nordwestlich von Reims gelegene Ort mit seinen paar tausend Einwohnern über Monate oder sogar Jahre hinweg einer der Bezugspunkte meines Lebens sein würde.

Damals nahm ich mir vor, irgendwann das Rathaus zu besichtigen, das 1912 errichtet, wenig später im Ersten Weltkrieg fast vollständig zerstört und in den zwanziger Jahren im selben Stil der Spätrenaissance wiederaufgebaut worden war. Ich würde hinter diesem merkwürdig imposanten Gebäude durch eine halb dörfliche, halb städtische Kulisse spazieren, würde den Markplatz mit seinen Geschäften und hohen Häusern überqueren, von denen manche stolz die gleichen Art-déco-Fassaden zur Schau stellten wie die Häuser im Zentrum von Reims, in derselben Epoche und unter denselben Umständen erbaut worden waren. Ich malte mir aus, wie ich den Zeitungsladen betrat, in dem man auch Bücher, Schreibwaren und Geschenkartikel kaufen konnte und in dessen Schaufenster in einem heillosen Durcheinander die jüngsten Bände der in der Bibliothèque de la Pléiade erschienenen Faulkner-Gesamtausgabe standen, ein Pappaufsteller von Gallimard, auf dem eine Neuerscheinung beworben wurde, sowie zahlreiche Selbsthilfebücher, Reise- und Restaurantführer, Landkarten und Unterhaltungsromane, die mit ihren grellen Covern den Blick auf sich zogen; wie ich dort vielleicht für meine Mutter eine Illustrierte oder die Regionalzeitung kaufen und mich dann während ihres Mittagsschlafs für ein, zwei Stunden in das Café gegenüber setzen würde, um darin zu blättern, bevor ich das Buch las, das ich dabeihatte. Ich stellte mir vor, wie ich den Straßen folgte, die recht bald und übergangslos zu Landstraßen wurden; wie ich zu Fuß zum Pont de Fismette ging, weil ich bei meinen Recherchen zur Ortsgeschichte und -geografie gelesen hatte, dass die Brücke 1918 bei schweren Kämpfen zwischen den deutschen Truppen und einem Bataillon der US-Streitkräfte zerstört worden war, Mann gegen Mann mit Bajonetten und sogar Flammenwerfern, mit erschreckend hohen Opferzahlen auf beiden Seiten. 1928 hatte der Bundesstaat Pennsylvania eine neue Brücke mit zwei großen Statuen auf Säulen gestiftet, als Denkmal – eines von vielen in der Region – für die Opfer dieses mörderischen Wahns. Unvorstellbar, dass dieser heute so ruhige, friedliche Ort, an dem an diesen beiden Sommernachmittagen eine nahezu vollkommene Stille herrschte, nur hin und wieder unterbrochen vom Motorengeräusch eines Autos, Lkws oder Traktors, ein Jahrhundert zuvor Schauplatz einer solchen Entfesselung von Lärm und Wut, Gewalt und Grauen gewesen war, über Jahre hinweg, bis zu den letzten Monaten, letzten Tagen, letzten Stunden eines Gemetzels, das der große Jean Jaurès vergeblich zu verhindern versucht hatte, bevor er seine Hellsichtigkeit und sein mutiges Engagement mit dem Leben bezahlte. Die Gedenkbrücke wurde ihrerseits beim deutschen Einmarsch 1940 zerstört und in den fünfziger Jahren identisch wiederaufgebaut. Ich musste mir dieses Monument, das auf Fotos gleichzeitig sehr schön und sehr traurig wirkt, unbedingt einmal ansehen. Ob historische Dokumente oder Bücher existierten, die einen Überblick über die Geschichte dieses großen Dorfs und der umliegenden Orte gaben? Beim nächsten Mal würde ich mich im Zeitungsladen danach erkundigen.

All diese Pläne blieben Träumereien. In gewisser Hinsicht ist Fismes für mich nur ein Name. Ein flüchtiger Ort in meinen Gedanken. Ich habe es bereits gesagt: Ich bin nur zwei Mal dort gewesen. An zwei aufeinanderfolgenden Tagen. Es war im August. Damals glaubte ich, ich würde von nun an regelmäßig hinfahren, um meine Mutter zu besuchen, nachdem meine Brüder und ich endlich einen Platz in einem Pflegeheim für sie gefunden hatten. Wir hielten es für die einzige Lösung. Wir sprachen bereits seit einer ganzen Weile davon. Anfangs war es um ein kleines Apartment gegangen, in dem Flügel eines Seniorenheims, in dem alte Menschen lebten, die ihre Selbstständigkeit und Mobilität noch nicht eingebüßt hatten. Meine Mutter willigte ein. Einer meiner Brüder begleitete sie, damit sie das Heim besichtigen und entscheiden konnte, ob es ihr zusagte, nachdem der für die Einrichtung zuständige Arzt sein Einverständnis gegeben hatte. Das Heim lag am Rand eines noch unfertigen Neubaugebiets neben dem großen alten Dorf Bezannes mit seiner wunderschönen romanischen Kirche aus dem 11. Jahrhundert in der Ortsmitte. Kurz zuvor war hier mitten auf dem Feld ein neuer TGV-Bahnhof entstanden, als regionaler Haltepunkt für alle Schnellzüge, die von Paris-Est aus nach Straßburg oder Luxemburg fuhren. Das Altenheim und die wenigen anderen Gebäude, die man in seiner Umgebung aus dem Boden gestampft hatte, waren modern, aber sie lagen abseits und bildeten – zumindest damals – eine kalte, unmenschliche Kulisse (wie aus einem Film von Jacques Tati). Meine Mutter weigerte sich: »Da will ich nicht hin!«, was mich nicht überraschte.

Mein Bruder war wütend. Er hatte sich um den Papierkram gekümmert, fehlende Dokumente besorgt, stapelweise Formulare ausgefüllt (bevor man es nicht selbst erlebt, hat man keine Vorstellung, mit wie viel Bürokratie so ein Umzug ins Altenheim verbunden ist) und war mit meiner Mutter zur Besichtigung gefahren. Ich wandte ein, dass sie diejenige war, die dort leben müsse, und es deshalb ihre Entscheidung sei.

Zwei Jahre später änderte meine Mutter ihre Meinung. Jetzt war sie einverstanden mit dem Umzug, den sie zuvor abgelehnt hatte. Doch so einfach war das nicht: Erst musste der Arzt wieder sein Einverständnis geben. Er merkte gleich, dass ihr Zustand sich stark verschlechtert hatte und dass sie, trotz ihrer verzweifelten Bemühungen, ihn vom Gegenteil zu überzeugen – sie versuchte krampfhaft, den absurden Aufforderungen meines Bruders zu folgen –, nur noch mit Mühe gehen konnte. Diesmal war der Arzt derjenige, der ablehnte. Und damit meine Mutter im anderen Teil des Seniorenheims unterkommen konnte, dem für Menschen mit eingeschränkter Mobilität, waren nicht nur weitere bürokratische Schritte nötig, sondern es musste auch ein freies Zimmer geben. Es gab keins. Wir redeten nicht mehr davon. Oder besser gesagt, wir redeten ständig davon, beschäftigten uns ständig damit, ohne zu einer Entscheidung zu kommen. Dabei ging es nicht anders! Was war die Alternative? Meine Mutter konnte das Haus nicht mehr verlassen und sich nur noch mit großen Schwierigkeiten durch die Wohnung bewegen. Schon mehrmals war sie nachts auf dem Weg zur Toilette oder morgens in der Dusche gestürzt. Von Mal zu Mal wurde es schlimmer.

An einem Sonntag war ich auf dem Weg zu ihr und rief sie nach meiner Ankunft am Bahnhof an. Sie ging nicht dran. Im Bus auf dem Weg nach Tinqueux, der an Reims angrenzenden Kleinstadt, in der sie damals lebte, versuchte ich es erneut. Vor dem vergitterten Tor, hinter dem schön gestaltete, fast neue Mietshäuser mit Sozialwohnungen um einen Hof gruppiert waren, klingelte ich an der Gegensprechanlage. Wieder keine Antwort. Irgendwann machte mir ein Nachbar auf. Ich stieg die Treppen hoch zu ihrer Wohnung im dritten Stock und klingelte an der Tür. Ich hörte sie rufen: »Ja, fünf Minuten!«, aber sie machte mir nicht auf. Ich rief durch die Tür: »Mach auf! Was ist los? Ist alles in Ordnung?« Sie antwortete immer wieder, mit seltsamer Stimme: »Ja, ja, fünf Minuten.« Irgendwann sagte ich: »Wenn du nicht aufmachst, rufe ich die Feuerwehr.« – »Fünf Minuten.« Nach einer halben Stunde verständigte ich die Feuerwehr. Die Tür war abgesperrt, der Schlüssel steckte von innen im Schloss. Die Feuerwehrleute konnten die Tür nicht aufbrechen: zu schwer, zu massiv. Sie hätten den Rahmen aus der Wand schlagen müssen. Daraufhin fuhren sie die Drehleiter an der Außenwand aus und verschafften sich Zugang zur Wohnung, indem sie die Scheibe der Balkontür einschlugen. Dann öffneten sie mir von innen. Meine Mutter lag auf dem Boden. Sie war gestürzt und nicht wieder hochgekommen. Als ich geklingelt hatte, war sie in den Flur gerobbt, aber es war ihr nicht gelungen, sich aufzurichten oder hinzuknien, um den Schlüssel im Schloss zu drehen. Sie war nackt. ...

Erscheint lt. Verlag 10.3.2024
Sprache deutsch
Original-Titel Vie, vieillesse et mort d’une femme du peuple
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Altenpflege • Alter • Annie Ernaux • Arbeiterklasse • Armut • Deniz Ohde • Dialekt • Édouard Louis • Fabrikarbeiter • Familie • Herkunft • Identität • Klasse • Milieustudie • Mutter • Pflegeheim • Philosophie • Rückkehr nach Reims • Tod
ISBN-10 3-518-77866-8 / 3518778668
ISBN-13 978-3-518-77866-1 / 9783518778661
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