Psychische Gesundheit bei Störungen der Intelligenzentwicklung -

Psychische Gesundheit bei Störungen der Intelligenzentwicklung (eBook)

Ein Lehrbuch für die Praxis

Tanja Sappok (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2023 | 2. Auflage
608 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-041148-7 (ISBN)
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Wie können psychische Erkrankungen bei Personen mit einer kognitiven Beeinträchtigung zeitgemäß und leitliniengerecht behandelt werden? Ausgehend von Gesprächen mit Familien zur psychischen Gesundheit und Lebensqualität werden systematisch psychische und häufige körperliche Krankheitsbilder vorgestellt, wobei die evidenzbasierten Fakten durch eine subjektive Perspektive ergänzt werden. Der Fachteil fokussiert auf Besonderheiten in der Symptompräsentation, Diagnostik und Therapie und zeigt anschaulich den interdisziplinären und multiprofessionellen Ansatz auf. Die 2. Auflage ist unter anderem erweitert durch die Themenfelder: sensorische Beeinträchtigungen, Unterstützte Kommunikation, rechtliche Aspekte und herausfordernde Verhaltensweisen.

Prof. Dr. med. Tanja Sappok, Psychiaterin und Neurologin, ist Professorin für Medizin für Menschen mit Behinderungen, Schwerpunkt: Psychische Gesundheit, an der Medizinischen Fakultät der Universität Bielefeld und Direktorin der Universitätsklinik für Inklusive Medizin am Krankenhaus Mara, Bielefeld. Mit Beiträgen von: Tanja Sappok, Melanie Adam, Gabriela Antener, Brian Fergus Barrett, Ernst Berger, Thomas Bergmann, Pia Bienstein, Eva Büschi, Stefania Calabrese, Rosemarie Camatta, Marieke Conty, Francien Dekker-van der Sande, Albert Diefenbacher, Rainer Döhle, Samuel Elstner, Regina Fabian, Johannes Fellinger, Christiane Feuerherd, Miriam Leona Franke, Franziska Gaese, Dan Georgescu, Jan Glasenapp, Anja Grimmer, Klaus Hennicke, Hauke Hermann, Knut Hoffmann, Maria Kaminski, Theo Klauß, Björn Kruse, Bettina Kuske, Jörg Liesegang, Brigitte Lueger-Schuster, Aleksey Lytochkin, Peter Martin, Stefan Meir, Sandra Verena Müller, Katharina Pichler, Birgit Pohler, Georg Poppele, Christiane Preißmann, Frauke Reiprich, Doris Rittmannsberger, Christian Schanze, Anton Schmalhofer, Bernd Schmidt, Janina Schwabl, Michael Seidel, Monika Steffen, Paula Sophia Sterkenburg, Jörg Stockmann, Anne Styp von Rekowski, Georg Theunissen, Marcus Vogel, Tatjana Voß, Jessica Wagner, Sabine Walter-Fränkel, Germain Weber, Meike Wehmeyer, Natalie Werner, Sabine Zepperitz und Christiane Zweier.

Prof. Dr. med. Tanja Sappok, Psychiaterin und Neurologin, ist Professorin für Medizin für Menschen mit Behinderungen, Schwerpunkt: Psychische Gesundheit, an der Medizinischen Fakultät der Universität Bielefeld und Direktorin der Universitätsklinik für Inklusive Medizin am Krankenhaus Mara, Bielefeld. Mit Beiträgen von: Tanja Sappok, Melanie Adam, Gabriela Antener, Brian Fergus Barrett, Ernst Berger, Thomas Bergmann, Pia Bienstein, Eva Büschi, Stefania Calabrese, Rosemarie Camatta, Marieke Conty, Francien Dekker-van der Sande, Albert Diefenbacher, Rainer Döhle, Samuel Elstner, Regina Fabian, Johannes Fellinger, Christiane Feuerherd, Miriam Leona Franke, Franziska Gaese, Dan Georgescu, Jan Glasenapp, Anja Grimmer, Klaus Hennicke, Hauke Hermann, Knut Hoffmann, Maria Kaminski, Theo Klauß, Björn Kruse, Bettina Kuske, Jörg Liesegang, Brigitte Lueger-Schuster, Aleksey Lytochkin, Peter Martin, Stefan Meir, Sandra Verena Müller, Katharina Pichler, Birgit Pohler, Georg Poppele, Christiane Preißmann, Frauke Reiprich, Doris Rittmannsberger, Christian Schanze, Anton Schmalhofer, Bernd Schmidt, Janina Schwabl, Michael Seidel, Monika Steffen, Paula Sophia Sterkenburg, Jörg Stockmann, Anne Styp von Rekowski, Georg Theunissen, Marcus Vogel, Tatjana Voß, Jessica Wagner, Sabine Walter-Fränkel, Germain Weber, Meike Wehmeyer, Natalie Werner, Sabine Zepperitz und Christiane Zweier.

1          Störungen der Intelligenzentwicklung – Überlegungen zur Begrifflichkeit


Tanja Sappok, Dan Georgescu und Germain Weber


Die subjektive Perspektive


»Ich fühle mich nicht eingeschränkt. Ich bin zufrieden, meist glücklich.«

Fabian Neitzel im Juni 2017

1.1        Die Ausgangslage


Im Schreibprozess ist unter den beteiligten Autorinnen und Autoren eine Diskussion zur Frage der verwendeten Begrifflichkeit angestoßen worden, die in diesem Kapitel aufgegriffen und vertieft werden soll. In der Medizin und der Psychologie wählt man zunächst den Begriff des im Schreibprozess noch gültigen diagnostischen Manuals ICD-10 (World Health Organization (WHO) 1992): Die Intelligenzminderung, wobei sowohl im klinischen als auch im pädagogischen Handlungsfeld der Begriff der geistigen Behinderung vor allem in Deutschland und der Schweiz noch weit verbreitet ist. Aus einer geisteswissenschaftlichen Perspektive bleibt die Definition des Begriffes Geist eine komplexe Herausforderung! Von Befürwortern des Begriffs geistige Behinderung wird angeführt, dass damit nicht nur intellektuelle, sondern auch sozioemotionale Aspekte einbezogen werden. In diesem Begriffsdiskurs offenbaren sich jedoch weit tiefergehende Probleme. Einerseits birgt das mit einer bestimmten Bezeichnung verbundene Label die Gefahr der Stigmatisierung und damit auch der Ausgrenzung bzw. das Label ist stark mit dem Denken einer bestimmten Epoche gegenüber dieser Personengruppe verhaftet. Andererseits bietet eine kategoriale Begrifflichkeit eine verbindliche Beschreibung und liefert Erklärungen für auffällige intellektuell-kognitive Entwicklungen und damit assoziierte Entwicklungsverläufe und Verhaltensweisen, über die sich dann wieder bestimmte soziale oder medizinische Unterstützungsbedarfe definieren lassen.

1.2        Historische Begriffsentwicklung


Frühere Fachbegrifflichkeiten wie Schwachsinn oder – für die unterschiedlichen Schweregrade – Debilität, Imbezillität und Idiotie werden nicht mehr verwendet, auch wenn sie zum Teil noch z. B. in älteren Gesetzestexten auftauchen. Erst 2021 wurde der Begriff »Schwachsinn« im §20 StGB zur Schuldunfähigkeit durch »Intelligenzminderung« ersetzt. Auch die mentale Retardierung gilt in der deutschen medizinischen Terminologie als überholt. Ab den 1960er Jahren wurden medizinische Konzepte durch eine pädagogisch geprägte, soziale Sichtweise von Behinderung ergänzt. Das Denken gegenüber dieser Personengruppe führte zu anderen Formen der Unterstützung und Lebensbegleitung für sie, in der Regel in gesonderten Settings. Der Begriff geistige Behinderung ist mit diesen letztlich gesellschaftlichen Veränderungen im Behindertenbereich stark konnotiert. Ab den 1990er Jahren wurde in der englischsprachigen Literatur die Verwendung des Begriffs mental retardation in Frage gestellt, da er als diskriminierend empfunden wurde und nicht die wesentlichen Merkmale beschreibe. Auch im Rahmen des Menschenrechtsdiskurses, der in der »Behindertenszene« in der Zeit stetig an Bedeutung gewann, wurde das Label mental retardation heftig kritisiert. Als Folge wurden weltweit neue Begrifflichkeiten eingeführt: In den USA intellectual disability, in Großbritannien learning disability und im deutschsprachigen Raum intellektuelle Behinderung (vorgeschlagen und begründet von Weber 1997) bzw. die in der Pädagogik weitverbreitete intellektuelle oder kognitive Beeinträchtigung. Diese Begriffe fanden die Unterstützung von People First Selbstbestimmt-Leben Initiativen. Es folgten zum Teil sehr kontroverse, nachlesebare Begriffs-Diskurse in international hoch angesehenen Fachgesellschaften und Fachzeitschriften (Luckasson und Reeve, 2001; Schalock, Luckasson und Shogren, 2007), bevor diese sich zu einer entsprechenden Umbenennung entschlossen. Aus einer rezenten Begriffsverwendungsanalyse auf dem Medium twitter geht hervor, dass der Begriff mental retardation vor allem in einem pejorativen, stark diskriminierenden Kontext (Schimpfwort) Verwendung findet, der Begriff intellectual disability dagegen vor allem in Kurznachrichten des wissenschaftlichen und akademischen Austausches zu finden ist (Kocman und Weber, 2017). Der Begriff intellectual disability wird auf Deutsch häufig mit intellektueller Beeinträchtigung (American Psychological Association (APA) 2013) übersetzt und soll eine Wende zu einem neuen gesellschaftlichen Denken im Sinne der sozialen Teilhabe gegenüber dieser Personengruppe markieren. Die Tabelle gibt einen Überblick über die historische Begriffsentwicklung in den diagnostischen Manualen ICD und DSM ( Tab. 1.1). Hierin sind die Originalbegrifflichkeiten aufgeführt.

Tab. 1.1:    Historische Begriffsentwicklung in den diagnostischen Manualen ICD und DSM

1.3        Die Perspektive der Familien


Familien tun sich zum Teil anfänglich mit der Behinderung schwer und für viele war es ein jahrelanger Prozess, bis die Behinderung als solche anerkannt und angenommen werden konnte ( Teil II. Der Mensch liefert den Kontext). Bis dahin werden Begriffe wie Entwicklungsverzögerung oder Handicap bevorzugt, die weniger den absoluten, sondern eher den relativen Aspekt betonen. Eine Mutter definierte Behinderung als »Andersartigkeit eines Menschen in körperlichen, geistigen oder seelischen Bereichen, die den Zugang zur Gemeinschaft sehr erschweren kann.« Auch die Bezeichnung Besonderheit ist wiederholt gewählt worden: »Behinderung bedeutet für mich, dass man nur beschränkt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen kann, sei es durch physische oder psychische Besonderheiten.« Die »starke Einschränkung der Möglichkeiten, über die Gestaltung des eigenen Lebens und die Zukunft selber entscheiden zu können«, wurde immer wieder in verschiedenen Varianten thematisiert, z. B. »Behinderung ist eine psychische oder körperliche Einschränkung, die dazu führt, dass man auf fremde Hilfe angewiesen ist.« Es wurde der Wunsch nach einem anderen Begriff geäußert, der »die spezielle Begabung in den Vordergrund stelle«, da Behinderung von fragwürdigen gesellschaftlichen Normen definiert und aus diesem Raum heraus beschrieben werde. In diesem Sinne entstanden Vorschläge wie »faszinierende« oder »übergesunde« Menschen; Begriffe, die man als Aufschrei der Eltern gegenüber den gesellschaftlichen Diskriminierungen verstehen kann, die auf ihre »besonderen« Kinder nun zukamen. Eine Mutter griff das Bild eines italienischen Neurologen auf, der Behinderung mit einem Haus verglichen hat: Der gesunde Mensch habe ein wunderschönes Schloss mit 30 Zimmern und Balkonen und Schnörkeln und Verzierungen. Je größer die Behinderung sei, desto weniger Zimmer habe das Haus, es habe weniger Balkone und vielleicht auch weniger Fenster. Aber es habe immer noch die Form eines Hauses: Es sei windschief, es sei vielleicht winzig klein, aber es sei immer noch ein Haus und in seinem Wesen absolut vollkommen. Die betroffenen Menschen hätten nur dieses winzig kleine System zur Verfügung und es liege nun an uns, dieses System zu verstehen, um es zu ergänzen, und so dieses System mit unserem System besser zusammenzubringen ( Kap. 7).

1.4        Die Perspektive der Menschen selbst


Dieser Cartoon von Phil Hubbe veranschaulicht die Sichtweise von Menschen mit Behinderungen sehr treffend. Gespräche mit sprechenden Patientinnen und Patienten zum Begriff Behinderung waren schwierig. Der Begriff wurde weitestgehend abgelehnt, und zwar nicht nur wegen der damit verbundenen Stigmatisierung, sondern auch, weil sie sich nicht behindert fühlten (vgl. Zitat oben). Ganz nach dem Motto einer jungen Frau mit Down Syndrom: »Ob ich behindert bin oder nicht, ist mir ganz egal!« Sie betrachten sich selbst als normal – im Bewusstsein, dass sie für einige Dinge Hilfe benötigen und einige Aufgaben wie z. B. der Führerschein, das Abitur oder der Arztberuf für sie zu schwierig sind.

Abb. 1.1:    Rainer und...

Erscheint lt. Verlag 3.5.2023
Co-Autor Melanie Adam, Brian Fergus Barrett, Thomas Bergmann, Pia Bienstein, Rosemarie Camatta, Marieke Conty, Albert Diefenbacher, Dan Georgescu, Anne Styp von Rekowski, Rainer Döhle, Samuel Elstner, Christian Feuerherd, Franziska Gaese, Birgit Pohler, Jan Glasenapp, Anja Grimmer, Knut Hoffmann, Maria Kaminski, Theo Klauß, Björn Kruse, Frauke Reiprich, Peter Martin, Stefan Meir, Sandra-Verena Müller, Bettina Kuske, Christine Preißmann, Tanja Sappok, Christian Schanze, Bernd Schmidt, Michael Seidel, Monika Steffen, Paula Sterkenburg, Jörg Stockmann, Georg Theunissen, Marcus Vogel, Jessica Wagner, Sabine Walter-Fränkel, Germain Weber, Doris Rittmannsberger, Brigitte Lueger-Schuster, Sabine Zepperitz, Christiane Zweier, Ernst Berger, Miriam Leona Franke, Georg Poppele, Anton Schmalhofer, Natalie Werner, Gabriela Antener, Eva Büschi, Stefania Calabrese, Francien Dekker-van der Sande, Regina Fabian, Johannes Fellinger, Klaus Hennicke, Hauke Hermann, Jörg Liesegang, Aleksey Lytochkin, Katharina Pichler, Janina Schwabl, Tatjana Voß, Meike Wehmeyer
Zusatzinfo 76 Abb.
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Medizin / Pharmazie
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Kognitive Entwicklung • Kognitive Störungen • Psychische Erkrankung • Psychische Erkrankungen • Psychische Gesundheit • Psychische Probleme • Psychische Realität • Psychische Störungen • Psychologie • Psychosoziale Medizin • Psychotherapeut • Psychotherapeutische Beziehung • Psychotherapeut-Klient-Beziehung • Psychotherapie
ISBN-10 3-17-041148-9 / 3170411489
ISBN-13 978-3-17-041148-7 / 9783170411487
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