Traumatisierung durch politisierte Medizin

Geschlossene Venerologische Stationen in der DDR
Buch | Softcover
255 Seiten
2015 | 1. Auflage
MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft
978-3-95466-240-1 (ISBN)
19,95 inkl. MwSt
In der DDR kam es zu Zwangseinweisungen von Mädchen und Frauen ab dem zwölften Lebensjahr in geschlossene Venerologische Stationen. Die medizinischen Behandlungen und der Aufenthalt in den Stationen führten zu schweren Traumatisierungen der Zwangseingewiesenen. Allein der Verdacht auf eine Geschlechtskrankheit oder eine Denunziation reichten aus, um von der Polizei oder der Heimleitung auf eine solche Station gebracht zu werden.

Auf den Stationen wurde durch eine politisierte Medizin ohne Aufklärung und Einwilligung der Zwangseingewiesenen in die körperliche Integrität der Mädchen und Frauen eingegriffen. Obwohl 70 Prozent nachweislich keine Geschlechtskrankheit hatten, mussten alle Mädchen und Frauen täglich eine gynäkologische Untersuchung über sich ergehen lassen. In einigen Stationen mussten die Zwangseingewiesenen Arbeiten verrichten. In anderen Stationen wurden die Mädchen und Frauen asyliert und von der Außenwelt isoliert. In einem hierarchisch organisierten Terrorsystem wurden die Zwangseingewiesenen körperlich wie psychisch gedemütigt und traumatisiert. Diese Traumatisierungen wurden transgenerational weitergegeben.

Am Beispiel von Berlin, Berlin-Buch, Dresden, Halle (Saale) und Leipzig werden die Entstehung der Stationen in der Sowjetischen Besatzungszone, der Alltag auf den geschlossenen Venerologischen Stationen sowie die traumatischen Folgen der Zwangseinweisungen beschrieben. Für diese Rekonstruktion führten die Autoren neben umfangreichen Archivrecherchen Interviews mit ehemaligen Zwangseingewiesenen sowie mit Ärzten, Krankenschwestern und Mitarbeitern der geschlossenen Venerologischen Stationen durch.

Prof. Dr. Florian Steger, Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin, Medizinische Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Dr. rer. pol. Maximilian Schochow, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Medizinische Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Deutsches Ärzteblatt25/2016
Zwangsbehandlung in der DDR: Traumatisierende gynäkologische Übergriffe

Das Buch schlägt ein unbekanntes Kapitel der DDR-Medizin auf: Berichtet wird über die Zwangseinweisung und Zwangsbehandlung von Mädchen und jungen Frauen, die unter Verdacht einer Geschlechtskrankheit standen. Wie sich durch die Untersuchungen herausstellte, traf dieser Befund nur auf ein Drittel der Betroffenen zu. Tatsächlich waren es nicht konforme Mädchen und junge Frauen, die vermutlich von Angehörigen denunziert wurden. Sie sollten in diesem Kontext zu sozialistischen Persönlichkeiten umerzogen werden. Die durchschnittlich sechswöchige Prozedur fand unter gefängnisähnlichen Bedingungen statt. Manche Chefärzte, wie der in der geschlossenen Venerologischen Station der Poliklinik Mitte in Halle (genannt „Tripperburg“), waren übereifrig. Tägliche gynäkologische Untersuchungen (Verletzungen waren dabei nicht selten), Gaben von Medikamenten, die Fieber verursachten, sollten den stationären Aufenthalt rechtfertigen. Verstöße gegen die Hausordnung wurden mit harten Strafen geahndet. Die Mädchen und Frauen wurden diszipliniert, verwahrt und schriftlich zur Verschwiegenheit verpflichtet. Somit sollten sie mundtot gemacht werden.

Neben der Erforschung der Einrichtung von Halle (Saale) werden weitere stationäre Bereiche beleuchtet, wie in Leipzig-Thonberg, Berlin-Prenzlauer Berg und Berlin-Buch, Dresden-Friedrichstadt, Magdeburg und Zwickau. Die Maßnahmen haben bei den betroffenen Frauen anhaltende gesundheitliche Spätfolgen psychischer und körperlicher Art erzeugt. Dazu zählen posttraumatische Belastungsstörungen, Depressionen, Ängste und psychosomatische Beschwerden. Neben Ängsten bei heutigen Arztbesuchen sind es die Erinnerungen und inneren Bilder, die die Betroffenen nachhaltig belasten. Aufgrund vorhandener Scham- und Schuldgefühle haben sie sich vermutlich lange nicht getraut, an die Öffentlichkeit zu gehen. Es ist der Kompetenz und Empathie der Autoren zu verdanken, dass Zugänge zu den Betroffenen hergestellt werden konnten. Neben einer individuellen Therapie ist die fachspezifische Aufklärung ein wichtiges Instrument der Verarbeitung dieser verordneten Übergriffe.

— Karl-Heinz Bomberg

Erscheinungsdatum
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Maße 165 x 240 mm
Gewicht 532 g
Einbandart Paperback
Themenwelt Medizin / Pharmazie Gesundheitswesen
Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Psychiatrie / Psychotherapie
Studium Querschnittsbereiche Geschichte / Ethik der Medizin
Schlagworte Deutsche Demokratische Republik (DDR); Politik/Zeitgeschichte • Deutsche Demokratische Republik; Politik/Zeitgeschichte • Frauen • Geschichte der Medizin der DDR • Geschlechtskrankheiten • Geschlechtskrankheiten / Venerologie • geschlossene Stationen • geschlossene Venerologische Stationen in der DDR • Medizin, Geschichte • Medizingeschichte der DDR • Medizin, Geschichte / Medizingeschichte • politisierte Medizin • Transgenerationale Weitergabe von Traumatisierung • Trauma (Psychologie) • Traumatisierung • Traumatisierung von Frauen durch politisierte Medizin • Venerologische Stationen
ISBN-10 3-95466-240-X / 395466240X
ISBN-13 978-3-95466-240-1 / 9783954662401
Zustand Neuware
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