Gebrauchsanweisung für Indien -  Ilija Trojanow

Gebrauchsanweisung für Indien (eBook)

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2024 | 1. Auflage
192 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60568-7 (ISBN)
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Inside India: von Kerala bis Kalkutta, von Kapital bis Karma Ilija Trojanow, der über fünf Jahre in Indien lebte, betrachtet liebevoll-kritisch die vielfältigste Kultur der Menschheit, das Land der Gegensätzlichkeiten auf dem Weg zur Weltmacht. Anhand persönlicher Erlebnisse und typischer, mehrdeutiger Begriffe unternimmt er unterhaltsame Streifzüge durch den Alltag zwischen Chutney und Cricket, Armut und Ayurveda, Saris und Sufis, Raga und Bhangra, Cybergöttern und Popidolen. Und er wagt einen Blick auf Indiens Wandel, Zukunft und die Bedrohung, die der politische Hinduismus Hindutva mit seiner enormen Dynamik entfalten könnte. »Von anderen Indien-Reisenden unterscheidet Trojanow sich durch eine vorsichtige Annäherung ans indische Leben, die Vorurteile und hastige Urteile vermeiden möchte.« Frankfurter Allgemeine Zeitung Ilija Trojanow hat Indien immer wieder erkundet und ist u.a. dem Ganges von der Quelle im Himalaja bis in die großen Städte gefolgt. Für seine Gebrauchsanweisung sieht er genau hin und räumt mit gängigen Stereotypen auf - vor allem mit den festgefahrenen Bildern von heiligen Kühen, badenden Pilgern, scharfen Curry-Gerichten und anderen Klischees der europäischen Wahrnehmung. Eine überraschende Entdeckungsreise in das Land der Widersprüche, das beseelt und bezaubert, aber auch erzürnt und verwirrt.

Ilija Trojanow, 1965 in Bulgarien geboren, floh 1971 mit seiner Familie über Jugoslawien und Italien nach Deutschland und erhielt dort politisches Asyl. Er lebte zehn Jahre in Kenia, fünf Jahre in Bombay, zog 2003 nach Kapstadt und lebt heute in Wien. Von 1985 bis 1989 studierte Ilija Trojanow Rechtswissenschaften und Ethnologie an der Universität München. 1989 gründete er den Kyrill & Method Verlag und 1992 den Marino Verlag in München. Seine Romane, Reisereportagen und Streitschriften sind von der Kritik gefeierte Bestseller. Trojanow erhielt verschiedene Auszeichnungen wie den Preis der Leipziger Buchmesse 2006, den Berliner Literaturpreis 2007, den Preis der Literaturhäuser 2009, den Würth-Preis für Europäische Literatur 2010, den Carl-Amery-Preis 2011 und den Heinrich-Böll-Preis 2017. Seine Bücher wurden in 31 Sprachen übersetzt. Zuletzt sind von ihm u.a. »Gebrauchsanweisung fürs Reisen« und sein neuer Roman »Tausend und ein Morgen« erschienen.

Ilija Trojanow, 1965 in Bulgarien geboren, floh 1971 mit seiner Familie über Jugoslawien und Italien nach Deutschland und erhielt dort politisches Asyl. Er lebte zehn Jahre in Kenia, fünf Jahre in Bombay, zog 2003 nach Kapstadt und lebt heute in Wien. Von 1985 bis 1989 studierte Ilija Trojanow Rechtswissenschaften und Ethnologie an der Universität München. 1989 gründete er den Kyrill & Method Verlag und 1992 den Marino Verlag in München. Seine Romane, Reisereportagen und Streitschriften sind von der Kritik gefeierte Bestseller. Trojanow erhielt verschiedene Auszeichnungen wie den Preis der Leipziger Buchmesse 2006, den Berliner Literaturpreis 2007, den Preis der Literaturhäuser 2009, den Würth-Preis für Europäische Literatur 2010, den Carl-Amery-Preis 2011 und den Heinrich-Böll-Preis 2017. Seine Bücher wurden in 31 Sprachen übersetzt. Zuletzt sind von ihm u.a. »Gebrauchsanweisung fürs Reisen« und sein neuer Roman »Tausend und ein Morgen« erschienen.

1.
Mantra


Mantra (Sanskrit, ›Schutz durch Gedanken‹; ›man‹ – denken; ›mana‹ – Geist; ›manava‹ – Homo sapiens): 1. Im Hinduismus und Buddhismus ein heiliger Ausspruch aus einer Silbe, einem Wort oder einem Vers, versehen mit mystischen oder spirituellen Kräften. 2. In der Umgangssprache, ob Deutsch oder Englisch, eine oft wiederholte, vermeintliche Wahrheit. Durchaus auch im abfälligen Sinn verwendet. 3. Motto, Maxime, Slogan, Werbeschlagwort.

 

Es waren Millionen versammelt. Millionen von Menschen und Millionen von Dezibel. Zum größten Fest der Menschheit. Zum gewaltigsten Ritual Indiens. Ein Anlass, sich zu reinigen, Energie zu tanken, sich seiner Glaubenswelt zu vergewissern. Der Ort – der Zusammenfluss von Ganges und Jamuna nahe der Stadt Allahabad – war ebenso segensreich wie der Zeitpunkt. Ein heiliges Zusammenkommen von Ort und Zeit, das nur hier stattfinden kann, alle zwölf Jahre.

Drei Wochen verbrachte ich auf diesem Fest, der Kumbh Mela, untergebracht in einem Zelt, umgeben von den Eremiten, die Sadhus genannt werden und die oft nur in die Asche gekleidet sind, mit der sie sich eingeschmiert haben, und den Schwaden Hasch, die sie umräuchern. Jeden Morgen wurde ich um fünf in der Früh jäh aus meinem Schlaf gerissen von einem unsäglichen Gekreische, einer Mischung aus Sirenengesang und Bombenalarm. Die Lautsprecher erwachten vor der Sonne. Und sie begrüßten den Tag mit einem Mantra, einem außergewöhnlich kraftvollen, wichtigen, heiligen und mächtigen Mantra: Shanti, Shanti, Shanti. Das bedeutet: Friede! Ich habe an jedem dieser verschlafenen Morgen einige Minuten lang fassungslos in die schallende Schrille geblickt, bis ich begriff, dass es eines besonders lauten, besonders durchdringenden Mantras bedarf, um aus Frieden heraus neuen Frieden zu finden. Denn Gott (Shiva zum Beispiel) ist Zerstörer und Erschaffer zugleich, und das Schwache muss mit starken Worten verteidigt werden.

 

Mit Shanti wird nicht nur der Schlaf zerrissen, sondern auch das Gebet beendet. Die Wiederholung verdankt sich dem Glauben, dass sich alles, was dreifach ausgesprochen wird, verwirklicht – trivaram satyam (salopp übersetzt: ›Aller guten Dinge sind drei‹). Unglücklicherweise für jene, die auf dem Kumbh-Mela-Fest ein wenig länger schlafen wollten, besteht ein Mantra nicht nur aus dieser dreifachen Wiederholung. Mantras, deren Umfang von drei Wörtern bis hin zu seitenlangen Gedichten reichen kann, werden in Gebet und Meditation immer wieder gesprochen, in Zyklen der Wiederholung, die Mala genannt werden, nach der Gebetskette, auf der meist hundertacht Perlen aufgefädelt sind. Die Art und die Länge des Mala variieren je nach Anlass, Ort und Familientradition. Anushthana heißt der Brauch einer genau vorgeschriebenen Zahl von Wiederholungen.

Vor Jahren traf ich bei meinem Guru (siehe Kap. 3) in Mumbai einen jungen Mann von knapp zwanzig Jahren, der kurz zuvor für drei Wochen nach Haridwar gereist war, dorthin, wo der Ganges sich der nordindischen Ebene ergibt. Er hatte in einem Tempel hundertfünfundzwanzigtausend Mal das Gayatri-Mantra (das wohl bekannteste Mantra Indiens, eine uralte Anbetung der Sonne, die auf unzähligen CDs festgehalten ist, für jene, denen das Aufsagen zu mühsam ist und die es deshalb vorziehen, das Mantra morgens elektronisch abzuspielen) wiederholt, was jeweils drei Stunden gedauert hatte. In den Pausen dazwischen hatte er ein einfaches Mahl aus Reis und Linsen zu sich genommen oder eine Weile geschlafen.

Besonders beliebt ist es, ein Mantra aus zweiundfünfzig Zeilen zweiundfünfzig Mal zu sprechen. Wobei das Sprechen nicht immer so lauthals ausfallen muss wie bei der Kumbh Mela. Das Mantra kann in den Gedanken des Betenden widerhallen. Auch wäre es ein Missverständnis zu vermuten, dass jedes Mantra einen klaren Sinn in sich trägt. Mananat tryate iti mantra heißt es auf Sanskrit: ›das, was dich schützt, wenn du daran denkst‹. Das Mantra zeichnet sich also durch seine Kraft aus, nicht durch seine Bedeutung; es ist ein Destillat aus Erfahrung und Weisheit, ein potentes, konzentriertes Mittel. Deswegen sind westliche Besucher beziehungsweise Leser oft enttäuscht, wenn sie die Übersetzung der magischen Formeln erfahren. Das wichtigste Mantra des tibetanischen Buddhismus etwa lautet Aum mani padme hum, wunderschön gesummt oder gesungen, und doch beeindruckt es in seiner wörtlichen Übertragung – ›Grüße an das Juwel des Lotus‹ – weitaus weniger. Selbst die Erklärung, dass es sich um eine Anrufung des allmächtigen Geistes handelt, der überall gleich ist, im Inneren des Menschen wie auch in allem, was um ihn herum geschieht, vermittelt nicht die Essenz des Mantras, so wenig wie ›Abrakadabra‹ mit einem Wörterbuch zu entschlüsseln wäre.

 

Kabir, der bekannteste mittelalterliche Dichter Indiens, ein Rebell, der nachträglich zum Heiligen verfälscht wurde, sehnte sich in jungen Jahren nach einem Mantra, das ihm den Weg zu seiner geistigen Entwicklung ebnen würde. Aber da seine Herkunft in seiner Geburtsstadt Varanasi suspekt war – er stammte aus niederen Verhältnissen, und es war nicht bekannt, ob aus einer muslimischen oder einer Hindu-Familie –, wollte keiner der Priester, die er ansprach, ihn als Schüler aufnehmen, ihm sein Mantra anvertrauen. Denn jeder Lehrer besitzt ein eigenes, geheimes Mantra, das nicht nur von Generation zu Generation weitergereicht, sondern auch durch die Seelenstärke des Lehrers aufgeladen wird.

Verzweifelt, aber nicht gewillt aufzugeben, legte sich der junge Kabir auf eine Stufe jener Treppen, die zum Ganges hinabführen und über die Tausende von Einheimischen und Pilgern täglich auf und ab schreiten, um ihr gesegnetes Bad im heiligen Fluss zu nehmen. Auch der bedeutendste Lehrer jener Zeit, Guru Ramananda, stieg jeden frühen Morgen diese Treppen hinab. Am nächsten Morgen, das Tageslicht war so schwach wie die Sicht des Lehrers, trat Guru Ramananda auf einen ausgestreckten Körper und stürzte über den jungen Kabir. »Ram, Ram«, rief Guru Ramananda erschrocken aus, worauf Kabir aufsprang, die Füße des Lehrers berührte und sich überschwänglich für das Mantra bedankte, das dieser ihm hatte angedeihen lassen. Zwar hatte der Lehrer das Mantra in einer Schrecksekunde unbedacht von sich gegeben, aber was immer der Grund gewesen sein mochte, auch wenn es erschlichen wurde, es war überreicht worden. Es galt in seiner ganzen Machtfülle nun auch für Kabir. Ein Leben lang begnügte er sich damit, beim Meditieren Ram, Ram zu intonieren, den Namen Gottes in einfacher Wiederholung.

Diese Legende findet auch in heutigen Zeiten Nachahmer. Unweit von den sandigen Uferebenen, auf denen sich das Kumbh-Mela-Fest ausbreitet, lebte noch im 20. Jahrhundert ein Heiliger, der sein letztes Lebensjahrzehnt damit zubrachte, Ram, Ram zu wiederholen, unentwegt, und jedes andere Wort verschmähte.

 

Die Wiederholung eines Mantras führt in die Trance. Die Wiederholung des Money Mantra führt laut einer Werbung zu Artha (siehe Kap. 8) und die dauernde Wiederholung politischer Mantras zur Verdummung, wobei es keineswegs einem sprachkritischen Impetus zu verdanken ist, dass der Minister Mantri und das Parlament Mantralaya heißt.

Da wir das Wort ›Mantra‹ Indien verdanken, erscheint es mir nur angemessen, dass Indien das Opfer unzähliger Mantras geworden ist. Denn Mantras dienen auch als Feigenblätter des Unwissens. Die erste heilige Kuh, die an dieser Stelle zu schlachten wäre, ist das Mantra von der Heiligkeit der Kuh. Kaum eine Fernsehsendung über Indien ohne Kuh, vor allem nicht ohne Kühe, die sich durch den Straßenverkehr bewegen oder an einer befahrenen Kreuzung mampfen und somit kraft ihrer Existenz die Kontinuität des Traditionellen im urbanen, modernen Indien beweisen. Als ich Anfang 2006 mit einem deutschen Fernsehteam in Mumbai einen kurzen Film drehte, hielt der Redakteur vor jeder Kuh inne und versuchte mich zu überzeugen, ich solle an ihr vorbeischlendern. Eine Kuh im Bild ist eben besser als tausend Gedanken.

Die Sache mit der heiligen Kuh hat jedoch einen Haken: Die Kuh wird nicht angebetet, es gibt keinen Tempel, der einer Kuh geweiht ist, und es existiert kein Gott, der die Form einer Kuh besitzt. Gewiss, der Bulle Nandi trägt den...

Erscheint lt. Verlag 3.5.2024
Zusatzinfo Mit einer farbigen Karte
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Reisen Reiseberichte Asien
Schlagworte Alltag • Armut • Bevölkerungswachstum • Bollywood • Bombay • Buch • Bücher • Buddha • Curry • Dehli • eigene Erfahrung • Ganges • Gebrauchsanweisung • Gebrauchsanweisung fürs Reisen • Gott • Götter • Guru • Heimat • Himalaja • Himalaya • Hinduismus • Hindus • Hochzeiten • Holi-Fest • humorvoll • Inder • Indien • Indisch • Indische Küche • indische Kultur • Indische Religion • indische Tradition • informativ • Insiderwissen • Ironie • Kalkutta • Karma • Kerala • Klischee • Kühe • Kultur • Kumbh Mela • Mantra • Maya • Meditation • Monsun • Neu-Delhi • Pakistan • Priester • Reihe • Reise • Reisebericht • Religion • Taj Mahal • Tamasha • Unterschiede • Varanasi • Weltmacht
ISBN-10 3-492-60568-0 / 3492605680
ISBN-13 978-3-492-60568-7 / 9783492605687
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