Das Castillo Morales-Konzept (eBook)

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2020 | 2. Auflage
192 Seiten
Georg Thieme Verlag KG
978-3-13-242373-2 (ISBN)

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Das Castillo Morales-Konzept -
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Sicher durch das Castillo Morales-Konzept Sie wünschen sich umfassende Informationen zur therapeutischen Begleitung von Menschen mit muskulärer Hypotonie, orofazialen Funktionsstörungen, neuromuskulären Erkrankungen oder Fazialisparesen? Dann ist dieses Buch genau das Richtige für Sie! Erfahren Sie alles zu den Ursprüngen des Konzeptes, den neurobiologischen und medizinisch-therapeutischen Grundlagen, Befund, den wichtigsten Beobachtungskriterien bis hin zum Behandlungsprozess im interdisziplinären Verständnis. Zahlreiche Behandlungsbeispiele erleichtern Ihnen die Umsetzung in die Praxis. Lesen Sie, wie ein Kleinkind mit Down-Syndrom dank Therapie lernt zu stehen. Oder wie ein Patient mit Fazialisparese durch gezielte Alltagshilfen und Übungen wieder besser trinken kann. Das Castillo Morales-Konzept - früher besser bekannt als Orofaziale Regulationstherapie - betont die Untrennbarkeit von Körper und orofazialem Komplex. Castillo Morales-Therapeuten bieten gezielte Hilfen an, die sich positiv auf den Muskeltonus und die Bewegungsmöglichkeiten ihrer Patienten auswirken. Zu diesem Zweck setzen die Therapeuten manuelle Techniken wie Berühren, Streichen, Druck, Zug und vor allem Vibration ein.

2 Neurobiologische Grundlagen zum Verständnis des therapeutischen Vorgehens im Castillo Morales-Konzept


Angelika Enders

Neurowissenschaftliche Erkenntnisse, Zeitgeist und Menschenbild haben die Sichtweise und Vorstellungen von kindlicher Entwicklung und deren therapeutischer Beeinflussbarkeit jeweils geprägt und verändert. In Kap. ▶ 1.1 wurde bereits erwähnt, welche persönlichen, beruflichen und kulturellen Erfahrungen Castillo Morales in sein Behandlungskonzept hat einfließen lassen. Er war aufgeschlossen für neue wissenschaftliche Erkenntnisse auf dem Gebiet der Neurobiologie. Er war stets offen für neue therapeutische Sichtweisen und Erfahrungen, deren Wirksamkeit für ihn spürbar oder zu beobachten waren. Sein Anliegen war es, den Menschen und besonders das Kind in seiner Persönlichkeit zu erfassen und die Behandlungsschwerpunkte auf die Bedürfnisse des Individuums und seiner Bezugspersonen abzustimmen. Im Fokus seines sensomotorischen Behandlungskonzepts stehen besonders die Kinder mit muskulärer Hypotonie, zentralmotorischen Störungen und psychomotorischer Entwicklungsretardierung.

Bei Kindern mit muskulärer Hypotonie (Kap. ▶ 3.1) verläuft die sensomotorische Entwicklung unter erschwerten Bedingungen und damit oft verlangsamt. Dies macht es erforderlich, im Behandlungskonzept spezifische Gesichtspunkte motorischen Lernens besonders zu berücksichtigen und die therapeutischen Maßnahmen darauf abzustimmen. Die folgenden Ausführungen sollen dies verständlich machen.

2.1 Konzept sensomotorischen Lernens


Im Laufe des letzten Jahrhunderts hat sich die theoretische Vorstellung davon, wie der menschliche Körper die Fähigkeit erwirbt, sich aufzurichten, im Raum zu halten und fortzubewegen, grundlegend gewandelt.

Während bis in die 1970er Jahre noch von einem hierarchischen Modell der Bewegungssteuerung vorwiegend über Reflexverhalten und Tonusregulation (Magnus u. De Kleijn 1912; Peiper 1963) ausgegangen wurde, setzte sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass motorisches Lernen in der eigenaktiven Bewältigung motorischer Aufgaben unter Nutzung sehr komplexer neuronaler Netzwerke des Zentralnervensystems erfolgt (Dietz 1992; Massion et al. 2004; Ohrt 2004; Latash u. Hadders-Algra 2008; Hadders-Algra 2010 und 2018a und b).

Das Erlernen neuer, komplexer Bewegungen unterliegt im Kindesalter nicht nur einem Prozess der Reifung zerebraler Strukturen, sondern geht auch einher mit der Entwicklung mentaler Bewegungsvorstellung und -planung. So erfordert auch motorisches Lernen grundlegend Motivation, gerichtete Aufmerksamkeit und Gedächtnisleistungen.

Mimische und sprachliche Signale seitens der Erwachsenen strukturieren das kindliche Lernen, da sie zwischen wichtiger und unwichtiger Information unterscheiden helfen und „Hab-Acht“-Signale oder Zutrauen vermitteln. Kindern wird es so möglich, effizienter zu lernen. Was zum Erfolg geführt hat und emotional belohnt wurde, wird erinnert, und so entsteht eine Erfahrung für zweckmäßiges Handeln.

2.2 Reifung des kindlichen Nervensystems und sensomotorische Entwicklung


Nach heutigem Verständnis ist das Nervensystem von Beginn an komplex organisiert und interaktiv tätig. Im pränatalen Ultraschall lassen sich bereits ab der 7. Schwangerschaftswoche spontane, d. h. nicht von äußeren Stimuli abhängige Bewegungen des Kindes beobachten. Diese differenzieren sich bis zur 20. Schwangerschaftswoche bereits so weit, dass sie alle motorischen Aktivitäten erkennen lassen, über die das reife Neugeborene später verfügt. Früh- und Neugeborene bewegen sich also von Beginn an spontan und eigenaktiv, jedoch noch nicht willentlich geplant und bewusst gesteuert.

Therapeutische Relevanz

Das neurobiologisch determinierte angeborene motorische Verhalten kann bei Feten oder Neugeborenen als spontane Bewegung beobachtet werden. Dies ist Ausdruck der Fähigkeit des Gehirns, aktiv zu sein und nicht nur reaktiv auf Reize zu antworten.

Dieses angeborene motorische Verhalten verfügt bereits über eine breite Variabilität (sog. primäre Variabilität) und ist in höchstem Maße zweckmäßig (Hadders-Algra 2005; 2010; 2018a).

Das Neugeborene kommt also mit einem variablen Repertoire von angeborenen motorischen Verhaltensweisen zur Welt, die es ihm von Beginn an ermöglichen, durch spontane Aktivität zunehmend sensorische Erfahrungen zu sammeln und sich mit seiner veränderten Umwelt auseinanderzusetzen.

Es wird vermutet, dass diese Aktivierung rhythmischer Bewegungen wie beispielsweise Strampeln, Atmen, Saugen und Kauen im Zentralnervensystem in Bewegungsgeneratoren, den Central Pattern Generators (CPGs), erfolgt. CPGs sind neuronale Netzwerke, lokalisiert auf unterschiedlichen Ebenen des Rückenmarks und Hirnstamms, die auch ohne Anreiz durch äußere Stimuli komplexe basale Bewegungsprogramme generieren können. Nach der Geburt passt das Kind seine motorische Aktivität so an die veränderten Gegebenheiten der Umwelt an, dass ihm bereits erste lebenswichtige Funktionen möglich werden, wie Atmen, Saugen und Schlucken von Nahrung oder sich im Liegen halten zu können. Mund-, Zungen- und Wangenmotorik adaptieren sich beispielsweise schon zu diesem frühen Zeitpunkt an die mütterliche Brustwarze oder einen angebotenen Sauger. Variable Bewegungen von Rumpf und Extremitäten ermöglichen es zunehmend, eine stabile Position auf einer Unterlage einzunehmen (Enders 2008, S. 166 f.; Hadders-Algra 2018a).

Das Bewegungsverhalten des neugeborenen Kindes und jungen Säuglings wurde lange als reine Reflexaktivität verstanden und auch so beurteilt. Neurologisch sind Reflexe jedoch definiert als motorische Vorgänge, die unbeeinflussbar durch das Individuum oder den Untersucher „durch einen bestimmten Reiz in Gang gesetzt werden und immer gleichartig ablaufen“ (Mattle u. Mumenthaler 2011, S. 41). Angeborene motorische Verhaltensweisen des neugeborenen und jungen Säuglings entsprechen diesen Kriterien im Fall neurologischer Intaktheit in der Regel nicht. Im Verständnis aktueller neurowissenschaftlicher Erkenntnisse ist das Nervensystem ein primär aktives System, das Signale aussendet und auch aktiv sucht. So lernt es zunehmend, reaktiv auf Einflussfaktoren der Umwelt mit einer sekundären Variabilität, d. h. adaptiv zu antworten. Es handelt sich also nicht um ein rein reflektorisches Geschehen, sondern um eine genetisch determinierte, zentral ausgelöste Aktivität (Ohrt 2006, S. 148), die alterstypisch auf einen bestimmten Stimulus reagiert und sich ihm anpasst.

Therapeutische Relevanz

Variabilität und Adaptationsfähigkeit sind wichtige Optimalitätskriterien in der Beurteilung neurologischen Verhaltens. Eine eingeschränkte Variabilität im Bewegungsrepertoire und neurologischen Verhalten ist hinweisend auf eine Beeinträchtigung neuronaler Vernetzungen.

Es ist deshalb ratsam, im Rahmen der neurologischen Beurteilung des Kindes vorrangig die Qualität seiner Spontanaktivität zu beobachten. Wenn das reaktive Verhalten des neugeborenen Kindes dann durch verschiedene Stimuli provoziert geprüft wird, sollte nicht mehr von Neugeborenenreflexen gesprochen werden, sondern von primären Reaktionen des Neugeborenen und jungen Säuglings. Das würde dem aktuellen Verständnis von neurologischer Kompetenz des Neugeborenen besser gerecht werden.

Definition

Primäre Reaktionen

Durch einen bestimmten Reiz provozierte altersspezifische Reaktionen des Neugeborenen und jungen Säuglings, z. B. Suchreaktion, Saug-Schluck-Reaktion und Greifreaktion.

Der Begriff „primäre Reaktionen“ beschreibt die angeborene Kompetenz im neurologischen Verhalten des Neugeborenen somit korrekter als der Begriff „Reflexe“, da die provozierten Reaktionen nicht immer gleichartig ablaufen, sondern in hohem Maß bereits durch Faktoren wie Vigilanz, Reagibilität, sensorische Afferenzen, Habituation und biomechanische Gegebenheiten des Bewegungsapparats beeinflusst sind.

Das Verhaltensrepertoire des Neugeborenen umfasst zudem nicht nur motorische Kompetenzen, sondern wird heute wesentlich umfassender verstanden. Über die Beurteilung motorischer Kompetenz hinaus geht es um Kriterien wie Eigenregulation, gerichtete Aufmerksamkeit, Motivation, Neugier sowie reaktives Verhalten auf Sinnesreize und auf elterliche Zuwendung.

Das gesunde Neugeborene leistet zur Befriedigung seines elementaren Bedürfnisses nach menschlichem Kontakt seinen eigenen Beitrag. Es öffnet die Augen, sucht Blickkontakt, bewegt lebhaft Arme und Beine als aktive Einleitung eines Kontakts oder schließt die Augen, wendet den Kopf zur Seite und beendet ihn damit seinerseits. Ebenso sind Lautäußerungen Signale des Kindes, die Menschen in allen Kulturen verstehen und vergleichbar beantworten (Ohrt 2004). Schon sehr junge Säuglinge sind bestrebt, zwischenmenschliche Beziehungen zu unterhalten.

Mit zunehmender Reifung und Entwicklung zerebraler Strukturen des Nervensystems werden die neuronalen Netzwerke der Hirnrinde, die Regelkreise der Basalganglienkerne mit den kortikalen Arealen und dem limbischen System sowie mit dem Kleinhirn zunehmend ausgebaut und differenziert. Erprobt im individuellen funktionellen Kontext wird im Prozess der kindlichen Entwicklung ein Übergang von der primären Variabilität in die...

Erscheint lt. Verlag 5.8.2020
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Medizin / Pharmazie Gesundheitsfachberufe
Schlagworte Castillo Morales-Konzept • Fazialisparesen • Funktionelle Anatomie • Kommunikation • lateinamerikanische Anthropologie • muskuläre Hypotonie • neuromuskulären Erkrankungen • Neurophysiologie • Ökologie • orofaziale Funktionsstörungen • Pädagogik • Philosophie • Physiotherapie • taktiler Kontakt
ISBN-10 3-13-242373-4 / 3132423734
ISBN-13 978-3-13-242373-2 / 9783132423732
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