Kinderheilkunde (eBook)
146 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-038022-6 (ISBN)
Dr. Michael Bohn, Facharzt für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, Oberarzt am St. Bernward Krankenhaus, Klinik für Neonatologie in Hildesheim, Dozent in der Kinderkrankenpflege und Hebammenausbildung.
Dr. Michael Bohn, Facharzt für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, Oberarzt am St. Bernward Krankenhaus, Klinik für Neonatologie in Hildesheim, Dozent in der Kinderkrankenpflege und Hebammenausbildung.
1 Geburt und postnatale Adaptation
1.1 Definitionen entsprechend der Publikation von March of Dimes et al. (2012)
Um im weiteren Verlauf eindeutige Zuordnungen zu haben, werden hier die Definitionen angeführt:
• Reifgeborenes:
– Nach Geburtsgewicht: Kind mit ≥ 2.500 g und ≤ 4000 g, welches nach risikofreier Schwangerschaft und komplikationsloser Entbindung ohne Krankheitserscheinungen geboren wurde
– Nach Gestationsalter: Kind, das nach 37 (37 + 0) komplett abgeschlossenen und vor 42 (42 + 0) vollendeten Schwangerschaftswochen geboren wurde
• Frühgeborenes:
– Extreme Frühgeburt: < 28 SSW
– Sehr Frühgeborenes: 28 bis < 32 SSW
– Moderate oder späte Frühgeburt: 32 bis < 37 SSW
Abb. 1.1: Extrem Frühgeborenes
• Übertragen: Geburt nach 42 SSW oder 294 Tagen
• SGA (small size for gestational age): Gewicht unter der 10. Perzentile
• LBW (low birth wight) niedriges Geburtsgewicht, Hypotrophie: Neugeborene mit einem Gewicht < 2.500 g, diese Gruppe kann SGA und Frühgeborene enthalten
• LGA (large for gestational age): Gewicht über der 90. Perzentile
• Hypertrophie, Makrosomie: Gewicht je nach Definition über 4.000 bzw. 4.500 g
• Gestationsalter: Dauer der Schwangerschaft von 1. Tag der letzten Menstruation
• Neugeborenes: ab Geburt bis zum vollendeten 28. Lebenstag
• Säugling: ab Beginn des 29. Lebenstages bis zum vollendeten 12. Lebensmonat
Die angeführten Definitionen mit den absoluten Geburtsgewichten, die sich nicht auf das Schwangerschaftsalter beziehen, können sehr heterogen sein und sind daher für den Alltag nur eingeschränkt hilfreich. Für die Beurteilung der Entwicklung spielt jedoch auch das erreichte Reifealter eine entscheidende Rolle. In diesem Buch werden daher in der Regel die Definitionen für SGA und LGA genutzt.
1.2 Physiologie der normalen Adaptation
Die Adaptation an das Leben außerhalb der Mutter beginnt mit dem Durchtrennen der Nabelschnur. Die Vorgänge sind vielfältig und zum Teil voneinander abhängig. Aus didaktischen Gründen werden sie jedoch für unterschiedliche Funktionen getrennt dargestellt.
Atmung
Mit den ersten Atemzügen kommt es zur Belüftung der Lunge. Diese war bislang funktionslos, die Alveolen kollabiert und zum Teil mit Fruchtwasser gefüllt, nur marginal durchblutet und auch im Interstitium war noch vermehrt Flüssigkeit eingelagert (ca. 60 % des Lungengewichts, was etwa 40 ml Flüssigkeit entspricht). Durch die Abnahme an interstitieller Flüssigkeit reduziert sich die Dicke der Alveolarwände von etwa 1 μm auf 0,2 μm. Mit den ersten Atemzügen, wegen eines hohen Widerstands der gesamten Lunge mit deutlich negativeren Drücken (ca. 80 cm H2O transpulmonaler Druck) als nach der Adaptation, strömt Umgebungsluft mit 21 % Sauerstoff in die Lunge. Der höhere Sauerstoffgehalt führt zur Weitstellung der pulmonalen Gefäße und damit zu einer besseren Durchblutung der Lunge. Der pulmonale Widerstand sinkt. Nach dem Durchtrennen der Nabelschnur findet nun der Gasaustausch ausschließlich in der Lunge statt. Ein normales Atemminutenvolumen wird zunächst über eine höhere Atemfrequenz und Atemarbeit erreicht, da initial Atemzüge kleiner sind.
Kreislauf
Durch das Absinken des pulmonalen Widerstands kann es zum Verschluss des foramen ovale (Vorhofseptum) und durch den erhöhten Sauerstoffgehalt im Blut zur Kontraktion des Ductusgewebes kommen. Diese Vorgänge können physiologisch eine gewisse Zeit benötigen. Durch kontinuierliche Messungen nach der Geburt wissen wir, dass eine stabile Sättigung des Sauerstoffgehalts von über 90 % häufig erst nach zehn Minuten erreicht ist, der pulmonale Widerstand nach der Geburt noch für Wochen erhöht sein kann und dass Reste eines foramen ovale auch noch Monate nach der Geburt echokardiographisch nachgewiesen werden können, ohne eine hämodynamische Bedeutung zur haben. Auch wenn die Umstellungsvorgänge nicht sofort komplett sind, kommt es im Wesentlichen zu zwei getrennten, hintereinander geschalteten Kreisläufen, statt der bislang parallel funktionierenden Systeme. Die Lunge wird nun gut durchblutet und kann ihrer wesentlichen Funktion für den Gasaustausch gerecht werden. Der Systemdruck im Körperkreislauf steigt nun an.
Regulation
Der Atemantrieb erfolgt zunächst über einen erhöhten Anteil von CO2 im Blut (pCO2 = Partialdruck von CO2). Das glomus caroticum, als Rezeptor im Bereich der Halsschlagader, ist noch unreif und daher für die Steuerung des Atemantriebs nicht geeignet. Die Regulation der Herzfrequenz unterliegt vielen Einflüssen. Dazu zählen das autonome Nervensystem, Temperatur, Säure-Basen-Haushalt und Elektrolytkonzentration im Blut, Flüssigkeitshaushalt, Hormone, weitere Noxen und das Reizleitungssystem im Herzen. Eingeschränkte Variabilität der Herzfrequenz deutet auf ein schwerwiegendes Problem des Neugeborenen hin.
Nahrungsaufbau
Mit der ersten Aufnahme von Kolostrum beginnt der Prozess, den Magen-Darm-Trakt zu stimulieren, Nahrung zu verwerten und Mekonium zu entleeren. Vorzeitige Entleerung von Mekonium weist auf eine Notsituation vor der Geburt hin. Verzögerte Entleerung kann zu einem verzögerten Nahrungsaufbau führen und auf Störungen unterschiedlichster Ursachen der Magen-Darm-Passage hinweisen. Es ist der Beginn eines auch von externen Keimen beeinflussten Aufbaus eines Mikrobioms, der im günstigsten Fall nur von den Hautkeimen der Mutter beeinflusst wird. Jede Manipulation durch dritte Personen führt auch zu einer Besiedlung mit deren Keimen. Aktuelle Forschungsergebnisse zeigen, dass die vaginale Besiedlung der Mutter keinen wesentlichen Einfluss auf das Mikrobiom hat. (Ferretti et al., 2018)
Anpassung an die Umwelt
Zunächst muss sich das Neugeborene mit der Umgebungstemperatur auseinandersetzen. Bislang war die Temperatur im Mutterleib konstant, nach der Geburt kommt es zu einem Temperaturabfall, der als Reiz für die Adaptation benötigt wird. Jedoch soll das Neugeborene nicht auskühlen, da es nur innerhalb geringer Grenzen die Temperatur nachregulieren kann. Grund dafür sind die geringen Energiereserven und der kleine Anteil an braunem Fettgewebe, das zur direkten Energiegewinnung genutzt werden kann. Andernfalls führt eine niedrige Körpertemperatur zur Zentralisation, niedrigen Blutzuckerwerten und Störungen der Adaptation, besonders der Atmung.
Gleichzeitig beginnt das Kind mit der Umwelt zu kommunizieren, denn das erste Schreien ist die Möglichkeit, auf sich aufmerksam zu machen und bei der Mutter die Oxytocinausschüttung zu stimulieren. Diese ist ein wichtiger Schritt für die Produktion von Muttermilch und damit den Stillerfolg.
1.3 Maßnahmen bei gestörter Adaptation
Abb. 1.2: Reanimationsmaßnahmen bei Neugeborenen (Deutscher Rat für Wiederbelebung; GRC; www.grc-org.de; 2021, S. 133)
Abb. 1.3: NLS-Algorithmus (Deutscher Rat für Wiederbelebung; GRC; www.grc-org.de; 2021, S. 159)1 * Werden alle beschriebenen Maßnahmen zur Optimierung der Beatmung (Erhöhung des Spitzendrucks, 2-Hände-Esmarch-Handgriff, Guedel-Tubus, evtl. LMA) konsequent ausgeschöpft, ist eine Intubation zu diesem Zeitpunkt nur in sehr seltenen Fällen notwendig. (Anmerkung der AutorInnen der deutschen Fassung) ** Wenn sich der Brustkorb unter Beatmung zwischen den Thoraxkompressionen hebt, muss sehr gut abgewogen werden, ob eine Intubation zu diesem Zeitpunkt tatsächlich einen Vorteil bedeutet. (Anmerkung der AutorInnen der deutschen Fassung, detaillierte Erläuterungen finden sich im Guidelines-Text)
Grundsätzlich benötigt jedes Neugeborene nach der Geburt besondere Aufmerksamkeit. Die entscheidende Zeit sind etwa die ersten 30 Sekunden nach der Entbindung: Möchte das Kind sich alleine an die neuen Umgebungsbedingungen gewöhnen oder benötigt es unsere Unterstützung? In dieser Zeit sollte...
Erscheint lt. Verlag | 26.4.2023 |
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Zusatzinfo | 51 Abb., 7 Tab. |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Medizin / Pharmazie ► Pflege ► Kinderkrankenpflege |
Schlagworte | Geburtshilfe • Hebamme • Hebammenkunde • Hebammenwissenschaft • Kinderheilkunde • Pädiatrie |
ISBN-10 | 3-17-038022-2 / 3170380222 |
ISBN-13 | 978-3-17-038022-6 / 9783170380226 |
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